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ISSN 1612-7331
20.11.2014 - Nr. 1536
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Soraya Levin rezensiert: "Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz"



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Original-Beitrag


Nachfolgend lesen Sie einen Original-Beitrag der Politologin und
freien Redakteurin Soraya Levin.
Sie betreibt u.a. eine eigene Internetseite, auf der sie regelmäßig neue Bücher zum Schmökern, Entspanen und Nachdenken vorstellt:
LIPOLA - LITERARISCHE UND POLITISCHE AKZENTE
Lipola

COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Wiedergabe
ihrer Rezension an dieser Stelle.


Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz


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"Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz" ist mehr wie der Blick auf einen entmenschlichten Lebensabschnitt. Es geht um unsere Erinnerungskultur und die Mahnung, das verbrecherische Geschehen nicht zu vergessen.



Er ist einer der wenigen Totgeweihten, der das Schlachthaus überlebt hat. Einer, dessen Fotografien dem pervertierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Gesicht gegeben haben. Einer, der ungefähr 50.000mal den Auslöser gedrückt hat. Einer, der die letzten Lebensmomente der Porträtierten in einem Moment festgehalten hat. Sein Name, Wilhelm Brasse. Sein Beruf, Fotograf. Sein Schicksal, Auschwitz. „[…] kein Sanatorium, sondern ein Konzentrationslager. Ein Jude kann hier zwei Wochen überleben. Ein Pfaffe drei. Ein normaler Häftling bis zu drei Monate. Aber sterben werden alle.“. Der 23-jährige polnische Häftling Brasse mit der Nr. 3444 lebt länger als vorhergesagt. Er ist nützlich für die SS. Selbst der Tötungsakt und die Getöteten sollen nach gründlicher deutscher Verwaltungsmanie bildhaft dokumentiert werden. Hierfür ist die Abteilung des Erkennungsdienstes zuständig. Was Brasse rettet, ist nicht allein sein Beruf und seine Begabung. Als Sohn einer Polin und eines Österreichers spricht er nicht nur deutsch. Er gilt für die Deutschen als Arier, der den Übertritt zur deutschen Wehrmacht verweigert.

Block 26 wird für über vier Jahre Brasses Fotoatelier. Seine Kundschaft sind Männer, Frauen, Kinder, Juden, Roma, sogenannte Asoziale und Kriminelle, politische und andere europäische Verschleppte. Da sitzen sie vor ihm. Die einen kennt er sogar, die stammen aus seinem Heimatort. Er weiß, dass ihnen ein quälender Tod bevorsteht. In seiner Verzweifelung bittet er die Mörder, um eine sanfte Tötung. Eine schmerzhafte Bitte, die für Wilhelm Brasse mit Schuldgefühlen beladen ist.

Die anderen sind in Sträflingskleidung, knochig und ausgehungert, zerschunden von Schlägen, wieder andere gerade angekommen, aussortiert an der Rampe für das Gas, ihrer persönlichen Habseligkeiten beraubt und ahnungslos.

Hier wird alles fotografiert. Hier werden die Bilder nicht nur in Akten, sondern auch in Fotoalben eingeklebt. Immer schön mit der entsprechenden Bildunterschrift wie „Jüdin geht ins Gas“.

Während der Entwicklungsprozess der Bilder läuft und Brasse auf die Gesichter wartet, sind viele von ihnen bereits schon tot. Von den Kapos und der SS misshandelt, verhungert, entkräftet und durch Seuchen wie Fleckfieber gestorben, durch Experimente elendig dahingerafft, erschossen, erschlagen, aufgehangen, „abgespritzt“ mit Phenol, vergast oder durch einen Sprung in den Elektrozaun dem Leiden entkommen. Brasse blickt in das geschockte Gesicht einer Frau, die den Scheiterhaufen Auschwitz wahrnimmt. Er fotografiert ein Garten Eden Tattoo auf dem Rücken eines Danziger Schiffsheizers. Aufgespannt sieht er das tätowierte Hautstück später wieder. Der enthäutete Heizer ist längst im Ofen. Ebenfalls Brasses Onkel, dessen Name er auf einer Todesliste entdeckt sowie der Franziskanerpater Maximilian Kolbe, der sein Leben für einen anderen opfert und in den Hungerbunker geht.

Die Kamera ist bei allen Entmenschlichungen und Brutalitäten dabei. Bilder von Opfern medizinischer Experimente der Auschwitzärzte wie Dr. Joseph Mengele und Dr. Clauberg. Bilder von Kindern voller Angst und ausgezerrt bis auf die Knochen. Bilder von zerfressenden Gesichtern und eingelegten Organen. Bilder von herausgerissenen Gebärmuttern aus jungen Frauenkörpern.

Im Gleichklang mit den Verbrennungsanlagen und Scheiterhaufen, die einen verbrannten Fleischgeruch im Lager verbreiten, arbeiten sie Tag und Nacht am bildhaften Leiden. Brasse liefert für die SS einen schnellen Service, denn die Zufriedenheit des Leiters des Erkennungsdienstes Bernhard Walter ist seine Lebensversicherung. Er ist einer der wenigen Privilegierten, die es warm haben, die über eine Toilette und Waschwasser verfügen, die Vergünstigungen wie Lebensmittel erhalten. Naturalien bekommt er auch von den SS-Leuten, die sich privat fotografieren lassen, ihm ein Familienfoto für die Vergrößerung bringen oder blumige Postkarten für einen Gruß aus dieser Hölle kaufen.

Block 26 bleibt Brasses Zufluchtsort. In dieser entmenschten Umgebung verliebt er sich sogar. Sie heißt Baska und arbeitet für Dr. Mengele. Ihr Foto begleitet ihn in die Freiheit. Eine Freiheit, die er jedoch erst völlig ausgehungert am 6. Mai 1945 mit der Befreiung durch die Amerikaner aus dem KZ-Mauthausen erlangt. Er hat Auschwitz überlebt, er hat den Todesmarsch nach Mauthausen überlebt. Nur die grausamen Bilder haben sich nicht überlebt, haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Eingebrannt haben sollten sich diese Bilder in das kollektive Gedächtnis jetziger und folgender Generationen. Denn Brasses Bilder sind ein Sinnbild des menschlichen Leidens und des organisierten Völkermords an den europäischen Juden. Er holt die Opfer aus ihrer entmenschten Anonymität, indem er ihnen ein erhabenes Gesicht gibt. Die über 36.000 geretteten Bilder sind ein visuelles Zeugnis barbarischen Handelns. Auschwitz scheint für die Mörder ein Touristenort gewesen zu sein. Von hier, inmitten von quälenden Schreien und brennenden Leichenbergen, schicken die Täter Fotos und Postkarten an die Liebsten in der Heimat. Kleben Sie wie in ein Familienalbum Bilder des Auschwitzalltags in ein Fotobuch ein. Alles versehen mit Bildunterschriften, die die tiefen Abgründe erzählen.

Der schöpferische Vorgang, dem jede Bildentwicklung zugrunde liegt, wird in der Hölle Auschwitz ins Gegenteil verkehrt. Hier ist nicht der Beginn des Lebens, hier ist das Ende. Hier ist nicht der Beginn einer bunten Welt. Hier ist nur der schockierende Alltag, in dem Menschen zum verheizten Material werden. Ein Alltag, in dem auch Ärzte mitmischen und ihre ethische Pflicht aufs Schlimmste missbrauchen.

Brasses Blick durch die Kamera wird zu einem Blick auf Auschwitz. Ein Blick, der ihn zwingt, die Kamera für immer beiseite zu legen. Was er nicht zur Seite legt, ist das Gedenken an die Opfer. Er engagiert sich insbesondere in der Jugendarbeit, um die Erinnerung für kommende Generationen wach zu halten.

Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz ist mehr wie der Blick auf einen entmenschlichten Lebensabschnitt. Es geht um unsere Erinnerungskultur und die Mahnung, das verbrecherische Geschehen nicht zu vergessen.

Luca Crippa / Maurizio Onnis:
Wilhelm Brasse - Der Fotograf von Auschwitz.
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
München 2014
Karl Blessing Verlag
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50 

© Soraya Levin




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