Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 82

November 2008

In dem vorliegenden Beitrag versucht der Politikwissenschaftler Dr. Martin Kloke das komplexe Verhältnis Deutschlands zu Israel in einigen Grundzügen zu entschlüsseln. Er zeichnet die Stationen dieses besonderen Verhältnisses unter der "Last der Vergangenheit" nach, erinnert an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Mitte der 60er Jahre, schildert diverse Krisen und Konflikte, beleuchtet die Rolle des Nahostkonfliktes im Kontext der deutsch-israelischen Beziehungen, widmet sich der Rolle der Medien, skizziert in einem Exkurs das Verhältnis der ehemaligen DDR zu Israel und formuliert in einigen abschließenden Punkten offene Fragen über die Zukunft des deutsch-israelischen Verältnisses.

Klokes Essay beruht auf seinem Eröffnungsvortrag im Rahmen des Lerntags der Landeskirchlichen Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, den er am 13.10.2008 in Berlin hielt. COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Beitrags an dieser Stelle!

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online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 82


Deutschland und Israel: eine bleibende Provokation?

MARTIN KLOKE



Sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel nicht ausgezeichnet? Ist es nicht so, dass sich die deutsche Regierung der besonderen deutschen Verantwortung für Israels Sicherheitsbedürfnisse und für die jüdische Gemeinschaft bewusst ist? Findet dieser Eindruck nicht beispielhaft seinen Niederschlag in den Reden von Konrad Adenauer über Joschka Fischer bis hin zu Angela Merkel? Haben deutsche Politikverantwortliche in der EU nicht immer wieder israelische Anliegen unterstützt bzw. sind antiisraelischen Tendenzen entgegengetreten? Ist die gegenwärtige Kanzlerin nicht wie ein Leuchtturm – sie, die in der Finsternis ölgetränkter Gleichgültigkeit die antiisraelischen Vernichtungsdrohungen des Teheraner Mullah-Regimes anprangert? Hat nicht kürzlich sogar der deutsche Außenminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier nach dem Auftritt des iranischen Präsidenten vor der UNO klare Worte gefunden und dessen „blanken Antisemitismus“ gegeißelt?

Ja, gewiss und dennoch: Dies ist nur die halbe Wahrheit – tatsächlich ist das Verhältnis zwischen beiden Ländern komplexer.



Die Last der Vergangenheit

Nach dem millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden durch Nazi-Deutschland gab es praktisch keine Beziehungen zwischen Nachkriegsdeutschland und dem gerade gegründeten Staat Israel. Ein Beispiel: Anfang der 1950er Jahre reisten zwei junge deutsche Frauen nach Israel; doch sie kamen nicht weit. Kurz nach ihre Ankunft wurden sie aufgefordert, das Land unverzüglich wieder zu verlassen – aus Sicherheitsgründen, wie es offiziell hieß. Die Polizei befürchtete, sie könne ihren Schutz nicht garantieren. Diese kleine Episode wird nur verständlich, wenn man die Schrecken der deutsch-jüdischen Vergangenheit in Betracht zieht. Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis waren viele Jahre ein Ding der Unmöglichkeit.

Diese Last der Vergangenheit ist nach wie vor präsent – in Israel leben noch Überlebende der Schoah: Wer von dieser Vergangenheit absieht, kann die deutsch-israelische Beziehungsgeschichte nicht verstehen. Noch heute sprechen beide Seiten von einem „besonderen Verhältnis“. Um so mehr grenzt es an ein Wunder, dass das beiderseitige Verhältnis heute von Partnerschaft und Freundschaft geprägt ist – im Prinzip jedenfalls.

Der Aufnahme diplomatischer Beziehungen ging ein jahrelanges Ringen um die materielle „Wiedergutmachung“ der durch Nazi-Deutschland ausgelösten Verbrechen an deneuropäischen Judenvoraus. Das Abkommen über Warenlieferungen von mehr als drei Milliarden DM war in Israel und in Deutschland gleichermaßen umstritten – aus jweils sehr unterschiedlichen Gründen. Doch an gute politische und kulturelle Beziehungen war zunächst nicht zu denken: Selbst in der westdeutschen Bundesrepublik verstummte 1955 der Wunsch nach diplomatischen Beziehungen – aus Sorge, die Anerkennung Israels könne gegenüber der DDR den nationalen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik aufweichen (Hallsteindoktrin). Demgegenüber keimte nur zwei Jahre später ausgerechnet auf israelischer Seite der Wunsch nach offiziellen Beziehungen auf. Was tun? In Geheimverhandlungen tüftelten die beiden Verteidigungspolitiker Shimon Peres und Franz-Josef Strauß eine elegante Win-Win-Situation aus, die ihren Ausdruck in der Formel „Panzer statt Diplomaten“ fand. Der Waffendeal flog erst 1964 auf und führte zu heftigen innenpolitischen Turbulenzen. Unübersehbar war die Hallstein-Doktrin an der Wirklichkeit zerschellt und der Botschafter-Austausch nicht mehr aufzuhalten. Zwar brachen 10 von 13 arabischen Staaten die Beziehungen zur Bundesrepublik vorübergehend ab; doch wagten Sie es (noch) nicht, die DDR anzuerkennen.


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1965: Ein neues Kapitel beginnt

Mit dem gegenseitigen Austausch von Botschaftern begann 1965 ein neues Kapitel in den deutsch-israelischen Beziehungen. Was jahrelang ein „Privileg“ linker und christlicher Studenten gewesen zu sein schien, fand nun allmählich breitere Akzeptanz: Begegnungs- und Bildungsreisen, Arbeitseinsätze in Kibbuzim und private Kuraufenthalte am Toten Meer. Im Frühjahr 1967 verschärfte sich der Konflikt zwischen Israel und den Arabern in gefährlicher Weise: Trotz des Waffenstillstands von 1949 hatten Israels Nachbarn den Willen nicht aufgegeben, das „zionistische Gebilde“ zu zerstören. Im Mai 1967 wurden die Israelis unter Ministerpräsident Levi Eschkol mit einer gefährlichen Aufmarsch- und Umklammerungsstrategie konfrontiert. Die israelfeindliche Propaganda gipfelte im Schlachtruf: „Wir werden die Juden ins Meer treiben!“ Wen wundert’s da, dass Israel keine andere Wahl sah, als den kollektiven Drohgebärden mit einem Präventivschlag zuvorzukommen?

Als am 5. Juni 1967 der Nahostkrieg ausbrach, machte sich in Deutschland-West eine beispiellose proisraelische Aufbruchstimmung breit. Israels Existenz schien auf der Kippe zu stehen; weite Teile der bundesdeutschen Gesellschaft wurden von einer Welle der Sympathie für den jüdischen Staat erfasst. Allerorten kam es zu spontanen proisraelischen Demonstrationen und Spendensammlungen; etwa 3.000 Freiwillige boten Israel ihre persönliche Hilfe an. Diese Stimmungslage trug entscheidend zur Klimaverbesserung in den Beziehungen beider Länder bei.



Krisen und Konflikte

Doch die deutsch-israelische Romanze sollte nicht lange währen: Während große Teile der radikalen Linken schon kurz nach den triumphalen israelischen Kriegserfolgen die Fronten wechselten und den jüdischen Staat nur noch als „Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahrnehmen wollten, zogen dunkle Wolken bald auch über die offiziellen Beziehungen herauf:

Der PLO gelang es Ende der 1960er Jahre, mit Terroranschlägen und Flugzeugentführungen das Interesse der Weltöffentlichkeit auf die unglückliche Lage der Palästinenser zu lenken. 1972 wurde auch die Bundesrepublik vom Terror heimgesucht: Palästinensische Kämpfer des „Schwarzen September“, die einer Untergruppe des PLO-Vorsitzenden Arafat angehörten, ermordeten während der Olympischen Sommerspiele in München elf israelische Sportler. Als kurz darauf eine Lufthansa-Maschine in die Hände palästinensischer Entführer geriet, gab die Bundesregierung im Gegenzug zur Freilassung der Passagiere die drei überlebenden Mörder von München heraus. Die Israelis waren schockiert über das „leichtfertige“ Nachgeben der deutschen Regierung.

Zudem sollte sich bald zeigen, wie schnell die aktuellen Wirtschaftsinteressen der Bundesrepublik mit der moralischen Verantwortung für die Existenz Israels in einen Konflikt geraten konnten: Die Stimmung verschlechterte sich, als einige arabische Staaten im Zuge ihres Überfalls auf Israel im Oktober 1973 (Jom Kippur-Krieg) ihr Erdöl als politisches Mittel gegen die energiehungrige westliche Welt einsetzten. Unter der Wucht der „Ölwaffe“ untersagte die Bundesregierung den USA, Waffen an das bedrängte Israel zu liefern, die aus Beständen von US-Depots stammten, die in West-Deutschland gelagert waren – entsprechende Unterlassungsforderungen hatte die Bundesregierung allerdings erst gut zwei Wochen nach Kriegsausbruch erhoben, als der Krieg bereits entschieden war und Israel keine Gefahr mehr drohte. Dennoch: Heftige israelische und amerikanische Reaktionen waren die Folge; die US-Regierung drohte mit einer „Überprüfung“ ihrer Politik gegenüber der Bundesrepublik.

Auf einen Tiefpunkt steuerte das deutsch-israelische Verhältnis im Frühjahr 1981 zu, als Bundeskanzler Helmut Schmidt und Ministerpräsident Menahem Begin hart aneinander gerieten: In einem Fernseh-Interview nach einer Saudi-Arabien-Reise hatte Schmidt auf eine Reihe europäischer Völker verwiesen, deren Leiden im Zweiten Weltkrieg bis heute eine moralische Last für die deutsche Außenpolitik darstellten. Dass Schmidt es unterlassen hatte, auch die Leiden der Juden beim Namen zu nennen, stieß in Israel auf Fassungslosigkeit, zumal der Kanzler in der selben Sendung dem palästinensischen Volk einen „moralischen Anspruch auf Selbstbestimmung“ bescheinigt und dem jüdischen Staat eine „Tragödie griechischen Ausmaßes“ vorausgesagt hatte. Begin, der sich mitten im Wahlkampf befand, konterte gekränkt gegen die „Arroganz“ jenes ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Schmidt, von dem man nicht wisse, „was er mit den Juden an der Ostfront getan“ habe.

Begins harscher Tonfall setzte in der Bundesrepublik eine breite Solidarisierungswelle mit dem Kanzler frei – zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik stellte sich eine Mehrheit der Deutschen im Nahostkonflikt auf die Seite der Araber. Doch die spontane Flut zum Teil sogar antisemitisch akzentuierter Sympathieerklärungen aus der Bevölkerung hinterließ auch in deutschen Regierungskreisen Unbehagen. Politische Beobachter führten den politischen Kern der persönlichen Fehde auf die Absichten Schmidts zurück, Panzer des Typs „Leopard II“ nach Saudi-Arabien zu liefern. Trotz Begins Einladung vermochte sich Schmidt nicht mehr zu einem Israelbesuch entschließen. Gleichwohl: Vor dem Hintergrund anhaltender internationaler und innenpolitischer Proteste fasste die Bundesregierung im Frühjahr 1982 den Beschluss, die saudischen Lieferwünsche nicht zu erfüllen.

Die 1980er Jahre – das Jahrzehnt des Historikerstreits um die Einzigartigkeit der Schoah – setzten die deutsch-israelischen Beziehungen neuen Belastungsproben aus: Erst der Libanonkrieg, dann der in Israel als nassforsch wahrgenommene Auftritt von Bundeskanzler Helmut Kohl, der für sich die „Gnade der späten Geburt“ reklamiert hatte, aber auch die oberlehrerhaften Anmaßungen grüner Außenpolitiker der ersten Stunde erweckten den Eindruck, als ob sich mehr und mehr Deutsche von der Verantwortung für die Lasten der Vergangenheit verabschieden wollten. Aus diesen zum Teil missglückten Reisen entstanden heftige innenpolitische Debatten: Folgerichtig waren seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre politische Reisen nach Israel von dem Wunsch beseelt, aus vergangenen Fehlern zu lernen. Zum Teil ein und dieselben Akteure versuchten jetzt, als „Lernende“ in einen kritischen Dialog mit israelischen (und palästinensischen) Gesprächspartnern zu treten.

Der Fall der deutschen Mauer und der gesamtdeutsche Vereinigungsprozess 1989/90 löste in Israel anfänglich nicht nur Freude, sondern auch diffuse Ängste vor einem „Vierten Reich“ aus: Die Welle fremdenfeindlicher Gewaltausbrüche, die insbesondere den Osten Deutschlands erschüttern sollte, schien zunächst die Skeptiker zu bestätigen. Während sich die israelische Bevölkerung eher gelassen zeigte, waren die politischen Eliten alarmiert – sie wähnten eine „tödliche Gefahr für die Juden“ (so Ministerpräsident Yitzhak Schamir). Doch nach einigen vertrauensbildenden Maßnahmen – darunter der deutschen Anerkennung der polnischen Westgrenze und einer gemeinsamen Israel-Reise der Parlamentspräsidentinnen Rita Süssmuth und Sabine Bergmann-Pohl – waren im Sommer 1990 die meisten Israelis bereit, inmitten eines freien Europas auch die positiven Chancen eines wieder vereinten Deutschlands wahrzunehmen.

Gleichwohl förderte der Golfkrieg im Januar 1991 zutage, wie labil das deutsch-israelische Verhältnis noch immer war: Als bekannt wurde, dass irakische Scud-Raketen mit deutscher Expertenhilfe „verbessert“ worden waren, stellte sich bei vielen Israelis die Gedankenverbindung „Deutsche – Gas – Juden“ ein. Zudem begann die deutsche Justiz erst aufgrund journalistischer Recherchen gegen einzelne Rüstungsexporteure tätig zu werden. Weil viele deutsche Protestler mehr mit ihren eigenen Zukunftsängsten beschäftigt waren als mit der Situation jener mit ABC-Waffen bedrohten Menschen in Israel, wurde in der israelischen Öffentlichkeit der Verdacht genährt, nunmehr einer israelfeindlichen Phalanx aus Rüstungsindustrie und Friedensbewegung gegenüberzustehen, die der israelischen Seite das Recht und die Möglichkeit auf Selbstverteidigung beschneiden wolle.



Die Rolle des Nahostkonflikts im deutsch-israelischen Verhältnis

Mit der Neugründung Israels 1948 realisierte die zionistische Bewegung nach 2.000 Jahren der Vertreibung aus ihrer biblischen Urheimat den nationalstaatlichen Traum des jüdischen Volkes – dies freilich in einer Region, die inzwischen mit gleichem historischem Recht von der arabisch-palästinensischen Nation beansprucht wird. Gleichwohl hatten „die Palästinenser“ bis in die frühen 1970er Jahre im deutsch-israelischen Verhältnis so gut wie keine Rolle gespielt. In der Wahrnehmung aller Beobachter, ja selbst der unmittelbar Beteiligten, drückte sich im Nahostkonflikt über viele Jahre ein erbitterter Gegensatz zwischen Israel und „den Arabern“ aus. In der Tat waren die Akteure der Nahostkriege von 1948/49, 1956, 1967 und 1973 stets Israel und arabische Staaten gewesen – die Palästina-Araber tauchten am Rande als „arabische Flüchtlinge“ auf; ihr Elend wurde als ein humanitäres, nicht aber politisches Problem begriffen.

Erst unter dem Eindruck palästinensischer Flugzeugentführungen und anderer Terroranschläge sowie im Zeichen des Einsatzes von Rohöl als politischer Waffe durch die Erdöl exportierenden arabischen Staaten öffnete sich in den 1970er Jahren die Öffentlichkeit für palästinensische Bestrebungen: Waren die Palästinenser indirekt und sekundär nicht auch zu Opfern des mörderischen Judenhasses der Nazis geworden, der viele der vertriebenen und überlebenden Juden nach Palästina getrieben hatte? Mussten sich die Deutschen nicht auch für das unglückliche Schickal der Palästinenser mitverantwortlich fühlen, die einen hohen Preis für die Gründung des jüdischen Staates bezahlt hatten? Gab es Möglichkeiten, die bleibende deutsche Verpflichtung für die Existenz Israel sicherzustellen und trotzdem das an den Palästinensern begangene Unrecht aufzuheben oder wenigstens zu lindern? Wobei für die palästinensische Tragödie bis heute auch politikunfähige arabische und palästinensische Führungseliten verantwortlich gemacht werden müssen: Welchem palästinensischen Politiker ist es jemals eingefallen, der vom unbedingten Überlebenswillen gekennzeichneten Sicherheitspolitik Israels mit einer politisch-diplomatischen Charmeoffensive zu begegnen? Oder, um es in den Worten des legendären israelischen Außenministers Abba Eban zu sagen: „The Palestinians never miss an opportunity to miss an opportunity.“

Im Nachgang zum spektakulären Auftritt Arafats vor der UNO-Vollversammlung erklärte sich 1974 UN-Botschafter Rüdiger von Wechmar mit dem „Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes“ solidarisch – überraschenderweise unter Hinweis auf das ebenfalls nicht eingelöste Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Ost und West. Damit brach die bundesdeutsche Diplomatie ein bis dahin geltendes Tabu – ein Schritt, der in Israel mit Empörung aufgenommen wurde. Konnten die Israelis bis zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass die Deutschen aufgrund ihres geschichtlich bedingten Sonderverhältnisses zum jüdischen Staat – ungeachtet ihrer offiziellen „Neutralität“ – im Zweifelsfall der israelischen Seite zugeneigt blieben, so war diese Geschäftsgrundlage nun zugunsten einer formal ausgewogenen deutschen Nahostpolitik aufgegeben. Diese nahostpolitische Neuorientierung verbitterte die Israelis um so mehr, als die PLO in jenen Jahren noch nicht zu einer Anerkennung der Existenz Israels bereit war. Mussten die Israelis darin nicht ein propalästinensisches (sprich: antiisraelisches) Signal erblicken?

In den 1980er Jahren wurde immer deutlicher, dass es aus dem Dilemma des deutsch-israelisch-palästinensischen Dreiecks kein Entrinnen gab: Jede Positionierung musste aus jeweils guten Gründen entweder die Israelis oder die Palästinenser verärgern. Hin-und-hergerissen zwischen moralischen Verpflichtungen für die eine oder andere Seite sowie angetrieben von wirtschaftlichen Begehrlichkeiten und strategischen Interessen in der Nah- und Mittelost-Region vermied insbesondere die christlich-liberale Regierung Helmut Kohls jede politische Festlegung im Nahostkonflikt – und konnte so das lang gehegte Misstrauen der Israelis gegenüber den sozialliberalen Vorgänger-Regierungen einhegen. Unter dem Schutzschirm der zunehmend wichtiger werdenden europäischen Außenpolitik verlegte sich die deutsche Nahostpolitik fortan stärker auf eine Gangart der leisen Töne.

Aus dem Dilemma ihrer Nahostpolitik konnte sich die Bundesrepublik letztlich erst nach der Wiedervereinigung befreien: Der Osloer Friedensprozess, der 1993 erstmals zu Direktverhandlungen zwischen Israel und der PLO als der anerkannten Vertretung der Palästinenser führen sollte, befreite die Deutschen von einem Spagat, der sie in früheren Jahren immer wieder an den Rand akrobatischer Abstürze geführt hatte. Der Versuch des engagierten und sachkompetenten Außenministers Joschka Fischer, als smarter Vermittler zwischen beiden Seiten aufzutreten, mag Deutschland psychologische Pluspunkte eingebracht haben – aber: „Außer Spesen nichts gewesen“ – so lautet auch hier die nüchterne Bilanz.



Exkurs: DDR und Israel – ein Nichtverhältnis?

Bis kurz vor der Wende 1989 hatte der zweite deutsche Staat kein Interesse an der Aufnahme offizieller Beziehungen zu Israel gehabt. Jahrzehntelang betrachteten die Funktionäre des realsozialistischen SED-Regimes den jüdischen Staat als den Gegner aller „progressiven“ Kreise – als ein Land, das von der „kleinbürgerlichen Ideologie“ des Zionismus beherrscht werde und trotz „formaldemokratischer“ Verhältnisse die „Speerspitze des imperialistischen Lagers“ bilde. Entschädigungszahlungen an das ideologisch „irregeleitete“ Israel lehnte die DDR ab: „Wahre“ Wiedergutmachung, so hieß es mit missbilligendem Blick auf die Bundesrepublik, habe die DDR mit der Errichtung eines „antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaates“ geleistet; die neuen gesellschaftlichen Strukturen in der DDR hätten zur „Ausrottung von Faschismus und Revanchismus“ geführt. Eine weitergehende Verantwortung lehnte die DDR-Führung ab. Etwaige Berührungspunkte oder gar Parallelen zwischen Antisemitismus und Antizionismus wurden empört als „zionistische Propaganda“ zurückgewiesen.

Vor dem Hintergrund dieses hermetisch geschlossenen Weltbildes zeigte umgekehrt auch die israelische Seite kein Interesse daran, offizielle Kontakte zur DDR aufzunehmen: Achselzuckend mussten die Israelis seit 1950 zur Kenntnis nehmen, dass die DDR als Teil des realsozialistischen Lagers einseitig Partei für die arabisch-palästinensische Seite ergriff. Doch wurde mit Bitterkeit registriert, dass die DDR ihren verbliebenen Spielraum keineswegs zur verbalen Mäßigung nutzte; vielmehr verlieh sie ihrer antiisraelischen Agitation eine besondere Schärfe und unterstützte die PLO über viele Jahre politisch, materiell und personell – bis hin zur Durchführung von Trainingsprogrammen für palästinensische Kämpfer.

Gleichwohl ist anzumerken, dass die DDR die Existenzberechtigung des jüdischen Staates auf einer grundsätzlichen Ebene nie in Zweifel gezogen hat. Davon zeugen insbesondere die regelmäßigen Kontakte und wechselseitigen Parteitagsbesuche zwischen der SED und ihrer kommunistischen „Bruderpartei“ in Israel. 1984 nahm eine SED-Delegation während einer Israel-Reise sogar Gespräche mit linkszionistischen Vertretern auf. Hinzu kommt, dass zwischen 1949 und 1990 beide Länder Jahr für Jahr statistisch messbare Handelsbeziehungen unterhielten – selbst in den konfliktträchtigsten Jahren. Diese Kontakte bewegten sich freilich abseits offizieller staatlicher Vereinbarungen und stets auf sehr niedrigem Niveau – selten überschritt der jährliche Gesamtwert der Handelsgüter mehr als eine Million Dollar.

Spätestens mit der Maueröffnung im November 1989 war in der DDR der Weg frei für eine kritische Aufarbeitung ihrer Israel-Feindschaft: Das ostdeutsche Parlament, die „Volkskammer“, bekannte noch im April 1990 die „Mitverantwortung“ der Deutschen in der DDR für „Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder“ und bekundete die Absicht, zur „gerechten Entschädigung materieller Verluste“ beitragen zu wollen: Im politischen „Schuldbekenntnis“ heißt es: „Wir bitten das Volk Israels um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land.“ Zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen ist es nicht mehr gekommen – der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Oktober 1990 ließ es nicht mehr zu diesem Schritt kommen. 



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Infoaktuell

Martin Kloke:
40 Jahre deutsch-israelische Beziehungen

Herausgeben von der Bundeszentrale für politische Bildung,
Bonn 2005

(kostenloser Bezug):
Infoaktuell: 40 Jahre ...



„Gefühle“ in den deutsch-israelischen Beziehungen

Die Gefühle der Deutschen gegenüber den Israelis unterliegen extremen Schwankungen – seit Jahrzehnten. Fast könnte man meinen, der jüdische Staat und seine Menschen seien ein libidinös besetzter Fixpunkt: Wohl kaum ein Land ist 1967 während des Sechstagekrieges so proisraelisch ausgerichtet gewesen wie die westdeutsche Bundesrepublik. Aber genauso gilt: In keinem Land haben antiisraelische Emotionen derart hohe Wellen geschlagen wie ausgerechnet in Deutschland. Die ebenso rasche wie prinzipiell austauschbare Abfolge von Israelbegeisterung, Israelkritik und Antisemitismus legt den Verdacht nahe, dass Stimmungen dieser Art mehr mit deutschen Zuständen als mit politischen Turbulenzen im Nahen Osten zu tun haben: Der Psychoanalytiker Hans Keilson stellt mit Blick auf die 1968er Generation fest: „Aus dem (jüdischen) Sündenbock war erst der Tugendbock geworden, beladen mit allen Idealen und Tugenden, die man in seiner eigenen Geschichte und bei seinen Eltern nicht antreffen konnte, und die Enttäuschung über die nicht gelungene Projektion eines moralischen Hochstandes – eines Übermenschen würdig – schuf schließlich den alt-neuen Sündenbock (Israel).“

Eine gefühlsmäßig schwankende Gemengelage ist auch unter Israelis anzutreffen: Die aus der Schoah rührenden Vorbehalte gegenüber Deutschland und den Deutschen sind im Unterbewussten präsent und können jederzeit abgerufen werden. Wann immer sich in Deutschland antiisraelische und antisemitische Affekte bemerkbar machen, werden Reflexe des Misstrauens gegenüber „den Deutschen“ mobilisiert. Andererseits greifen zunehmend „Normalisierungstendenzen“ um sich. Durchschnitts-Israelis von heute haben keine Probleme mehr damit, deutsche Produkte zu konsumieren oder nach Deutschland zu fahren. Viele Israelis sind sich der Tatsache bewusst, dass Deutschland ein freundschaftlicheres Verhältnis zu Israel unterhält als die meisten anderen europäischen Länder. Die israelische Öffentlichkeit nimmt antiisraelische Ressentiments in Europa und Deutschland heute mit mehr Gleichmut auf als in früheren Zeiten, als israelkritische Stimmen noch leiser waren. In Zeiten der Globalisierung bestimmt „Deutschland“ das „kollektive Gedächtnis“ der Israelis weniger stark als früher – offenbar ist hier ein pragmatischer Normalisierungsprozess eingetreten.



Die Vergangenheit ist immer noch gegenwärtig

Für die meisten Europäer und Deutsche sind Terroranschläge vor allem eine Antwort auf politische Missstände und soziale Ungerechtigkeiten – die Folgen von Verzweiflung, Armut und Unterdrückung. Wenn man den Terroristen und ihren Milieus Hoffnung gebe und ihre Lebensverhältnisse verbessere, verhindere man künftigen Terrorismus. Vor allem einer Lösung des Nahostkonflikts werden wahre Wunder zugetraut: „Wir müssen die Quellen des Terrorismus verstopfen, und die sind: erstens der Nahost-Konflikt, zweitens der Nahost-Konflikt, drittens der Nahost-Konflikt“ (so der Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel). Demgegenüber führt die Mehrheit der Israelis den Terrorismus des 21. Jahrhunderts auf religiöse und nationalistische Vorurteile sowie auf ideologische Befindlichkeiten wie Antisemitismus, Fanatismus, Zerstörungswut und Verfolgungswahn zurück.

So kommt es in außenpolitischen Fragen bis heute zu Misstimmungen – aktuell in der Frage, wie angesichts der antiisraelischen Vernichtungsdrohungen des Iran die nuklearen Ambitionen des Teheraner Mullah-Regimes gebremst werden können. Während Deutschland faktisch noch immer eine Politik des „kritischen Dialogs“ pflegt, sieht Israel im iranischen Nuklearprogramm eine strategische Gefahr für seine Existenz und drängt zu nachhaltigen politischen und wirtschaftlichen Sanktionen.

Hinter den unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungsmustern stehen gegensätzliche geopolitische Interessenlagen, aber auch unterschiedliche Geschichtserfahrungen – sie haben ihre Wurzeln nicht zuletzt in der NS-Zeit: Viele Deutsche ziehen aus der Schoah die Lehre: “Nie wieder Täter sein – nie wieder jüdisches und anderes Leben bedrohen!” Viele Juden (gerade auch in Israel) ziehen aus ein- und demselben Zivilisationsbruch den umgekehrten Schluss: “Nie wieder Opfer sein – im Notfall lieber zuerst zu den Waffen greifen!” Wir sehen: Die Vergangenheit ist immer noch gegenwärtig, auch wenn sich die skizzierte Dichotomie in den letzten Jahren gelockert hat.



Die Rolle der Medien: Kritik und Selbstkritik

Enorme wirtschaftliche Aufbauleistungen, einzigartige multikulturelle Herausforderungen, künstlerische Leistungen und andere zivile Entwicklungen in Israel spielen in der täglichen Berichterstattung deutscher Medien nur eine untergeordnete Rolle. Selbst die israelische Literatur hat im Lande Goethes und Schillers erst sehr spät Beachtung gefunden. Während in Israel schon Ende der 1960er Jahre zahlreiche Werke deutscher Gegenwartsschriftsteller übersetzt worden sind (Heinrich Böll und Günter Grass), kannte man bei uns bis tief in die 1980er Jahre nur einen israelischen Autor: den Anfang 2005 verstorbenen Satiriker Ephraim Kishon.

Seit dem Sechstagekrieg von 1967 richtet sich das öffentliche Interesse vornehmlich auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Arabern. Herausragende sportliche Ereignisse, die enormen Integrationsleistungen Israels zur Aufnahme zyklischer Einwanderungswellen oder auch nobelpreisverdächtige Erfindungen spielen im Bewusstsein auch vieler Deutscher nur eine Randrolle – dies, obwohl Israel die weltweit höchste Korrespondentendichte aufweist. 800 ständige ausländische sowie alljährlich 2.500 „durchreisende“ Journalisten sind nicht im Lande, um Leser und Zuschauer über die Buntheit der israelischen Gesellschaft zu informieren – das Interesse insbesondere der Heimatredaktionen richtet sich auf militärische Maßnahmen Israels in den besetzten Gebieten: Sie sind als Nachrichten „attraktiver“, garantieren regelmäßig Schlagzeilen und hohe Einschaltquoten – auch, weil sie europäische „Obsessionen“ bedienen. Hinzu kommt: Westliche Lebensbedingungen, kurze Wege und bestens ausgebaute Verkehrsverbindungen, neueste Medientechnologien, geringe Entfernungen zu den Brennpunkten des Konflikts, eine nahezu schrankenlose Pressefreiheit ohne Zensur oder „Aufpasser“ und ein Heer örtlicher Kameraleute – all diese Aspekte schaffen perfekte Arbeitsbedingungen. Problematisch wird diese Konstellation, wenn Nahostkorrespondenten ihre „Kunden“ mit scheinbar harmlosen Worten, schiefen Vergleichen und fragwürdigen Ministatistiken zu einer Parteinahme drängen, die weniger den Fakten als vielmehr Projektionen oder weltanschaulichen Überzeugungen geschuldet sind:

Was meine ich konkret? Als die israelische Armee 1982 in den Libanon einmarschierte, um die dortigen PLO-Einheiten zu entwaffnen und aufzulösen, wurde Israel des „Völkermords“ an den Palästinensern bezichtigt. Einige Journalisten gingen so weit, die Palästinenser als die „neuen Juden“ zu bezeichnen und die israelischen Invasoren mit den Nazis zu vergleichen, die eine „Endlösung der Palästinenserfrage“ ansteuerten. Angesichts dieser Berichterstattung entbrannte in Teilen der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion, inwieweit einseitige und überzogene Formen der Israelkritik antisemitische Tendenzen widerspiegeln, verstärken oder gar auslösen.

Dieses Szenario wiederholt sich seither in ritualisierter Regelmäßigkeit: Immer dann, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt gewaltsame Bilder produziert und transportiert, lassen nicht wenige Journalisten überwunden geglaubten „Bauch“-Gefühlen freien Lauf – und tragen so dazu bei, dass jahrzehntelange Bemühungen um Aufarbeitung und Aufklärung über judenfeindliche Stereotypen zunichte gemacht werden. Nach den ehernen Gesetzen der Mediengesellschaft scheint es moralisch unverzeihlich zu sein, dass die Israelis, ihren Widersachern technisch weit überlegen, bei Auseinandersetzungen geringere Opferzahlen als die Palästinenser aufweisen. Wann immer die israelische Armee gegen Zentren palästinensischer Terrorangriffe vorgeht, vermitteln Nachrichten und Kommentare Bilder eines angeblich „biblischen Krieges“: „Auge um Auge“, „Vergeltungsschläge“ und „alttestamentarische Racheaktionen“ – reflexhaft tauchen die alten Klischees des christlichen Antijudaismus wieder auf.

Umfragen bestätigen: Die Mehrheit der Deutschen sah 2003 auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada in Israel eine „Gefahr für den Weltfrieden“. Israel rangierte vor fünf Jahren auf der Negativliste noch vor Iran, Nordkorea und den USA. Mehr als die Hälfte aller Deutschen war 2004 der Auffassung, „dass sich das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern grundsätzlich nicht von dem der Nazis im Dritten Reich gegenüber den Juden unterscheidet“ (Heitmeyer, Deutsche Zustände). Aber auch nach dem Abflauen der Intifada ist das Image Israels keineswegs besser geworden: Nach einer BBC-Umfrage führte Israel letztes Jahr die Top-Negativliste auf der Skala der am wenigsten gemochten („least-liked“) Staaten der Welt an – allein in Deutschland nahmen 77 Prozent aller Befragten Israel als „negativ“ wahr. 53 Prozent der Deutschen sehen heute keine besondere Verantwortung Deutschlands mehr gegenüber dem Staat Israel (so die Forschungsgruppe Wahlen lt. ZDF-Pressestelle, 3.5.2008).

Dennoch ist das Bild komplexer als es auf den ersten Blick scheint: In den vergangenen Jahren haben zivilgesellschaftliche Initiativen und politische Stiftungen eine Reihe viel beachteter Anhörungen und Konferenzen zum Thema „Israelkritik und Antisemitismus“ durchgeführt. Niemals zuvor ist das Thema in Deutschland so intensiv diskutiert worden wie in den letzten Jahren – mit breiter Unterstützung und selbstkritischer Begleitung durch die Medien.



Wohin steuern die deutsch-israelischen Beziehungen?

• Wie schon angedeutet: Das heutige Deutschland gehört zu den wichtigsten Partnern Israels: Zehntausende Deutsche reisen alljährlich nach Israel (2007 etwas über 100.000). In diesem Jahr rechnet Israels Touristikbranche mit weiteren erheblichen Wachstumsraten (ca. 135.000 Deutsche). Proportional zur Bevölkerung Israels ist der Anteil israelischer Touristen sogar noch höher: Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Monaten in Jerusalem die offiziellen Eröffnungsfeiern zum 60. Geburtstag Israels eröffnete, wurden wir hierzulande von geradezu euphorischen Medienberichten überrascht: Junge Israelis finden Deutschland und vor allem die Hauptstadt Berlin nachgerade „sexy“. Berlin hat New York auf der Beliebtheitsskala abgelöst: ein Zeichen für ein normales Verhältnis?

• Seit über 40 Jahren unterhalten beide Länder diplomatische Beziehungen: An jedem runden Jubiläumsjahrestag feiern wir diese Beziehungen oder auch das diesjährige Gründungsjubiläum Israels mit einer Intensität, die im internationalen Vergleich beispiellos ist – mit Konzerten, Podiumsdiskussionen, Kulturtagen, Ausstellungen und vielen anderen Events, überall im Land: Ist dies ein Zeichen für ein normales Verhältnis, Indiz für eine bloße Pflichtübung oder gar für etwas Drittes?

• Heute unterhalten Hunderte deutscher Städte und Landkreise, Schulen und öffentliche Institutionen Partnerschaftsprojekte mit israelischen Einrichtungen – sie werden zumeist von Regierungsseite aus gesponsert. In einem weltweiten Vergleich kann man sagen: Rein zahlenmäßig rangieren die Jugendaustauschprogramme beider Länder, wenn es die politische Lage in Nahost erlaubt, an zweiter Stelle – nach Frankreich, aber noch vor den USA: ein Zeichen für ein normales Verhältnis?

• Seitdem Amos Oz 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, boomt die israelische Literatur – ausgerechnet in Deutschland. Einseitigen Israelbildern wird so differenziertes Wissen entgegengesetzt. Heute gibt es mehr ins Deutsche übersetzte hebräische Titel als in alle anderen Sprachen einschließlich des Englischen: Indiz für ein normales Verhältnis?

• Obwohl Israel nur 0,015 Prozent der Erdoberfläche bedeckt, beziehen sich bis zu zehn Prozent der Weltnachrichten in den deutschen Medien auf das kleine Land zwischen Jordan und Mittelmeer: ein Zeichen für ein normales oder ein Symptom für ein neurotisches Verhältnis?

• Auch die Demoskopie kann den nüchternen Beobachter in die Konfusion treiben: Eine Umfrage des US-amerikanischen „Pew Global Attitudes-Projekts“ vom März 2007 behauptet – man glaubt es kaum: Israel soll seit dem Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Autonomiegebieten unter den Deutschen die höchsten Sympathiewerte innerhalb Europas genießen. Die Hamas, die ihre Israelkritik mit antisemitischen Hasstiraden garniert, treibt die geläuterten Deutschen in die Arme der Israelis? Ist dieser Befund ein Symptom für ein normales Verhältnis?

• Ihr Besuch in Israel in Israel hat es gezeigt: Angela Merkel genießt unter vielen Israelis ob ihrer unerschrockenen Solidaritätsbekundungen mit dem bedrohten Israel Kultstatus: Und auch das ist ein Faktum: 40 Prozent der Deutschen bejahen die Frage, ob Deutschland eine besondere (sicherheitspolitische) Verantwortung gegenüber dem Staat Israel trägt (so die Forschungsgruppe Wahlen lt. ZDF-Pressestelle, 3.5.2008). Doch gleichzeitig hat der Handel zwischen Deutschland und Iran – ungeachtet aller regierungsamtlichen Sanktionsschwüre – in diesem Jahr wieder deutlich an Fahrt gewonnen. Ein Beispiel: Am 28. Juli 2008 hat das „Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle“ ein 100-Millionen-Euro Deal zwischen einer deutschen Firma und dem Iran genehmigt. Die Siegener Firma „Steiner-Prematechnik-Gastec“ wird drei neue Gas-to-Liquid-Fabriken im Iran aufbauen. Durch die dadurch ermöglichte Verflüssigung von natürlichen Gasressourcen wird es dem Iran möglich sein, seine Transportkosten für Gas signifikant zu verringern. Der Handel wurde durch Hartmut Schauerte ermöglicht, CDU-Bundestagsmitglied und Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium.

Erneut die Frage: Was gilt denn nun? Sind diese offenkundig widersprüchlichen empirischen Daten nun eher symptomatischer Ausdruck für ein normales oder eher für ein, sagen wir, neurotisches und von Obsessionen geprägtes Verhältnis? Sollen wir lieber auf das halbleere oder auf das halbvolle Glas schauen? Wie immer wir die verwirrende Faktenlage interpretieren mögen: Das deutsch-israelische Verhältnis wird auch in Zukunft im Fokus anstößiger Provokationen stehen.


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Der Autor

MARTIN KLOKE

Dr., geboren 1959, Studium der Ev. Theologie, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 1989 Promotion am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften ("Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses", 1990/1994); 1989-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto Benecke Stiftung in Bonn; 1993/94 Studienreferendariat in Köln; seit 1995 Redakteur im Fachbereich Kulturwissenschaften der Bildungsmediengruppe Cornelsen in Berlin.



Siehe auch:
ONLINE-EXTRA Nr. 1ONLINE-EXTRA Nr. 44 und ONLINE-EXTRA Nr. 76