Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331


Online-Extra Nr. 197


Getauft, ausgestoßen und vergessen?

Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus.

Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch

(Hrsg.) HEINZ DAUME, HERMANN DÜRINGER, MONICA KINGREEN und HARTMUT SCHMIDT
Redaktion: Renate Hebauf und Hartmut Schmidt




Wilhelm Ernst und Ernst Ludwig Oswalt: Der Verleger und der Jungscharführer

Von RENATE HEBAUF *


„Liebe Tante Hanni, vorhin war ich mit Tante Kinni bei dem Konsulenten C. und er hat uns bestätigt, daß nachdem Papa jetzt über 6 Wochen in Haft ist, die Sache sehr ernst ist. Inoffiziell hat er in Erfahrung gebracht, daß man ihn für ein Lager vorsieht und nun zu befürchten ist, daß Papa (…) abtransportiert wird.“ Diesen „SOS-Ruf“schickt Ernst Ludwig Oswalt am 4. Juni 1942 aus Frankfurt an seine Tante in Iserlohn. Sein Vater, für den die Tante intervenieren soll, ist der Verleger Wilhelm Ernst Oswalt, dem bis zum erzwungenen Verkauf 1936 der Struwwelpeter-Verlag Rütten & Loening gehörte. Die Frankfurter Gestapo hatte ihn verhaftet, weil er den „Judenstern“ nicht wie vorgeschrieben trug.

Dass sein Vater einige Tage später vom Frankfurter Untersuchungsgefängnis ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurde, wo er noch im selben Monat ums Leben kam, erfuhr der Neunzehnjährige nicht mehr. Denn etwa zeitgleich, am 10. Juni 1942, wurde er selbst aus der Wohnung in der Bettinastraße 48 zur Deportation abgeholt. In einem am Vorabend verfassten Brief unter der Überschrift „Meinen Freunden zum Abschied“, beschreibt er, wie er am Sonntag spät abends von der Zwangsarbeit in einer Fabrik nach Hause kommend, im Briefkasten einen „Zettel“ mit der behördlichen Anweisung vorgefunden hatte, sich in drei Tagen bereit zu halten, Frankfurt zu verlassen.

Nach mehrmonatiger Pause rollten seit Mai 1942 wieder die Deportationszüge mit jeweils rund tausend jüdischen Menschen von Frankfurt in Richtung Osten. Ludwig Oswalt wusste, wie er schrieb, dass auch ihm dieses Schicksal bevorstand. Gegenüber seinen Freunden zeigte er sich gefasst und erleichtert, „aus der dauernden Ungewissheit erlöst zu sein.“ Er ermunterte sie, „getrost und voller Zuversicht“ mit ihm auf ein Wiedersehen zu hoffen. Zu dem erhofften Wiedersehen kam es allerdings nicht mehr. Ludwig Oswalt wurde nach Polen, in die Region Lublin verschleppt, wo sich seine Spur verlor.

So endet die Geschichte einer bekannten Frankfurter Familie, die in dieser Stadt einst glanzvolle Zeiten erlebt und Frankfurter Verlagsgeschichte mitgeschrieben hat. Der am 15. März 1877 in Frankfurt geborene Verleger Wilhelm Ernst Oswalt war seit 1901 Mitinhaber des traditionsreichen Verlags Rütten & Loening. Hier war 1845 nicht nur das berühmte Kinderbuch „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann, das künftige Zugpferd des Verlags, erschienen, sondern im selben Jahr auch „Die Heilige Familie“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Bereits sein Vater Heinrich Oswalt (1830-1891), ein Neffe des Verlagsgründers Joseph Rütten, war zusammen mit Karl-Friedrich Loening Inhaber des Verlags gewesen. Nach dessen frühem Tod hatte die Mutter, Brandine Oswalt, den Verlag geführt. Sie war eine Tochter des Pfarrers Johann Christian Deichler, der von 1843 bis 1873 an der St. Peterskirche gewirkt hatte.

Nach der Übernahme des Verlags durch Wilhelm Ernst Oswalt wurde ab 1905 der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) für zehn Jahre Lektor des Verlags, und ab den 1920er Jahren gehörten drei Nobelpreisträger, Romain Rolland, Karl Gjellerup und Sigrid Undset zu den Autoren des belletristischen Programmschwerpunkts. Soweit ist die Verlagsgeschichte bekannt.

Dafür, dass auch das schwere Schicksal der Familie in der NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerät, hat in jüngster Zeit die in Basel lebende Enkelin Ruth Oswalt gesorgt. Sie ist die Tochter des ältesten Sohnes Wilhelm Heinrich, der als Einziger seiner Familie die Nazizeit in der Schweiz überlebte. Die 1946 in Zürich geborene Schauspielerin fand auf den Spuren ihrer ermordeten Angehörigen in einem Frankfurter Archiv zuerst einen Ordner mit Geschäftskorrespondenz ihres Großvaters aus den Jahren 1935 bis 1937 und bei der Wohnungsauflösung ihrer Mutter noch viele weitere Dokumente und persönliche Briefe aus dem Zeitraum 1939 bis 1942. Sie geben tiefe persönliche und erschütternde Einblicke in die damalige Situation der Familie. Ruth Oswalt: „Ich hatte beim Lesen der Briefe das Gefühl: Das habe ich alles nicht zufällig gefunden, das hat mir der Herrgott zukommen lassen mit dem Auftrag: Jetzt mach etwas damit!“ Aus der gefühlten Verpflichtung und als „eine Art Ehrerbietung an ihr schweres Schicksal,“ entstand in enger Zusammenarbeit mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann, dem Schauspieler und Autor Gerd Imbsweiler, ein Theaterstück, mit dem Ruth Oswalt ihre Familiengeschichte auf die Bühne brachte. Unter dem Titel „Struwwelväter“ hatte das Stück im November 2011 in dem von dem Schauspielerpaar 1974 gegründeten Baseler „Vorstadttheater“ Premiere. In Form eines Familienbilderbogens mit zahlreichen zeitgeschichtlichen Bezügen zu den Struwwelpeter-Geschichten, beschreibt es die Hauptstationen der Familien- und Leidensgeschichte:

1918 heiratet der 41-jährige Ernst Oswalt im Frankfurter Römer die jüdische Lehrerin Wilhelmine (Wil) Rosenhaupt. Noch im selben Jahr kommt das erste gemeinsame Kind, die Tochter Fanny zur Welt, stirbt aber kurz nach der Geburt. 1920 und 1922 werden die Söhne Wilhelm Heinrich (Heiri) und Ernst Ludwig (Lux) geboren. Beide werden in der Peterskirche von Pfarrer Paul Martin Rade (1857-1940) getauft, dem Theologieprofessor und linksliberalen Politiker, der auch Redakteur der protestantischen Halbmonatsschrift „Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände“ ist und als Hauptvertreter des Kulturprotestantismus gilt.

Nach Jahren des glücklichen Familienlebens in großbürgerlichen Verhältnissen in der Villa an der Eschenheimer Anlage 10 und ab 1929 im Verlagshaus in der Merianstraße 55, nach erfolgreichen Jahrzehnten als Verleger, dem es gelungen war, den Verlag durch die Wirtschaftskrise zu retten, brechen mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten schlimme Zeiten für Ernst Oswalt und seine Familie an: Obwohl seit zwei Generationen Protestanten, werden die Oswalts nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt. 1934 erkrankt die Ehefrau Wilhelmine an Leukämie, die „Nürnberger Gesetze“ definieren sie im Jahr darauf als „Volljüdin“, Ernst Oswalt als „Halbjuden“ und die Kinder als „Dreivierteljuden“. Unter dem Druck der antijüdischen Gesetzgebung und nach Warnungen aus dem Freundeskreis, dass auch den Verlegern bald Berufsverbot droht, entschließt sich Ernst Oswalt, der Verleger aus Leidenschaft, schweren Herzens, den Verlag zu verkaufen. „Ich schreibe Ihnen heute als Verleger, der bald keiner mehr sein wird“, verabschiedet er sich von seinen Geschäftspartnern und Autoren. Um den Verlag als solchen zu erhalten, verkauft er ihn schließlich gemeinsam mit seinem jüdischen Kompagnon, Adolf Neumann, im Mai 1936 an den Verleger Albert Hachfeld in Potsdam. Der hatte zugesagt, das Verlagsprogramm inhaltlich weiterzuführen und den größten Teil der Mitarbeiter zu übernehmen.

Auch das Verlags- und Wohnhaus der Familie in der Merianstraße muss aufgegeben werden. Die Familie zieht in eine Wohnung in der Bettinastraße 48 im Frankfurter Westend. Dort verfasst der zur Untätigkeit Verurteilte Briefe über seine Sorgen um die Gesundheit seiner Frau sowie um die berufliche Zukunft, die eigene und vor allem die der Söhne. „Für diese Buben gibt es – hoffentlich – einen irgendwie beschreitbaren Weg zum Fortkommen, im wahrsten Sinne des Wortes“, schreibt er an eine Verwandte in England. Da seine Sekretärin mit dem Verlag nach Potsdam gegangen ist, diktiert er die Sorgen-Briefe seinem16-jährigen Sohn Heinrich in die Maschine. 1937 macht Heinrich sein Abitur an der Musterschule und geht im Herbst in die Schweiz, wo er ein Studium der Elektrotechnik beginnt. Im Frühjahr 1938 verliert Ernst Oswalt seine Frau Wilhelmine. Sie stirbt in Frankfurt an den Folgen ihrer Krankheit.

Nach ihrem Tod wird der Sohn Heinrich in der Schweiz sein wichtigster Ansprechpartner und Ratgeber, auch bei seinen Bemühungen, vor allem Ludwig aus Deutschland herauszubekommen. Inzwischen schrumpft auch sein großer Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr zusammen: In den Briefen an Heinrich ist wiederholt die Rede von Besuchern, die sich verabschieden, „derweil sie morgen ablondonern“, wie er mit dem ihm eigenen Sprachwitz formuliert. Die zunehmende Einsamkeit und Verzweiflung zeigt sich ab 1939 darin, dass er seinem Ältesten phasenweise alle zwei Tage einen Brief schreibt. Alle Versuche Heinrichs, über Kontakte in der Schweiz, nach Schweden, in die USA oder nach Südamerika, Bruder und Vater aus Deutschland herauszubringen, scheitern aber in den folgenden Jahren.

Ludwig engagiert sich mittlerweile stark in der St. Petersgemeinde, wo er 1936 auch konfirmiert wurde. Besonders verbunden ist er mit Pfarrer René Wallau, der anders als seine Kollegen der Bekennenden Kirche angehört. Ludwig hält Kindergottesdienste und inszeniert Theaterstücke für die Jugendlichen, steht auch selbst mit auf der Bühne. Er hat dort gute Freunde, mit denen er seine Freizeit verbringt: „Wir, (Kindergottesdiensthelferkreis) waren über das Wochenende in Rod am Berg. Es war sehr schön“, schreibt er am 2. Mai 1939 seinem Bruder Heinrich. Im Frühjahr 1941 darf Ludwig wegen seiner jüdischen Herkunft nicht länger Jungscharführer der Gemeinde sein. „Irgend so ein Wichtigtuer hat ihm jetzt auch noch seine Jugendarbeit weggenommen“, schreibt der Vater nach Zürich. Kurz zuvor hat Ludwig auch eine 1940 begonnene Buchbinderlehre abbrechen müssen, weil er zur Zwangsarbeit – in der Häutegroßhandlung Wilhelm Schupp KG in der Krifteler Straße 30 –verpflichtet wurde. Trotz aller Tiefschläge, auch als er rund um die Uhr schwere körperliche Arbeit verrichten muss und kaum noch freie Zeit hat, bleiben seine Briefe immer zuversichtlich. Bis zuletzt schreibt er, dass er sich seinen Humor und seine Lebensfreude nicht nehmen lässt.

Offenbar hielt Ludwig Oswalts Beziehung zur St. Petersgemeinde und den dort gewonnenen Freunden bis zu seiner Deportation. Das dokumentiert nicht nur sein Abschiedsbrief. Wie Michael Georg Hauck, ein weitläufiger Verwandter der Familie Oswalt, der am 15. März 1942 dort konfirmiert wurde, erinnert, sang Ludwig Oswalt mit dem diskriminierenden Stern auf der Brust noch im Kirchenchor, als er Konfirmand in der Gemeinde war. Die Diakonisse Anneliese Oehlert, damals 18 Jahre alt, weiß noch, dass der einst so „beliebte rothaarige Jungscharführer der Gemeinde“ eines Tages plötzlich verschwunden war und es daraufhin in der Gemeinde hieß: „Er war Jude“.


* Quellen: Gespräch der Autorin mit Ruth Oswalt in Basel am 11. Mai 2013; www.struwwelvaeter.ch; Auskünfte von Hartmut Schmidt.



"Meinen Freunden zum Abschied"

Der Abschiedsbrief von Ludwig Oswalt,
Frankfurt/M., 9. Juni 1942

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Getauft, ausgestoßen –
und vergessen?

Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus

Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch



Herausgegeben von Heinz Daume, Hermann Düringer, Monica Kingreen
und Hartmut Schmidt

Redaktion: Renate Hebauf/Hartmut Schmidt


CoCon Verlag
Hanau 2013
468 Seiten, Hardcover
29,80 Euro
ISBN 978-3-86314-255-1
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Das Schicksal der evangelischen Christen jüdischer Herkunft in Hessen während des Nationalsozialismus wurde lange verdrängt und ist so weitgehend unbekannt. Nach nationalsozialistischer Definition galten diese Christen als „Juden“ und wurden antisemitisch verfolgt.

In Hessen waren sie einer oft tödlichen Verfolgung ausgesetzt, hunderte wurden im Holocaust ermordet. Die evangelischen Kirchen schwiegen zur Verfolgung der Juden. Auch ihre eigenen Kirchenmitglieder mit jüdischer Herkunft schützten sie nicht und grenzten sie aus. Die Landeskirche von Nassau-Hessen schloss ihre Mitglieder sogar aus der Kirche aus. Das Sakrament der Taufe wurde verraten. Nur einzelne Menschen aus der Kirche standen den Bedrängten zur Seite.

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LESEPROBEN



- Heinz Daume / Hermann Düringer:
Einleitung zum Forschungsprojekt in Hessen


- Werner Schneider-Quindeau und Hermann Düringer:
Der Verrat an der Taufe


- Renate Hebauf:
Wilhelm Ernst und Ernst Ludwig Oswalt: Der Verleger und der Jungscharführer

- vollständiges Inhaltsverzeichnis des Buches


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