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ONLINE-EXTRA Nr. 55

August 2007

Die vorliegenden Doppel-Ausgabe von ONLINE-EXTRA will auf einen Essay-Band aufmerksam machen, der in mehrfacher Hinsicht herausragend ist: "Makom. Orte und Räume im Judentum. Essays" (siehe den Anzeigenhinweis weiter unten; dort auch ein Link zum Inhaltsverzeichnis des Buches).

Diaspora, Grenze, HaMakom, aber auch Begriffe wie Kabbala, Öffentlichkeit und Tohuwabohu sowie weitere rale, abstrakte und imagniäre "Orte" bilden die Schlagworte dieses Essaybandes, deren gemeinsames Zentrum um die Frage kreist: Was ist ein jüdischer Ort? Dass es dabei nicht allein um topographische Orte, sondern um ganz unterschiedliche Konstruktionen von Ort und Raum geht, resultiert aus der Geschichte des jüdischen Volkes und seiner 2000-jährigen Diaspora.

Hervorgegangen sind die Essays dieses auch graphisch äußerst ansprechend gestalteten Buches aus dem 2001 gegründeten Graduiertenkolleg "Makom. Ort und Orte im Judentum. Zur Bedeutung und Konstruktion von Ortsbezügen im europäischen Judentum", initiiert vom Studiengang jüdische Studien an der Universität Potsdam.

Mit der online exklusiven Publizierung der Einleitung von Joachim Schlör (ONLINE-EXTRA Nr. 54), dem Ideengeber und Realisator des Graduiertenkollegs, einem beispielhaften Essay von Stefanie Leuenberger (ONLINE-EXTRA Nr.55) über "Jerusalem in der deutsch-jüdischen Literatur" sowie einem diesen beiden Texten jeweils vorangestellten Auszug aus dem Vorwort der Herausgeberinnen möchte COMPASS Sie einladen, den faszinierenden und mitunter überraschenden Wegen durch "Orte und Räume im Judentum" zu folgen!


COMPASS dankt Autor, Autorin sowie den Herausgeberinnen und dem Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!

© 2007 Copyright bei Autorin, Autor, Herausgeberinnen und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 55


Makom - Orte und Räume im Judentum (Teil 2)

Vorwort der Herausgeberinnen
und
Stefanie Leuenberger: Imagination.
Ortsverschiebung: Jerusalem in der deutsch-jüdischen Literatur


******************************

Real, abstrakt, imaginär – Orte und Räume im Judentum in der Diskussion.
Ein Vorwort

Die Herausgeberinnen

[…] Unsere Intention als Herausgeberinnen war es, die Zusammenhänge der scheinbar disparaten Forschungsfelder des bis März 2007 in Potsdam angesiedelten Graduiertenkollegs „Makom. Ort und Orte im Judentum“ zu betonen. Schlaglichtartig wollten wir die Vielfalt der Themen, Disziplinen und Forschungsweisen der von uns untersuchten Ortsbegriffe beleuchteten und bündeln. Auf die – manchmal überraschenden – Konvergenzen zwischen den einzelnen Texten weisen wir in den Anmerkungen ausdrücklich hin. Wir möchten mit diesem Band auch ein Gesprächsangebot unterbreiten, auf unsere wissenschaftlichen Arbeiten aufmerksam machen und die Öffentlichkeit an unseren Ideen und Gedanken teilhaben lassen. Deshalb haben wir uns ganz bewusst für die Textgattung des Essays entschieden, denn diese erlaubt es, eine These zu erproben und ein Thema in zugänglicher Sprache darzustellen, die ein breiteres Publikum einlädt, sich einzulassen auf die Debatten darüber, was denn ein jüdischer Ort sei.

Vorangestellt ist jedem Essay ein Schlagwort, das den Kern des behandelten Themas benennt und einen wichtigen Aspekt der jeweiligen Forschungsarbeit aufgreift. Die alphabetische Anordnung macht zum einen das Kaleidoskop dessen, was unter jüdischem Ort verstanden werden kann, sichtbar. Zum anderen weist sie auf unseren Wunsch hin, die Ortsbegriffe nicht zu hierarchisieren. Neben eindeutig jüdischen Ortsbegriffen wie Eruw, Mischkan, Medinat Jisrael weisen andere Schlagwörter wie Imagination, Un-Ort, Heimat auf die Konstruktion und Konstruiertheit von Orten hin. Dass Zwischen-Orte im Tohuwabohu der Welt zu genuin jüdischen Orten werden (können), zeigt die Geschichte und zeigen Geschichten, die Literatur wurden.

Einige Essays wie HaMakom (Helga Völkening), Lehrhaus (Michal Kümper), Eruw (Barbara Rösch) und Mischkan (Franziska Bark) verfolgen den Ansatz, eine umfassende Definition, historische Einbettung und Bedeutungsbeschreibung zu bieten. Andere gehen umgekehrt vor und schlagen anhand scheinbar vertrauter Begriffe ganz unvermutete Richtungen ein, wenn es z.B. das Tohuwabohu des orthodoxen Zionisten Sammy Gronemann (Marc André Brinkforth) ist, das vorgestellt wird, das Echo der biblischen Zufluchtsstätte im Denken Emmanuel Levinas (Elliott Bergman), das Diaspora-Selbstverständnis von Heinrich Heine (Lydia Fritzlar) und das Konzept der göttlichen Ortlosigkeit bei Simone Weil (Helen Thein). Der Essay Imagination (Stefanie Leuenberger) untersucht die Bedeutung von Jerusalem für die deutschsprachige jüdische Literatur, während Stadtbilder (Ines Koeltzsch) zeigt, wie sich die Darstellung vom jüdischen Prag wandelt. In das Exil nach Palästina mitgereist ist die damals neuartige Konzeption der Gartenstadt (Ines Sonder), die aus der gegenwärtigen Stadtplanungskultur Israels nicht mehr wegzudenken ist. Der Begriff Yam Tikhoniut (Alexandra Nocke) zeigt, das sich Israelis auch jenseits politischer oder religiöser Konzepte mit dem Land, das am Mittelmeer gelegen ist, identifizieren, während Medinat Jisrael (Julia Brauch) für die Rückkehr des Politischen in das Judentum steht. Anhand von Schoagedenkstätten untersucht Anja Kurths unterschiedliche Konzepte des Gedenkens in Israel. In der Zeit des Nationalsozialismus fokussierte sich der Identifikationsraum, angesichts der Beraubung staatsbürgerlicher Rechte, für viele Juden von der Nation auf die Stadt (Dorothea Bohnekamp), nicht mehr Deutsche oder Franzosen waren sie, als Berliner oder Pariserinnen verstanden sie sich. Den Ehrentitel „Stadt und Mutter in Israel“, Ir vaEm beJisrael (Anne-Christin Saß), erhielten jene Städte, die nicht nur Schutz gewährten, sondern auch zur Heimstadt wurden, so wie Berlin in den 1920er Jahren. „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ fragt Ulrike Schneider mit Bezug auf den Überlebenden von Auschwitz Jean Améry. Nur noch Geister sind im Jiddischland zu finden, sie lassen sich dennoch befragen, so Tomasz Wozniak der für eine breitere Rezeption jiddischer Literatur plädiert. Michael Brockes Überlegungen zum Friedhof als Ort (auch) der Lebenden verweist auf die spezifische Art der Totenehrung im Judentum. Die Verklärung osteuropäischen Judentums durch westlich orientierte säkulare Schriftsteller ist ein Phänomen, dem Anna-Dorothea Ludewig anhand von Ghettogeschichten eines Karl Emil Franzos nachgeht, die eigentlich Schtetl-Geschichten heißen müssten. Vom Einfluss jüdischer Kultur auf die christliche Umwelt erzählt Vladek Viehmann beispielhaft anhand des nichtjüdischen Kabbala-Forscher Franz Joseph Molitor. Der gegenteiligen Spur, der der Judenverachtung, geht Barbara Rösch in Un-Ort nach. Christina von Braun vergleicht die Rekonstruktion von Heimat im Gedächtnis ihres Großvaters, Magnus von Braun, mit dem Konzept des portativen Vaterlandes im Judentum. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wird von einigen russisch-jüdischen Wissenschaftlern in der Historiographie das Russische Reich als ein historischer Ort des Judentums begründet, was Kerstin Armborst an fünf Beispielen belegt. Jüdische Selbstverständigung erfolgte auch im Pressewesen, wovon die Essays Öffentlichkeit (Johannes Schwarz), Sepharad (Jens Neumann) und Sprache (Markus Winkler) erzählen. Der These von der peripheren Existenz des Jüdischen geht Ruth Leiserowitz topografisch nach und untersucht jüdisches Leben und seine Vernichtung anhand eines Ortes an der Grenze. Vertrieben, im Exil angekommen, wurde von vielen Migrantinnen und Migranten verlangt, sich zu einer jeweils passenden Identität zu bekennen, die, im Fall der USA einmal deutsch, einmal jüdisch, dann wieder amerikanisch sein sollte. Die vielen Bezugsorte der jeweiligen Biographie inkorporieren sich, so die These von Anne Clara Schenderlein, dann zu Zwischen-Orten, die eine eigene Existenz in den Menschen haben. Die Utopie gleichberechtigten Lebens in den halböffentlichen Salons der Romantik will Hannah Lotte Lund nicht ganz aufgegeben wissen.
[…]



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Michal Kümper / Barbara Rösch /
Ulrike Schneider / Helen Thein (Hg.):
Makom. Orte und Räume im Judentum.
Essays



    M. Kümper / B. Rösch /
    U. Schneider / H. Thein (Hg.):

   Makom
   Orte und Räume
   im Judentum 
   Essays 


   Georg Olms Verlag
   Hildesheim/Zürich/New York 2007
   356 Seiten,
   mit 30 s/w-Abb. und einem
   Personenregister.
   32,00 €

   jetzt bestellen



              Vollständiges Inhaltsverzeichnis

Diaspora, Grenze, HaMakom, aber auch Begriffe wie Kabbala, Öffentlichkeit und Tohuwabohu sowie weitere reale, abstrakte und imaginäre Ortsbegriffe bilden die Schlagwörter für den vorliegenden Essayband. Geleitet werden die einzelnen Betrachtungen von der Frage: Was ist ein jüdischer Ort? Dass diese nicht allein topographische Orte, sondern vielfältige Orts- und Raumkonstruktionen sein können, resultiert aus der Geschichte des jüdischen Volkes und seiner 2000-jährigen Diaspora.

Hervorgegangen aus dem Potsdamer Graduiertenkolleg „Makom. Ort und Orte im Judentum“ begegnen die Autorinnen und Autoren der Essays dem jüdischen Ortsbegriff aus religions-, kultur-, und literaturwissenschaftlicher Perspektive sowie durch soziologische, philosophische oder historische Fragestellungen.

Überraschend ist dabei zweierlei: Zum einen die bildhafte Definition der einzelnen Begriffe, zum anderen unter welchen Schlagwörtern die Themen behandelt sowie die unerwarteten Wege, die eingeschlagen werden.

Dieses Buch kann ein neuer Impuls sein, sich den unterschiedlichen jüdischen Orts-Landschaften zu nähern



>AKTUELL*AKTUELL*AKTUELL*




Einladung zur Präsentation des Essaybandes
"Makom. Orte und Räume im Judentum. Imaginär. Essays"
hrsg. von Michal Kümper, Barbara Rösch, Ulrike Schneider und Helen Thein


In einer von Luise Pfütze moderierten Abendveranstaltung führen die Herausgeberinnen in diese jüdischen Ortslandschaften ein und stellen die inhaltliche und graphische Konzeption des Bandes vor. Begleitet wird die Podiumsdiskussion von Lesungen einzelner Essays durch Annett Zinnecker sowie durch die Band Rimonim (Saxophon: Hannes Kies, Gesang: Mieke Schymura, Text und Komposition: Mottel Schuscha).

24. Oktober 2007
Thalia Kino
veranstaltet von der Scriptbuchhandlung Potsdam (Kerstin Seefeldt)
Beginn um 20.00 Uhr
4,50 Euro Eintritt; erm. 4,- Euro
Adresse: Rudolf Breitscheid Straße 50, 14482 Potsdam


26. November 2007
Jüdisches Museum Berlin
Beginn um 19.00 Uhr
Eintritt frei
Adresse: Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin


30. Januar 2008
Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung
Beginn um 18.00 Uhr
Eintritt frei
Adresse: Heinrich-Mann-Allee 107, 14460 Potsdam


IMAGINATION

Ortsverschiebungen: Jerusalem in der deutsch-jüdischen Literatur


von Stefanie Leuenberger


Was macht die Imagination aus einem Stein, einem Felsen, einer Mauer? Sie erfindet Mythen, die Geschichten erzählen, Namen nennen und so den Ort im universalen Raum lokalisieren, indem sie ihn von der Umgebung unterscheiden. Mythen, die bestimmte Orte mit Bedeutung belegen, sind die „Wunschphantasien [...] der jungen Menschheit“ (Sigmund Freud). Und die Menschheit hat nicht aufgehört zu träumen, auch nicht nach der „Entzauberung der Welt“ (Max Weber). Mit der Benennung beginnt die Unterscheidung, wer den Namen gibt und ausspricht, erhebt Anspruch auf den Ort, zeigt sein Begehren nach gerade dieser Stelle.

Bestimmten Orten ist durch Sprache und Schrift, Mythologie, Theologie, Wissenschaft, Literatur und Kunst eine Vielfalt von Bedeutungen verliehen worden. Ein Beispiel dafür ist Jerusalem – eines unter vielen, aber ein besonders anschauliches: Jerusalem ist in den Schriften der jüdischen Überlieferung zentrale Bedeutung als Ort von Ursprung, Bund und verheißener Erlösung zugeschrieben worden – eine Bedeutung, die jüdische Gemeinden in aller Welt während der Jahrhunderte der Diaspora lebendig hielten und auf die sie ihre Hoffnungen bauten. Verstärkt durch die Vorstellungen, die die christliche Tradition mit Jerusalem verband, wurde der Ort zu einer Projektionsfläche von theologischen Überlegungen und persönlichen Träumen, aber auch von machtpolitischen Phantasien und Strategien der verschiedenen Kirchen, Konfessionen und der jungen, aufstrebenden Nationen.

In Texten, Gemälden und Photographien von Jerusalem sind die Schichten einer kulturellen Prägung noch sichtbar. Realien erscheinen zwar auch, etwa in Berichten über Reisen nach Palästina. Doch viel stärker wog während Jahrhunderten die imaginäre, mythische Besetzung des Orts, zu der – ausgehend von den Erwähnungen der Stadt im Bibeltext – Kupferstiche, Zeichnungen, Gemälde, Gedichte, Dramen, Romane und sogar musikalische Interpretationen Entscheidendes beitrugen.

Was geschah nun in einer Zeit, in der für Juden in der ‚Diaspora’, in Europa, in Deutschland die Möglichkeit gekommen zu sein schien, gleichberechtigte Staatsbürger zu werden? Man könnte annehmen, dass das Bild der Stadt, ihr Name und seine Konnotationen im Laufe des 19. Jahrhunderts, im Zuge von Emanzipation und Verbürgerlichung, von Säkularisierung und Assimilation verblasste.

Doch ganz im Gegenteil. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Jerusalem in Werken deutsch-jüdischer Autoren und Autorinnen, von Heinrich Heine über Theodor Herzl, Else Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel bis zu Anna Seghers, immer häufiger der Bezugspunkt von Gedankenspielen und Wanderungen der Hauptfiguren. Die meisten dieser Autoren gehörten dem assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertum an, nur wenige hatten noch eine religiöse Erziehung erhalten.

Der Name „Jerusalem” erscheint in den Werken deutsch-jüdischer Autoren im Deutschen, der Sprache, die seit dem 18. Jahrhundert als Ort der jüdischen Emanzipation diente: als Raum eines Gesprächs zwischen Juden und Nichtjuden seit der Aufklärung, deren Dialektik sich schon vor Beginn des 20. Jahrhunderts zu zeigen begann. In den Werken und Schriften deutsch-jüdischer Denker und Schriftsteller erscheint die Frage der Identität als eine kulturelle Perspektive der Moderne.1  Der Begriff „Jerusalem” dient nun für Überlegungen zur deutsch-jüdischen Lage und kulturellen Identität. Am Beginn der Diskurse über Aufklärung und Emanzipation bildete „Jerusalem“ den Titel einer Schrift von Moses Mendelssohn, die im sich formierenden Nationalstaat die Trennung von Religion und Staat forderte. Sie wollte zeigen, dass der alte Glaube Israels sich in Übereinstimmung mit den rationalen Lehren der Aufklärung befand.2 Die deutsche Gesellschaft, ihrer eigenen Kollektividentität noch unsicher, lehnte aber eine pluralistische Vorstellung ihrer sozialen und politischen Struktur ab.3  Das von der Aufklärung geprägte individualistische Modell einer kollektiven Identität wurde immer mehr aufgegeben und die Mehrheitsgesellschaft orientierte sich nun verstärkt an ethnischen Kriterien deutscher Identität, von der sie die Juden ausschloss.

Zwar wurden die Begriffe „Jerusalem“ und „Zion“ von der jüdischen Reformbewegung in Deutschland in den 1840er Jahren aus den Gebetbüchern gestrichen, weil alle Juden die staatsbürgerlichen Rechte zu erhalten schienen. Doch viele zweifelten, von der Mehrheit jemals als zugehörig akzeptiert zu werden. Die Damaskusaffäre, die gescheiterte Revolution von 1848 und gedruckte Zeugnisse des Antisemitismus wie Wagners Schrift über das „Judentum in der Musik“ verstärkten die Desillusionierung. Einen Ausweg suchten seit den 1840er Jahren Projekte für eine Rückkehr der Juden nach Palästina, fanden aber noch wenig Beachtung.

Deutsch-jüdische Autoren und Künstler beteiligten sich rege an der Debatte um Emanzipation und Verbürgerlichung, an der Abwehr des Antisemitismus und an der Diskussion über die verschiedenen neuen möglichen Identitätsentwürfe wie Liberalismus, Kosmopolitismus, Sozialismus und Zionismus. Dabei nahmen sie in ihren Texten und Bildern tradierte mythische Narrative auf und versuchten, sie in Frage zu stellen. Sie lösten das Motiv Jerusalem aus den Erzählungen der Überlieferung heraus und stellten es in neue Zusammenhänge. Manche von ihnen gingen bereits bewusst, kritisch und teilweise ironisch mit den Mythen der Überlieferung um. Bei ihrer Arbeit mit dem Motiv Jerusalem zeigt sich somit etwas Neues gegenüber künstlerischen Interpretationen früherer Jahrhunderte: Erinnerungsfiguren aus dem kulturellen Gedächtnis erscheinen jetzt als Bruchstücke, und die veränderten symbolischen Dimensionen werden sichtbar, die dem Ort nun zu-geschrieben werden.



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[…] Else Lasker-Schülers Phantasieort konnte ein zeitgenössischer Betrachter durch bestimmte Symbole mit Vorstellungen von einer ‚orientalischen Stadt’ assoziieren. Es ist ein Ort, an dessen Erfindung Überlegungen zu ‚Fremdheit’ und ‚Nähe’, Erinnerungen an Lektüreerlebnisse der Kindheit und die Selbstinszenierungen der Dichterin als ‚orientalische’ oder ‚biblische’ Figur Anteil hatten. Wie Else Lasker-Schüler in ihren Zeichnungen den Ort in ihre Identitätsspiele einbezog, so auch in ihrem literarischen Werk:


„Und ich bestieg den Gipfel des Berges, der herabblickt auf die trunkene Stadt. Und da ich zu den Nächten sang, fiel in meinen Schoß das Gold der Sterne – und ich baute Jehova einen Tempel vom ewigen Himmelslicht. Erzvögel sitzen auf seinen Mauern, Flügelgestalten und suchen nach ihren Paradiesliedern. Und ich bin eine tanzende Mumie vor seiner Pforte ......................“4 


Was also zeigen die Bilder und Texte Else Lasker-Schülers? Es ist nicht Jerusalem, sondern ein Ort der Imagination. Kleine Zeichen aus der Sammlung der kulturellen Überlieferung wurden herausgelöst und ganz neu zusammengesetzt, in phantasievoller Kombination. Die orientalischen Spiele in den Texten und im zeichnerischen Werk Else Lasker-Schülers waren ein Weg, in produktivem und kritischem Umgang mit den Attributen, die ihr die Kritik zuschrieb – eine ‚jüdische’, ‚orientalische’ Dichterin, die auf spezifisch ‚weibliche’ Weise dichte –, genau diesen Stereotypen ein wenig zu entkommen. Sie erzählte biblische Anekdoten aus expressionistischer Sicht neu und konstruierte Motive der Sehnsucht und Freundschaft wie auch der Gewalt und des Opferseins. Damit nahm sie am Diskurs der Moderne teil, indem sie die Krise der Jahrhundertwende in eine mythische Zeit und einen imaginären Raum verschob. In den biblischen Erzählungen glaubte sie, die archaische Form der Dinge zu hören, die sie in Allegorien der Moderne übersetzte.5 Ihre Sprachversuche sind auch Teil des kulturzionistischen Diskurses und seiner Überlegungen zur Erneuerung des Hebräischen, wie die Gedichtsammlung „Hebräische Balladen“ von 1912 zeigt. Doch die Avantgarde, in deren Rahmen die Dichterin auftrat, wollte die Sprachkrise um 1900 nicht nur überwinden: Sie wollte sie auch erfahren, indem sie sie in das Modell einer neuen Sprachlichkeit übertrug. In diesem Zusammenhang wäre Jerusalem als ein expressionistisches Sprachphänomen zu lesen, indem man das „Heiligtum” in die Sprachlichkeit zu übersetzen versuchte. Jerusalem, könnte man sagen, ist eine Allegorie für die „heilige Sprache”, für eine Sprache, die dem Gottesdienst gewidmet war und nur im Tempel gesprochen wurde, die vor allem eine Schrift war und die nun auf der Welt verteilt und zerstreut ist. Sie lebt nun in der Diaspora. In Palästina liegt zwar ein Ursprung, aber dieser ist leer oder verborgen wie der Tempel. Dabei geht es bei Else Lasker-Schüler um ein anderes Exil als den Galut. Jerusalem steht außerhalb des Exil-Heimat-Diskurses, da es nur „die Sternwarte der Heimat6  ist – denn „Heimat ist: Messias“. Kein irdischer Ort könne den Erwartungen an eine Heimat gerecht werden, die durch „tausend und tausendjährige Sehnsucht schon dem Märchen über die Krone gewachsen“ sei. In diesem Sinne kann man Else Lasker-Schülers Sprachdiskurs mit dem Projekt der „Erneuerung des Hebräischen” in Verbindung bringen. Die Dichterin glaubte, die Stimme der „heiligen” Sprache zu hören, und versuchte, sie in ihr Schreiben zu übersetzen. Dies sind die Momente, in denen Jerusalem in ihren Arbeiten erscheint.

Nur in Zwischen-Räumen, an Orten wie dem Theater, dem Zirkus, dem Gottesdienst oder dem Schiff, kann sich „Gemeinschaft“ ereignen. Denn in diesen „anderen Räumen” (Michel Foucault) ist die Sprachlichkeit des „Heiligtums” noch erfahrbar, in der seltenen Begegnung mit dem Anderen. Jerusalem kann so als Sprachphänomen verstanden werden: Mit ihm erfand der Modernismus einen Ort jenseits von Zeit und Örtlichkeit, der ebenso wie die „heilige Sprache” als „heilige” Konstruktion erschien: jenseits der Alltäglichkeit liegend, ein entfernter, unerreichbarer Ort der „Gemeinschaft“.

Jerusalem ist also in der deutsch-jüdischen Literatur keine reale Örtlichkeit mehr, sondern wird zum Schrift-Raum. Es steht für die „Wunde des Ursprungs” und beschreibt die komplexe „Lage des Juden in der westlichen Welt“7, steht für den „Riss“ in Raum und Zeit, zwischen Herkunft und Zukunft, um den sich die Frage der jüdischen Identität aufbaut.

Auf der Bühne Jerusalems zeigen sich die unauflösbaren Spannungen der Identitätsfrage: Es ist der „alte Ort des Judentums“, aus dem die Protagonisten zu entfliehen versuchen. Jerusalem wird zum Denkraum, wo Gestalten aus der Bibel und Denkfiguren moderner Diskurse miteinander agieren. Es sind verrückte, unheimliche, allegorische Gestalten, die die Zerbrochenheit des modernen Subjekts verkörpern. In Jerusalem ist die hybride jüdisch-christliche Figur geboren, die keinen Platz am „Ort der Herkunft“ mehr findet, immer weiter wandern muss und manchmal die Idee einer messianischen Aufgabe mit sich trägt. Wenn sie als „Opfer” und „Märtyrer” für die Rettung der Gesellschaft konstruiert wird, bildet dies einen Bestandteil literarischer Identitätsverfahren, innerhalb derer Jerusalem zu einem Spielfeld für ethnische Definitionen wird, für Inszenierungen sexueller Hybris und für Versuche, eine verlorene Einheit des Geschlechts wiederzugewinnen: in der Übersetzung des Selbst in den Körper des Orients, in der Spiegelung als ‚asiatischer’ Körper. Aus Jerusalem als dem Wohnort des „jüdischen Körpers“ zu fliehen ist der Wunschtraum mehrerer Protagonisten. Die Auflehnung gegen den „Vater“ und das Entkommen aus dessen „Gesetz“ und aus dem „Bann jüdischer Identität“ wird zuweilen mit Begriffen aus Freuds Schriften über psychoanalytische Behandlungstechniken beschrieben. Jerusalem ist der Herkunftsort des Sohns, der sein Selbstopfer anbietet in der Erwartung, dass dies eine neue, bessere Zeit heraufführen werde. Die Enttäuschung dieser Hoffnung führt zur „Wandlung“ des Sohns zum Revolutionär und Kriegsgegner, durch die er zum Verdächtigen und wiederum Heimatlosen wird, und zur Imagination einer „kosmopolitischen Existenz“. Manchmal wird Jerusalem sogar zum Zeichen für die „Gewißheit des Überdauerns”, für die Vorstellung vom „ewigen Leben” des Judentums, enthoben dem Strom der Zeit und ohne Verankerung im Raum.

Was also machte die Imagination deutsch-jüdischer Autoren im 19. und 20. Jahrhundert mit Stein, Fels und Mauer? Sie zerschlug die alten Mythen und schuf aus ihren Bruchstücken neue, die Auswege aus den Spannungen der Identitätsfrage zeigen sollten. Innerhalb der Literatur und Kunst der Moderne waren also deutsch-jüdische Autoren und Künstler nicht ganz frei von der Tendenz zu mythischen Imaginationen. Im Rahmen des „Projekts der Moderne” (Shulamit Volkov), an dem die deutschsprachigen Juden teilnahmen, bedeutete die Arbeit mit alten und neuen Mythen die Kritik an Aufklärung und Säkularisierung und schuf gleichzeitig einen Raum zur „Erfindung einer Tradition” und zur Imagination einer „Gemeinschaft”. In diesen Zusammenhang gehört das Thema der „Erneuerung der Sprache“, besonders der „Erneuerung des Hebräischen”, sowie die Suche nach einer „neuen Gemeinschaft“ als Mittel gegen die empfundene „Vereinzelung des Menschen“. Im Modernismus wurde manchmal versucht, die Sprache in mythischen, imaginären Formen zu erneuern und in theologischen Traditionen den Menschen als „ursprünglichen“ wiederzuentdecken. Verschiedene Autoren glaubten in der Kunst die „ästhetische Struktur der Erlösung” zu erkennen.8  Analog dazu diente Jerusalem, als Sprachphänomen verstanden, den deutsch-jüdischen Autoren dazu, einen Ort der „Offenheit“ und der seltenen „Gemeinschaft“ zu erfinden.



ANMERKUNGEN



1 Vgl. SHAHAR, GALILI: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne, Bielefeld 2007; MENDES-FLOHR, PAUL: Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden, München 2004; VOLKOV, SHULAMIT: Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001; BRENNER, MICHAEL: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000; MATTENKLOTT, GERT: Über Juden in Deutschland, Frankfurt/Main 1992; MOSSE, GEORGE L.: German Jews beyond Judaism, Bloomington 1985. 

2 MENDELSSOHN, MOSES: Jerusalem oder Über religiöse Macht und Judentum, in: ders.: Schriften über Religion und Aufklärung, Martina Thom (Hg.), Darmstadt 1989, S.353-458.

3 Vgl. Anm.1, MENDES-FLOHR, PAUL: Jüdische Identität, S.31ff. Mendes-Flohr beschrieb die kulturelle Identität der deutschen Juden als „Hybridität”, als Struktur einer Doppelidentität.

4 LASKER-SCHÜLER, ELSE: Die Nächte Tino von Bagdads, in: Dies.: Werke und Briefe, Kritische Ausgabe, Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky (Hg.), Bd. 3.1, Frankfurt/Main 2002, S.74.

5 Vgl. Anm.1, SHAHAR, GALILI: theatrum judaicum, S.81ff.

6 Dieses und das folgende Zitat: LASKER-SCHÜLER, ELSE: Das Hebräerland, Werke und Briefe Bd. 5, S.12, und: Der Wunderrabbiner von Barcelona, in: Werke und Briefe, Bd. 4.1, S.16. Hervorhebung im Original.

7 Vgl. ZWEIG, ARNOLD: Modell, Dokument und Dichtung, in: Jüdische Rundschau, Nr.94, 25. November 1932.

8 Vgl. SHAHAR, GALILI: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne, Bielefeld 2007.


Die Autorin

STEFANIE LEUENBERGER

geb. 1972. Studium der Germanistik und Religionswissenschaft in Bern und Berlin; promoierte 2005 mit der Arbeit "Ursprung und Verschiebung. Jerusalem in der detusch-jüdischen Literatur 1848 bis 1948" an der FU Berlin; Ab Herbst 2007 wiss. Assistentin am Department für Germanistik der Universtität Fribourg/Schweiz.

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