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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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Koordinierungsrat





ONLINE-EXTRA Nr. 208

September 2014

Der kleine und sicher hart umkämpfte Markt jüdischer Zeitungen in Deutschland hat Nachwuchs bekommen: Seit Anfang Juli erscheint die "Jüdische Rundschau" als Monatszeitung im Handel, 48 Seiten stark im handlichen Tabloid-Format, gedruckt auf dünnem Papier für 3,70 Euro und einer Startauflage von 7000 Stück. Inwieweit sie sich vor allem neben neben der "Jüdischen Allgemeinen", dem Organ des Zentralrats der Juden in Deutschland, sowie der seit fast zehn Jahren ercheinenden "Jüdischen Zeitung" des russisch-deutschen Verlegers Nicolas Werner wird etablieren können, bleibt freilich abzuwarten. Eigenen Aussagen zufolge sollen konservative, orthodoxe wie auch liberale Strömungen gleichermaßen in den Artikeln berücksichtigt werden. Politisch versteht man sich als "unabhängig", Schwerpunkte sollen u.a. die Israelberichterstattung und Bekämpfung des Antisemitismus sein.

Inzwischen sind nun zwei Ausgaben erschienen, die u.a. jeweils auch mit einem Interview aufwarteten. COMPASS freut sich, Ihnen diese beiden Interviews heute präsentieren zu können. Beide Interviews geben einen interessanten Einblick in Teile des inner-israelischen Spektrums, die hierzulande eher selten im O-Ton zu hören sind, und beide Interviews berühren u.a. die international umstrittene Siedlungs- und Wohnbauproblematik in Israel und den besetzten Gebieten. ONLINE-EXTRA Nr. 207 gibt ein Interview mit dem israelischen Architekten Thomas M. Leitersdorf wieder, der vor allem in dem Projekt Ma?ale Adumim involviert ist. Dieses Interview, geführt von Martin Jehle, erschien in der Erstausgabe der "Jüdischen Rundschau", Nr. 1, Juli 2014.

Das zweite Interview, das Sie in ONLINE-EXTRA Nr. 208 finden (auf dieser Seite weiter unten), präsentiert ein Gespräch mit mit dem Siedlungsaktivisten, Juristen und Ex-Politiker Elyakim Haetzni (geboren 1926 als Georg Baumbach in Kiel, seit 1937 im damaligen Mandatsgebiet) über jüdisch-arabische Koexistenz im Westjordanland, unterschiedliche historische Narrative und vor allem die völkerrechtliche Situation der jüdischen Siedlung im Westjordanland. Mit Haetzni sprachen der israelische Schriftsteller Chaim Noll und der Architekt Ulrich Jakov Becker, abgedruckt in der "Jüdischen Rundschau", Nr. 2, August 2014.

COMPASS dankt Martin Jehle, Chaim Noll und Ulrich Jacov Becker für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe der Interviews an dieser Stelle!

© 2014 Copyright bei den Autoren
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 208


„Deswegen sind wir hier“

Ein Gespräch mit dem Siedlungsaktivisten, Juristen und Ex-Politiker Elyakim Haetzni über jüdisch-arabische Koexistenz im Westjordanland, historische Narrative und die Konsequenzen aus dem Völkerbund-Mandat von 1922.


Ein Interview von CHAIM NOLL und ULRICH JACOV BECKER


Zur Person:

Elyakim Haetzni wurde 1926 in Kiel geboren, konnte mit der Familie noch 1938 ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina emigrieren und so der Schoah entfliehen. Als junger Mann begann er eine Lehrerausbildung und wurde Mitglied der jüdischen Untergrundarmee Hagana. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 wurde er schwer verwundet. In den 50er Jahren studierte Haetzni Jura, später eröffnete er eine Anwaltskanzlei in Tel Aviv. Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurde Haetzni zu einem entschiedenen Befürworter der jüdischen Besiedelung des Westjordanlandes. Seit 1972 lebt er in der Siedlung Kiryat Arba nahe Hebron. Hebron gilt nach Jerusalem als zweitheiligste Stadt des Judentums. Während des Arabischen Aufstandes in Palästina 1936 waren alle jüdischen Bewohner von Hebron vertrieben worden. In den 80er Jahren war Elyakim Haetzni Mitglied der nationalen Partei Techija («Wiederbelebung»), für die er zeitweilig auch in der Knesset saß. Haetzni ist verheiratet und hat vier Kinder.



Herr Haetzni, sie leben seit 1972 in Kiryat Arba, einer jüdischen Stadt in den „Palästinensergebieten“, in unmittelbarer Nachbarschaft von Hebron. Sie gehören zu den bekannten Sprechern der Siedlerbewegung und haben hier vor Ort einiges miterlebt. Hat sich die Situation nach dem Mord an den drei jüdischen Teenagern geändert? Haben Sie das Gefühl, dass sie jetzt angespannter ist als vorher?

Schwer zu sagen. Ich habe mich immer für Koexistenz zwischen Juden und Arabern eingesetzt. Wir leben hier schon lange zusammen. Dennoch kommt mir die Frage: Wie realistisch ist das? Nehmen wir das Beispiel Jerusalem. Ich schrieb darüber schon einige Male, dass Jerusalem eigentlich ein Paradigma des friedlichen Zusammenlebens ist, der Koexistenz. In Jerusalem fragen Sie nicht, wer der Taxifahrer ist, den Sie anhalten, ob Araber oder Jude. Es interessiert keinen, es ist ganz normal. Ich war dort einige Male in Krankenhäusern, im Hadassah Krankenhaus, im Schaarei Zedek Krankenhaus, überall: Der Kranke neben dir ist Araber, die Krankenschwestern, oft auch die Ärzte. Jerusalem ist ein Experiment, 65% Juden, 35% Araber. Man könnte meinen, dieses Experiment sei ein außerordentlicher Erfolg. Und jetzt passiert diese Geschichte.
Ein Reporter erzählte neulich, er hätte die jungen Burschen gefragt, die dort Steine und Molotowcocktails werfen: Warum seid ihr vermummt? Einer hat ihm geantwortet: „Ich arbeite in Westjerusalem und ich kann mein Gesicht nicht zeigen“. Mit anderen Worten, es gibt von ihm zwei. Zwei Narrative. Er nimmt die Vermummung ab und geht und arbeitet in der Rezeption in einem israelischen Hotel und ist sehr höflich – oft höflicher als die Israelis. Und dann kommt er nach Hause, nach Bet Chanina oder nach Schuafat, und ist ein anderer. Das sind zwei Narrative. Derselbe Mensch.
Diese Spaltung beginnt in der Kindheit. Jedes palästinensische Kind lernt in der Schule, dass die Palästinenser die Nachkommen von Jesus und Maria sind. Und von König David. Und sie haben das rote Meer durchschritten. Und sie heißen „Falastin“, also sind sie auch die Nachkommen der Philister. Also sind sie die Nachkommen von David und von Goliath zugleich! Solcher Nonsens wird einfach behauptet. Genauso, wie sie im Koran aus der Opferung Izchaks die Opferung Ischmaels gemacht haben. Und nicht auf dem Berg Moriah, sondern auf dem Jabel Arafat in Arabien.


Damit deuten Sie an, das Verdrehen von Tatsachen sei alte islamische Tradition?


Ja. Aber auch zeitgenössische Taktik. Wenn man hier in Hebron mit Arabern über die arabischen Massaker von 1929 spricht, sagen sie, die Engländer hätten das gemacht. Es gibt einen arabischen Witz, der den Mechanismus erläutert. Sie haben so eine Narren-Figur, einen Schalk und Eulenspiegel, er heißt Dshocha. Dieser Dshocha geht eines Tages über die Straße und die Kinder machen ihn nervös. Da sagt er: „Lauft zum Ende der Straße. Dort steht einer und verteilt Bonbons.“ Und alle Kinder laufen hin. Da sagt Dshocha: „Dort verteilt man Bonbons und ich stehe hier?“, und läuft ebenfalls hin.


Das heißt, er glaubt sich seine eigene Lüge.


Ja. Es gab im Unabhängigkeitskrieg 1948 einen harten Kampf um Deir Yassin, ein arabisches Dorf, aus dem immer wieder Angriffe kamen. Sie hatten jede Menge Waffen, es gab Tote bei der jüdischen Einheit, die das Dorf einzunehmen versuchte. Und auch bei den Arabern. Jahrzehnte später hat die palästinensische Birzait Universität das genauer untersucht, sie fanden, glaube ich, rund 100 Tote bei den Arabern. Aber Dshocha – und diesmal waren es keine Bonbons, sondern Gräuelpropaganda im Namen des Krieges – machte daraus Tausende. Ein Riesengemetzel durch die Juden. Und dann hat Dshocha das selbst geglaubt. Aus diesem Grund begann die Massenflucht der Araber aus den Dörfern und Städten. Panik brach aus: „Die Juden bringen uns alle um.“
Mit einer solchen Mentalität umzugehen, ist eine schwierige Sache. Was können wir tun? Im Fall, dass wir Unrecht haben, sagen wir offen: Das war falsch. Dann beginnen hier harte Diskussionen. Wenn durch uns Unrecht geschehen ist, sagen wir: „Ja, Baruch Goldstein war ein Verbrecher“, und die öffentliche Meinung in Israel verurteilt die Bluttat. Aber wir sagen nicht: „Es ist gar nichts passiert.“ Und wir sagen nicht, „Goldstein war ein Araber“. Doch die andere Seite – da haben wir ein Narrativ-Volk. Wie gehen wir damit um? Wie kann man mit ihnen leben, so lange es so ist?




Was Sie beschreiben, meint ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Wahrheit. Zu Fakten, Zahlen, zu der Art, damit umzugehen.

Es gibt vielleicht tausend Aspekte. Ich spreche jetzt von zweien: Die Palästinenser haben etwas erfunden, was es vorher in der ganzen Welt nicht gab.  Ich meine die Aufteilung in einen „politischen Arm“ und einen „militärischen Arm“ ihrer Organisationen. Die Absicht des militärischen Arms ist Terror, Gewalt. Bei den Nazis waren es entsprechend Einsatzgruppen, SS etc. Haben die Alliierten, nachdem Deutschland besiegt wurde, einen Unterschied gemacht zwischen den Ideologen und den Exekutoren, sagen wir: zwischen Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler? Nein. Rosenberg wurde zum Tode verurteilt wie Himmler. Man hat keinen Unterschied gemacht. Ideologie und ihre bewaffnete Umsetzung – das sind zwei Arme eines Körpers.
Aber die Hamas sagt: Ismael Hanijeh ist der politische Arm. Was wollt ihr von ihm? Er ist nur ein Politiker. Da ist die Hamas-Regierung in Gaza, die vielleicht an Verhandlungen interessiert ist, und dann ist da der militärische Arm, die Is-Ad-Din El-Qassam-Brigaden. Und die eine weiß nicht von der anderen... Und alle Welt spielt das Spiel mit.
Stellen Sie sich vor, damals, 1960, als sich Ben Gurion und Adenauer getroffen haben, in New York, erstes Händeschütteln nach dem Holocaust. Wenn nun in den Schulen in Deutschland – zur Zeit als Ben Gurion sich mit Adenauer traf – die Ideologie der Nazis weiter gelehrt worden wäre, hätte Ben Gurion so etwas getan?


Sie meinen das, was Sie vor einigen Tagen in „Jedijot Achronot“ geschrieben haben: dass man die Mörder bestraft, sofern man sie findet, aber nicht die Anstifter, die Verantwortlichen für die Propaganda, die täglich zum Terror aufruft.


In Deutschland sind ein Adolf-Hitler-Boulevard, eine Schule benannt nach Heinrich Himmler oder ein Sportereignis zum Gedenken an Herman Göring unvorstellbar. Aber in den Palästinenser-Gebieten geht ein Kind durch die Abu-Jihad-Straße, benannt nach dem Planer der Bus Entführung, bei der 37 Israelis getötet wurden, in die Ahmad-Yassin-Schule, benannt nach dem Gründer der Hamas, das Kind spielt bei einem Fußballturnier, das zu Ehren von Abdel Basset Uda stattfindet, der 31 Israelis ermordete, und beendet seinen Tag in einem Jugendclub, benannt nach Abu Iyad, verantwortlich für die Ermordung der israelischen Sportler in München. Das sind die Helden der palästinensischen Kinder, das sind ihre Vorbilder.


Die Propaganda erzeugt die zwei Narrative, von denen Sie sprechen, die Spaltung in den Köpfen der Palästinenser?


Ich lebe hier seit September 1972. Wir haben etliche Male Hilfe von Arabern gehabt in dieser Zeit, immer wieder, mal auf der Straße, eine Panne, ein Unfall, irgendwas. Immer, bei Tag und bei Nacht. Araber haben uns geholfen. Verletzte versorgen, das Auto abschleppen... Geholfen auf jede Art.  Wie ist es möglich, dass es die selben Araber sind. Wie ist das möglich?


Was sie schildern ist eigentlich eine Krankheit, man nennt sie Schizophrenie, Bewusstseinsspaltung. Was Sie beschreiben, ist eine Form von kollektiver Schizophrenie.


Was sich abspielt im Irak, in Syrien, im Jemen, in Ägypten, im Libanon, was ist das, wenn nicht eine Geisteskrankheit? Sogar untereinander, unter Muslimen, dieses ständige Töten, Rauben, Vergewaltigen, Lügen. Zwischen Schiiten und Sunniten. Innerhalb der Sunniten...


Könnte es sein, dass die Palästinenser als Population gespalten sind, solche, die Israel hassen und beseitigen wollen, und andere, die eine Koexistenz bevorzugen?


Diese anderen – bitte, wo sind sie? Wo hört man ihre Stimme?


Man könnte sagen, sie schweigen aus Angst. Ich wohne direkt am Zaun, auch wir haben täglich mit Palästinensern zu tun. Wenn sie zu uns kommen, erzählen sie uns, dass sie eigentlich kein Problem mit Israel haben. Manche sagen sogar, sie würden am liebsten morgen den israelischen Pass nehmen und israelische Staatsbürger werden...


Ja, die meisten!


Wenn wir unter Beschuss sind, Raketen aus Gaza, sagen sie, damit wollen sie nichts zu tun haben, das lehnen sie ab. So sprechen sie, wenn sie bei uns sind. Kann ich mich darauf verlassen?


Sie hätten noch vor einigen Tagen nach Schuafat oder Bet Chanina gehen können, was meinen Sie, hätten Sie von den Leuten gehört? Genau das! Jeder Araber in Ostjerusalem hat so gesprochen und ich war glücklich. Und jetzt... Seit zwei Wochen Unruhen, Drohungen, Gewalt...




JÜDISCHE RUNDSCHAU


Im Verlagshaus J.B.O. Jewish Berlin Online erscheint seit Juli 2014 die Monatszeitung Jüdische Rundschau. Sie ist eine unabhängige Zeitung und versteht sich als pro-israelisch. 



Kritik des Antisemitismus in all seinen Formen ist ein wesentlicher Teil der Zeitung, ebenso wie Texte zu jüdischer Kunst und Kultur, sowie zu Israel und Nahost, Geschichte, Wissen und Literatur. Besonderen Wert legen wir auf unsere Meinungs- und Politikseiten, die pointiert sind und versuchen, nicht um den heißen Brei herumzureden.

Die Jüdische Rundschau freut sich über Textangebote, wenn Sie eine Idee haben, schreiben Sie uns einfach.

Die Zeitung erscheint monatlich. Abonnementpreis: frei Haus jährlich 39 Euro (für Studierende 32 Euro) einschließlich 7% MwSt. Weitere Informationen:
http://juedischerundschau.de/



Herr Haetzni, Sie sind Jurist. In deutschen Medien wird der Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland als „Verstoß gegen das Völkerrecht“ dargestellt. Das ist bereits allgemeine Sprachregelung: Siedlungen und Siedlungsbau gelten als „völkerrechtswidrig“. Könnten Sie in einigen Sätzen Ihre Ansicht zur völkerrechtlichen Situation des Siedlungsbaus darlegen?

Zunächst berufen sich die Gegner des Siedlungsbaus auf Paragraph 49 der vierten Genfer Konvention, welche sich eindeutig auf das bezieht, was die Nazis gemacht haben: die Umsiedlung von Deutschen in Gebiete, die sie zum deutschen Reich annektieren wollten. Es geht um das Umsiedeln von Menschen. Oft noch mit dem Attriubut „compulsive“, „zwangsweise“. Aber die israelischen Siedler wurden nicht von irgendeiner israelischen Regierung mit Zwang hierher gebracht. Umgekehrt: Ich habe die israelische Regierung gezwungen, mich hier zu dulden.


Sie sind also nicht im Zug eines Programms, eines Siedlungsprogramms der Regierung hierher gegangen? Sie sind hier, weil Sie persönlich hier, an diesem Ort leben wollen?

Die sogenannten Siedler sind politisch, historisch, religiös motiviert, aber nicht von der Regierung. Dazu kommt der zweite Punkt: Wer kann sich auf irgendwelche internationale Verpflichtungen stützen? Nur Staaten. Auch die Genfer Konvention spricht von „the High Contracting Parties“, die souveränen Parteien. Das sind Abkommen zwischen Souveränen. Aber es gab weder damals noch irgendwann in der Geschichte, noch bis zum heutigen Tage, irgendeine palästinensische Souveränität.


Welchen Rechtsanspruch – völkerrechtlich gesehen – haben die Juden, hier zu leben?

Die Rechte des jüdischen Volkes fußen auf dem Mandat des Völkerbunds. Es wurde im Juli 1922 vom Völkerbund ratifiziert. Bereits im Jahre 1920 hatten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs auf der Konferenz von San Remo die Aufteilung der Domänen des früheren osmanischen Reiches beschlossen, im Wesentlichen eine Aufteilung zwischen Frankreich und England. Dabei wurde Großbritannien das Gebiet Palästina zugesprochen. Palästina war das Gebiet  vom Ufer des Mittelmeeres bis zur irakischen Grenze.
Palästina wurde den Engländern zugesprochen aus einem einfachen Grund: Weil sich die Engländer schon im Jahre 1917 verpflichtet hatten, in Palästina eine jüdische nationale Heimstätte zu errichten. In dem berühmten Brief des britischen Außenministers Lord Balfour an Lord Rothschild, der Balfour Declaration genannt wird. Woraufhin die Engländer gegenüber dem Völkerbund argumentierten: „Wir haben hier eine Aufgabe, deswegen müsst ihr uns Palästina zusprechen.“


Das heißt, die Engländer begründeten ihr Interesse an diesem Gebiet mit der Balfour-Deklaration?

Damals haben sich alle großen Nationen, Frankreich, Italien, Amerika, Australien, für den Wiederaufbau des jüdischen Staates eingesetzt. Es war ein Ideal der Staatsmänner dieser Zeit. Eine historische Sternstunde. Diese Nationen sahen plötzlich ein, dass man den Juden Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte. Das war der Hintergrund des Palästina-Mandats. Im Jahre 1922 wurde dieses Mandat verkündet, als eine Vollmacht des Völkerbundes an Großbritannien. Und der Wortlaut sagt alles. Zunächst wird festgestellt: Das Mandat ist keine Kolonie. England verwaltet es nur, treuhänderisch, unter Aufsicht eines besonderen Aufsichtsrats im Rahmen des Völkerbunds. Und wer ist das Mündel? Zu wessen Gunsten wird treuhänderisch verwaltet? Auch das legt das Dokument fest: „for the Jewish people“, „zu Gunsten des jüdischen Volkes.
Zur selben Zeit wurde England auch Mandator über den Irak, die Franzosen über Syrien und Libanon. Was steht in diesen Mandaten? Im Mandat für den Irak steht, dass England das Land vorzubereiten hat für die irakische Selbstbestimmung. Also die Aufgabe der Engländer im Irak war, am Ende im Irak einen souveränen Staat für die dort lebenden Völker zu errichten. Und wer war – analog – der „Beneficiary“, der Begünstigte, Berechtigte des Mandats über Palästina? Für wen wurde es eingerichtet? Da steht es, schon im zweiten Absatz der Präambel: „the Jewish people“, das jüdische Volk.
Der Mandator, die Engländer, werden beauftragt, die Balfour-Deklaration zu implementieren, die dort zitiert ist. Hören Sie, was dort steht: „Zu errichten in Palästina eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk“. Und dann kommt die Bedingung: „dass die zivilen und religiösen Rechte der anderen Gemeinden nicht beeinträchtigt werden.“ In anderen Worten: die anderen Bewohner des Gebiets werden „Gemeinden“ genannt, im englischen Original „communuties“. Das einzige „Volk“, das im Mandat erwähnt wird, ist das jüdische Volk.
Weiter, Artikel zwei: „The Mandatory shall be responsible for placing the country under such political, administrative and economic conditions as will secure the establishment of the Jewish national home.“ Das heißt, die Engländer werden verpflichtet, Bedingungen zu schaffen, die das einzige hier erwähnte Volk, die Juden, ermutigt, sich auf dem Gebiet eine „nationale Heimstätte zu schaffen. Wie soll das konkret geschehen? Hier ist es genau erklärt, Artikel sechs: „The Administration of Palestine (...) shall facilitate Jewish immigration under suitable conditions and shall encourage, in co-operation with the Jewish agency, close settlement by Jews on the land, including State lands and waste lands not required for public purposes.“ Also Alijah, jüdische Einwanderung, jüdische Besiedlung. Sogar „close settlement“, dichte Besiedlung, ein dichtes Netz von jüdischen Siedlungen.


Also wurde vom Völkerbund festgelegt, dass “settlement by Jews“ auf  „state land“ legal ist, erwünscht ist.

Ja. Und das ist nicht alles. Jetzt stellt sich die Frage, womit wurde diese Berechtigung zum Siedeln begründet. Damals zählten die Araber in diesem Land ungefähr eine halbe Million, die Juden ungefähr 80.000, die Araber waren eine klare Mehrheit. Da mussten die High Contracting Parties, die Staaten des Völkerbunds, erklären, warum die vom Völkerbund festgelegten Ansprüche der Juden berechtigt waren. Auch das steht in der Präambel. Gleich nachdem die Balfour-Deklaration zitiert wurde, kommt noch ein Paragraph, der lautet so: „Whereas recognition has thereby been given to the historical connection of the Jewish people with Palestine and to the grounds for reconstituting their national home in that country.“ Mit anderen Worten: die Mandats-Erklärung impliziert die völkerrechtliche Anerkennung, erstens: dass es ein jüdisches Volk gibt – was ja nicht alle so sehen, auch manche Juden nicht – und zweitens: dass dieses Volk eine „historical connection“, eine historische Verbindung mit diesem Land hat, und folglich berechtigt ist, es wiederaufzubauen und hier zu leben, wie schon in der Vergangenheit.
Was bedeutet das für die Legitimation der Siedler? Ich sage z.B., wenn die israelische Regierung mich daran hindern will, hier zu leben oder zu bauen, dann muss ich mich darauf besinnen, dass ich hier bin in einer doppelten  Identität: einmal bin ich israelischer Staatsbürger, ich habe die israelische Staatsbürgerschaft, war bei der Armee, zahle Steuern, doch zum anderen gehöre ich zum jüdischen Volk. Und habe direkte Rechte an diesem Gebiet als Mitglied des jüdischen Volkes. Weil der Völkerbund die Rechte nicht dem jüdischen Staat gegeben hat, den es damals noch gar nicht gab, sondern dem jüdischen Volk.
Solange der jüdische Staat aktiv ist im Namen des jüdischen Volkes, ist alles in Ordnung. Der Staat hat hier, was das römische Recht als negotiorum gestio bezeichnet, eine „Geschäftsführung ohne Auftrag“. Und so lange die israelische Regierung sich in diesem Sinne verhält, als Treuhänder für das jüdische Volk – kein Problem. Aber wenn die israelische Regierung für Interessen des Staates Israels – sagen wir: Interessen von Tel Aviv -, die Stadt Hebron aufgeben will, dann werde ich dagegen kämpfen im Namen des jüdischen Volkes.


Nun kommt zwangsläufig die Frage auf, ob das Mandat des Völkerbunds heute noch gültiges Völkerrecht ist.

Da war zunächst ein verwirrender Zwischenfall: die Abtrennung Jordaniens vom Mandatsgebiet auf Ersuchen der britischen Regierung. Schon wenige Monate später. Die Briten wollten ihren Alliierten Abdallah versorgen, den die Saudis aus seinem angestammten Reich vertrieben hatten. Dazu gaben sie ihm drei Viertel des Mandats-Gebiets. Es blieb weiter britisches Mandat, aber die das jüdische Volk betreffenden Paragraphen – jüdische Einwanderung, massive jüdische Besiedlung, die gesamte Präambel wurde in Bezug auf den östlichen Teil des Gebiets „zeitweilig“ außer Kraft gesetzt. Die englische Bitte war: „zeitweilig“. Im englischen Original „to postpone or to withhold application of such provisions of this mandate as he may consider inapplicable to the existing local conditions“. Der Völkerbund gab dem Ersuchen statt, Ostpalästina wurde  abgetrennt...


„Postpone“ heißt „aufschieben“. Das ist keine endgültige Aberkennung der vom Mandat erklärten Rechte. Man sagt im Deutschen: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

Die hashemitische Familie drängte, dem älteren Bruder Faisal wurde Damaskus versprochen, um einen arabischen Staat zu errichten. Das war ein Traum – es gab keinen einzigen arabischen Staat. Verstehen Sie. Es gab vor neunzig Jahren noch keinen einzigen arabischen Staat. Doch in San Remo traten die Engländer Damaskus an Frankreich ab. Faisal war König nur für zwei, drei Jahre, dann kamen die Franzosen, er wurde verjagt, die Franzosen übernahmen Damaskus. Und die Engländer sagten, ok, wenn du nicht König von Damaskus bist, machen wir dich zum König von Bagdad. Der zweite Sohn war Abdallah. Und Abdallah fragte die Engländer, als Faisal versorgt war: ?Was bekomme ich?? Churchill war damals Minister für die Kolonien, er kam her und sofort gab es  arabische Unruhen im Jahre 1919, 1920 – alles wie heute! Brandstiftung, Mord und Krawalle – nichts hat sich geändert. Auch den Reflex gab es schon wie heute, die Juden dafür verantwortlich zu machen.
Und noch etwas spielte den Engländern in die Hände: Es kamen nicht so viele Juden, wie man gedacht hatte. Nicht, weil nicht Hunderttausende gern hergekommen wären. Der Grund war: Es gab nicht genug Geld. Die jüdischen Magnaten waren zögerlich mit der Finanzierung... Wozu brauchten die Juden dann soviel Land? So bekam Abdallah Transjordanien. So wurde das heutige Jordanien geschaffen. Ein Gebiet, einfach abgezweigt von der „nationalen Heimstätte der Juden“. Alles andere, auch Judäa und Samaria, blieb unter dem Mandat, also Siedlungsgebiet des jüdischen Volkes.


Hat es jemals eine UNO-Resolution gegeben, welche die elementaren Aussagen des Völkerbundsmandats, die „Heimstätte der Juden“ betreffend, zurückgenommen oder verändert hat?

Nein. Im Gegenteil. Das Mandat hat das Gebiet, welches dann Königreich Jordanien wurde, verloren. Weil das Mandat dort erlischt, wo eine souveräne Macht errichtet wird. 1947 kam der UN-Teilungsbeschluss und die Staatsgründung Israels. Und damit erlosch das Mandat auch auf dem Gebiet, welches Israel wurde. Da gibt es jetzt einen Souverän. Es blieben Judäa und Samaria, Ostjerusalem und der Gaza-Streifen, Gebiete, die bis heute keine neue Souveränität erlangten. Bis zum Jahre 1948 waren sie, völkerrechtlich gesehen, überhaupt noch britisches Mandat, obwohl der Völkerbund schon nicht mehr bestand. Und dieses Gebiet blieb ohne Denomination in Bezug auf Souveränität.
Das war den Verfassern der Charta der Vereinten Nationen bewusst und es gab 1947 in San Francisco Verhandlungen darüber bei der Gründung der Vereinten Nationen. Es wurde eine neue Einrichtung geschaffen, die „Trusteeship“, Treuhand. Nun stellte sich die Frage, was geschieht mit Gebieten, die nicht umgewandelt wurden in Trusteeships und die keine Denomination haben. Diesem Zweck dient der Paragraph 80 der Charta der Vereinten Nationen. Und da heißt es: „In denjenigen früheren Mandatsgebieten, die nicht umgewandelt wurden in Trusteeships, bleiben die Rechte der relevanten Regierungen und Völker aus der Mandatszeit bestehen.“ Das betraf die Gebiete, in denen das Mandat erloschen war und die keinen neuen Souverän hatten. Also Judäa, Samaria, Ostjerusalem, Gaza. In anderen Worten, nichts, was im Namen der Vereinten Nationen erklärt und getan wird, kann die Rechte, die dem jüdischen Volk im Mandat gewährt wurden, umstoßen. Auch nicht das Recht, im gesamten seit der Abtrennung Jordaniens verbliebenen früheren Mandatsgebiet – und dazu gehören Judaä, Samaria, Ostjerusalem – zu siedeln.
In diesem Sinn gab es noch ein grundsätzliches Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Es ging um die Einführung der Apartheid in einer früheren deutschen Kolonie, die hieß „Deutsch-Südwestafrika“, heute Namibia. Nach dem ersten Weltkrieg wurden den Deutschen alle Kolonien genommen, Südwestafrika ging an Südafrika in Form eines Völkerbund-Mandats, so wie unser Gebiet an die Briten. Und in diesem Mandat stand, dass die südafrikanische Regierung verpflichtet war, die Schwarzen in diesem Mandatsgebiet nicht zu diskriminieren. Nach dem zweiten Weltkrieg führten die Südafrikaner die Apartheid ein, auch in dem früheren Mandatsgebiet, dagegen wurde geklagt, und dieser Fall kam vor den Gerichtshof in Den Haag. Und dort gab man der südafrikanischen Regierung Unrecht, obwohl das Mandat nicht mehr bestand und der Völkerbund aufgelöst war. Aber die Mandate, alle Mandate, gelten als – wie sie in San Remo genannt wurden – „a sacred trust of civilization“, eine heilige Treuhandschaft der Zivilisation. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag berief sich daher auf das de facto nicht mehr bestehende Völkerbundmandat und erklärte in der Urteilsbegründung: Das Gefäß dieser Definition, der Völkerbund, ist aufgelöst, aber der Inhalt bleibt bestehen. Der Inhalt des Mandates! In anderen Worten, wem zugunsten es gegeben wurde und warum. Solange keine neue Trusteeship kommt oder keine neue staatliche Souveränität, bleibt der Inhalt völkerrechtlich verbindlich: das im Mandat erklärte jüdische Siedlungsgebiet, auch Judäa und Samaria, bleibt Siedlungsgebiet.
Deswegen bin ich hierher gegangen! Deswegen sagt der frühere Richter am Obersten Gericht, Edmund Levy, in seinem Bericht an die Regierung über die völkerrechtlichen Aspekte des Siedlungsbaus: Der Souverän, der „beneficiary“, der Berechtigte, ist nach wie vor das jüdische Volk. Auf Grund des Völkerrechts. Weil wir das einzige im Mandat erwähnte Rechte empfangende Volk sind. Und seither – völkerrechtlich gesehen – nichts geschehen ist, was es außer Kraft setzt. Sogar dann nicht, wenn man der Empfehlung der UN-Versammlung vom 29. November 1947, dem sogenannten Teilungsplan, Gewicht beimisst, doch da haben die Araber nicht zugestimmt. Also es gab einen Antrag und keine Annahme.


Das heißt, der Teilungsbeschluss ist sozusagen nicht de facto umgesetzt, nicht durch Umsetzung Recht geworden?

Nein. Er ist, rechtlich gesehen, nie in Kraft getreten. Wir haben das Land bekommen nach einem blutigen Krieg, wo 1% der jüdischen Bevölkerung getötet wurde, 6.500 Tote. Als wenn heute, Gott behüte, 65.000 getötet würden. Stellen Sie sich das vor! Weil die Araber den Teilungsplan bis heute nicht angenommen haben. Natürlich hat ein solcher nicht implementierter Beschluss dann auch keine Gültigkeit. Mit anderen Worten: Keine internationale Verfügung hat bis heute die Gültigkeit des Mandats außer Kraft gesetzt. Und das Mandat gibt uns die Rechte, hier zu siedeln. Und sogar – gesetzt den Fall –, dass es die israelische Regierung nicht will, tun wir das selbst. Als Juden. Als Berechtigte. Deswegen sind wir hier.




DIE INTERVIEWER

CHAIM NOLL und ULRICH JACOV BECKER

Chaim Noll, ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller. 
Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.

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Ulrich Jacov Becker, Architekt, Studium an der Bezalel Acadamy of Arts and Design, Jerusalem.

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Die Interviewer freuen sich über
Reaktionen und Kommentare!
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und/oder COMPASS:

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