Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 29

April 2006

Nachfolgender Beitrag bildete die Grundlage für einen Vortrag in der „Woche der Brüderlichkeit“ in Duisburg am 13.3.2006.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2006 Copyright beim Autor 
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Online-Extra Nr. 29


Schwerpunkte und Schwachpunkte
im jüdisch-christlichen Gespräch

Anmerkungen zu anstehenden Aufgaben



HUBERT FRANKEMÖLLE



„Gesicht zeigen!“ – das ist das Jahresmotto der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit für die „Woche der Brüderlichkeit“ im März 2006. Es ist identisch mit dem Namen der Gruppe des diesjährigen Preisträgers „Gesicht zeigen! Aktion weltoffenes Deutschland“, einer privaten Initiative seit Sommer 2000, als rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten nicht nur im gesamten Bundesgebiet, sondern auch im Ausland für negative Schlagzeilen sorgten. Der Gruppe geht es um mehr Zivilcourage, um mutiges Eintreten für Demokratie, Toleranz, Menschenwürde, die Mitglieder sind gegen jegliche Form von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Auch der zweite Preisträger der diesjährigen Buber-Rosenzweig-Medaille, der niederländische Schriftsteller, Filmemacher und Drehbuchautor Leon de Winter zeigt seit Jahren „Gesicht“. Er mischt sich als Jude – vor allem durch kritische Zeitungsbeiträge ? zu politischen Themen ein: So zum immer wieder aufkeimenden Antijudaismus/Antisemitismus in Europa, zum Irak-Krieg, zum israelisch-palästinensischen Konflikt, zu Fragen der Integration vor allem islamischer Bürger usw.

Die thematischen Aspekte in politischer, gesellschaftlicher, pädagogischer und biblischer Sicht, für die die beiden Preisträger stehen, wurden in lesenswerten Beiträgen im Themenheft des Deutschen KoordinierungsRates (DKR) der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit für das Jahr 2006 vorbildlich entfaltet.1 Ich will sie nicht variierend wiederholen.

Face to face saßen sich am 9. März der Präsident der Vatikanischen Kommission für die Religiösen Beziehungen zum Judentum, Kardinal Kasper, mit den höchsten Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche Deutschlands (u.a. Kardinal Lehmann, Bischof Huber) und die Rabbiner in Deutschland gegenüber. Sie zeigten auch in den Reden ihr dialogisches, wenn auch eigenständiges Profil und „Gesicht“.2 Es war eine bewegende, vom DKR initiierte und organisierte Veranstaltung und – wie die Zeitungen ausnahmslos interpretierten – eine „historische“ Wende im Verhältnis beider Gruppen. Es war nicht nur nach der Schoa das erste Treffen dieser Art im „Land der Täter“, sondern überhaupt in der 2000jährigen deutschen Geschichte von Judentum und Christentum. Der Dialog in Deutschland hat eine neue Dimension gewonnen. Umso mehr ist nach den theologischen Grundlagen zu fragen.

Auch Bibeltheologen haben „Gesicht“ zu zeigen, Positionen anzugeben, sie haben sich einzumischen, damit die theologischen Probleme „sichtbar“ werden, die den christlich-jüdischen Dialog erschweren, die folglich in Zukunft angegangen werden sollten. Dieser Prozess setzt auf jüdischer, aber nicht weniger auf christlicher Seite Bereitschaft zum Umdenken und Neudenken voraus.

Ich will diesen und anderen Fragen in einigen Schritten nachdenken – als Bibeltheologe nicht zuletzt auf der gemeinsamen Basis, den heiligen Schriften Israels, die wir Christen seit Mitte des 2.Jh. n.Chr. „Altes Testament“ zu nennen gewohnt sind, sowie auf der zusätzlichen Basis der heiligen Schriften der Christen, dem Neuen Testament.


1. Das veränderte christliche „Gesicht“ in der christlich-jüdischen Zusammenarbeit

Es ist bekannt, dass die ersten Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit nach dem Krieg 1948 auf Drängen der amerikanischen Besatzungsmacht im „education program“ für die Deutschen in Wiesbaden, Frankfurt, Stuttgart, München und Berlin gegründet wurden. 1949 schlossen sie sich im Deutschen KoordinierungsRat zusammen; z.Zt. gehören 83 Gesellschaften dazu. „Zusammenarbeit“ ist ein nüchterner, aber gleichzeitig das gemeinsame Tun einfordernder Begriff. Er ist weit weniger belastet, als der unter Theologen und zwischen den Kirchen übliche Begriff „Dialog“. „Dialog“ ist ein großes Wort. Er setzt ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe voraus unter quantitativ vergleichbaren Partnern, die ohne Vorbehalte sich um Verständigung bemühen.

Ein solcher Dialog ist in Deutschland aus vielerlei Gründen (noch) nicht möglich. Vor allem das Grauen der Schoa und die fast vollständige Vernichtung des europäischen Judentums und der theologischen Repräsentanten wirken bedrückend bis in die gegenwärtige Zeit hinein, worauf Rabbiner Henry Brandt in seiner die Probleme klar benennenden Rede am 9. März in Berlin eindrücklich hinwies.

Selbstverständlich ist dankbar an die „Reinigung des Gedächtnisses“, um eine Formulierung von Papst Johannes Paul II. aufzugreifen, zu erinnern, der sich die christlichen Kirchen in Westeuropa unterzogen haben. Sie haben in den vergangenen 40 Jahren in zahlreichen Erklärungen über die eigene Schuld sowie über die christliche Identität und ihr Verhältnis zum Judentum nachgedacht.3 Sie haben erkannt, dass der heidnische Antisemitismus im christlichen Kontext durch pseudotheologische Scheinargumente fast durchgehend verstärkt wurde und so erst die Schoa auf christlichem Territorium und mit christlicher Duldung oder sogar Hilfe ermöglichte.

Mit Recht wurde im Herbst 2005 in Tagungen an die vor 40 Jahren im Zweiten Vatikanischen Konzil am meisten umstrittene, aber auch in der Rückschau revolutionär zu nennende Erklärung zum Judentum „Nostra aetate“ (Art. 4) erinnert, ebenso an den vor 25 Jahren verabschiedeten, theologisch nicht weniger wichtigen Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“. Beide großen christlichen Kirchen haben eine massive Kehrtwendung gemacht in ihrem Verhältnis zu den Juden und zum Judentum, dem nach Jahrhunderten der Verachtung endlich seine von Gott gegebene und nie widerrufene theologische Würde zuerkannt wird.4 So bekennt die römisch-katholische Kirche in „Nostra aetate“: „Nach dem Zeugnis der Apostel sind die Juden immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich“ (unter Berufung auf Röm 11,28f). Papst Johannes Paul II. hat diesen Satz vielfach zitiert und variiert,5 ebenso hat Papst Benedikt XVI. ihn am 19.8.05 in der Kölner Synagoge aufgenommen: „Mit dem Apostel Paulus sind die Christen überzeugt, dass ‚Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind’ (Röm 11,29).“ Israel oder die Juden werden von Papst Benedikt XVI. leider expressis verbis nicht genannt. Klarer formulierte es der Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980, in dem die Verfasser nicht nur Paulus zitieren, sondern sein Bekenntnis als bleibend gültig sich zu eigen machen. „Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottesvolk.“6

Noch klarer formuliert ist dieses neue christliche Selbstverständnis in der Erklärung „Juden und Christen in Deutschland. Verantwortete Zeitgenossenschaft in einer pluralen Gesellschaft“ des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken vom 13. April 2005. In dieser Erklärung, gemeinsam von Juden und Christen verfasst, heißt es: „Keine Bundestreue Gottes allein zur Kirche, sondern genauso zum jüdischen Volk. Deshalb sind Christen und Juden gleichermaßen berufen, sich als ‚Volk des Bundes’ zu verstehen und ‚Licht der Völker’ (Jes 49,6; Mt 5,14) zu sein.“7 Dies ist nicht nur eine der wenigen Erklärungen, die Juden und Christen (in 4 Jahren) gemeinsam erarbeitet haben, sondern auch die erste, in denen sie gemeinsam strittige Fragen wie die Christologie und Trinitätslehre oder auch die Unerlöstheit der Welt deutlich ansprechen, wobei unstrittig ist, dass Gottes Bund mit Israel nicht gekündigt ist und es daher Judenmission nicht mehr geben darf.

Dies ist das neue „Gesicht“ der christlichen Kirchen, das für das traditionelle Glaubensverständnis vieler Christen irritierend sein mag. Diese Erklärungen verlangen ein Umdenken, biblisch gesprochen: eine Bekehrung hin zu einer Neubestimmung der christlichen Identität. Begründet ist sie, wie die biblischen Zitate belegen, in den heiligen Schriften der Juden und der Christen. Die Grauen der Schoa, leider erst die Grauen der Schoa haben die Gewissen der Repräsentanten der christlichen Kirchen geweckt. Diese Kehrtwendung wird von jüdischen Gesprächspartnern dankbar festgestellt. So heißt es in der jüdischen Erklärung vom September 2000 aus den USA „Dabru emet – Redet Wahrheit“, die bis jetzt von über 300 Frauen und Männern der jüdischen Gelehrsamkeit und des synagogalen Lebens unterschrieben wurde, im Vorwort: „In den Jahrzehnten nach dem Holocaust hat sich die Christenheit [...] dramatisch verändert.“ Und: Es hat sich „ein dramatischer und unvorhersehbarer Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen.“8

Mit Dankbarkeit kann man feststellen, dass der Antijudaismus in den Kirchen weitgehend verschwunden ist, dass sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seit 1990 ? bei allen Schwierigkeiten ? kräftig entwickeln. Juden und Christen haben sich auf nationaler Ebene in christlich-jüdischen Gesellschaften und Gesprächskreisen, auf Kirchen- und Katholikentagen kennen gelernt und vertrauen einander. Dies gilt auch auf der universalkirchlichen Ebene, wenn etwa der Vatikan und der Jüdische Weltkongress sich gemeinsam für Kinder, die an Hunger und Unterernährung litten, in Argentinien einsetzten oder mit dem International Jewish Commitee on Interreligious Consultations (IJCIC) in Südafrika ein gemeinsames Aidsprogramm entwerfen. Die praktische Zusammenarbeit kann nicht genug gewürdigt werden. Jedoch: Die theologischen Dialogpartner haben – wenn ich es recht sehe – vielfach keine konkreten Ziele mehr. Ist das Gespräch über christlich-jüdische Identität damit an ein Ende gekommen? Was sind die Aufgaben und die Herausforderungen heute und in Zukunft? Wie soll das dialogische „Gesicht“ aussehen?

Mir geht es als katholischen Theologen im Folgenden um die Voraussetzungen, die ich in der jüdischen und christlichen Theologie heute an unerledigten, offenen Fragen für das notwendige Gespräch (auch als Voraussetzung für das Gespräch mit dem Islam) zu finden glaube. Defizite sehe ich nicht nur auf muslimischer Seite im Beharren auf einen fundamentalistischen Offenbarungsbegriff bez. des unabänderlichen Korans, der nicht historisch-kritisch ausgelegt und aktualisiert werden darf. Oder im Festhalten an der absoluten Überzeugung der einzig richtigen Offenbarungsreligion. Ansätze zu solchen Tendenzen sehe ich auch in Judentum und Christentum, die das jeweilige „Gesicht“ unscharf machen und verdunkeln sowie das christlich-jüdische Gespräch der Zukunft erschweren.


2. Unschärfen in der römisch-katholischen Identität

Mit Recht wird die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ und hier speziell der Art. 4 von Juden und Christen auch heute noch als zukunftsweisend verstanden, „da das Juden und Christen gemeinsame geistliche Erbe so reich ist“ und „das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“ Christen haben nicht nur bei der oft behaupteten so genannten „christlichen“ Nächstenliebe zu lernen, dass unsere christliche Ethik eine jüdische ist. Hätten Christen doch ihre angeblich christliche Nächstenliebe, worauf sie so stolz sind, wenn sie sich mit der jüdischen Religion vergleichen, in der NS-Zeit praktiziert!

Von kirchlich höherem Rang im Zweiten Vatikanischen Konzil ist die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ vom November 1964. Auch sie wurde und wird hoch gelobt, etwa was das Verhältnis von allen Gläubigen – Bischöfe – Papst betrifft. In Art. 9 kommen die Konzilsväter auf das Verhältnis (katholische) Kirche ? Israel zu sprechen und formulieren: „Gott hat es gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll. So hat er sich das Volk Israel zum Eigentumsvolk erwählt und hat mit ihm einen Bund geschlossen und es Stufe für Stufe unterwiesen. Dies tat er, indem er sich und seinen Heilsratschluss in dessen Geschichte offenbarte und sich dieses Volk heiligte. Dies alles aber wurde zur Vorbereitung und zum Vorausbild jenes neuen und vollkommenen Bundes, der in Christus geschlossen, und der volleren Offenbarung, die durch das Wort Gottes selbst in seiner Fleischwerdung übermittelt werden sollte.“

Mit Recht stellt der katholische Judaist Karlheinz Müller dazu kritisch fest: „Hier wird ‚Israel’ enterbt. Denn wenn ‚Israel’ nur ‚Vorbereitung und Vorausbild’ gewesen sein soll, dann fand es mit jener ‚volleren Offenbarung’ sein Ende. Damit stellt sich das Vaticanum II auf die Gleise jener christlichen Tradition, die versucht, ‚Israel’ gewissermaßen ‚heilsgeschichtlich’ aufzuwerten, um es dann umso selbstbewußter und entschiedener als in der christlichen Kirche letztlich überholt zu betrachten. Und natürlich sieht man dabei geflissentlich darüber hinweg, daß Jeremia 31,31-34 eine Erneuerung des alten Bundes und keineswegs seine Ablösung meint!“9

Wie hartnäckig solche sublim antijüdischen, traditionellen Sprachmuster (auch bei einem selbst) sind, zeigt eine Äußerung aus dem Jahre 200510 von Kardinal Ratzinger in seinem Buch „Die Vielfalt der Religionen und der eine Bund“, wenn es zum Verhältnis des Christusereignisses und Sinaibundes heißt: „Die Tora des Messias ist der Messias, Jesus selbst. [...] So wird zwar der Sinaibund in der Tat überschritten, aber indem sein Vorläufiges abgestreift wird, erscheint seine wahre Endgültigkeit, wird sein Endgültiges ans Licht gebracht.“ Kennt christliche Ethik nur noch die personalisierte Tora, keine Weisungen, keine Tora zu konkretem Tun mehr? Und vor allem: Ist der Bund Gottes mit Israel „niemals gekündigt“ oder nach Überzeugung des Präfekten der päpstlichen Glaubenskommission doch nur „vorläufig“? Diese Formulierungen sorgten nicht nur bei Juden für Irritationen. Es ist schwierig, internalisierte Vorurteile abzubauen.

Ganz anders liest man in der Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ von Mai 2001 zur theologischen Wertigkeit der mit den Juden gemeinsamen heiligen Schriften. Es heißt in Nr. 22: „Christen können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar.“11

Das bereits genannte Dokument des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim ZdK von 2005 zieht daraus konsequent den Schluss: „Das verweigerte Ja Israels zu Jesus von Nazaret kann auch von Christen als Treue zur jüdischen Tradition gewertet werden. Ebenso werden die jüdische Treue zu den eigenen Heiligen Schriften und die jüdische Erlösungshoffnung in ihrem eigenen theologischen Wert anerkannt.“

Man sieht: Es herrscht Klärungsbedarf in der römisch-katholischen Kirche. Vor allem die Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Jesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“ aus dem Jahre 2000 sorgte für mächtig viel Kritik, Verärgerung und Ablehnung, nicht nur von evangelischer Seite.12 Das Hauptproblem besteht m.M.n. darin, theologische Erklärungen aus der einseitigen Perspektive der eigenen Glaubensgemeinschaft zu formulieren, ohne zu bedenken, dass man – implizit – über die theologische Identität der anderen Glaubensgemeinschaften Aussagen macht. Konkret: Selbstverständlich halten am jüdisch-christlichen Dialog beteiligte katholische Theologen mit den Verfassern der neutestamentlichen Schriften daran fest, dass Jesus Christus das Heil der ganzen Welt, einschließlich der Juden, bewirkt hat, zugleich aber auch daran, dass der Bund Gottes mit den Juden unaufhebbar ist. Das Verhältnis beider Aussagen wird das Zentrum des zukünftig christlich-jüdischen Dialogs bilden, die Antwort wird die Nagelprobe sein.

Dies sah auch Kardinal Kasper beim Treffen Vatikan – Rabbiner in Deutschland am 9.3.2006 so, wenn er formulierte: „Seit dem II. Vatikanischen Konzil hat die christliche Theologie die alte Substitutionstheorie aufgegeben und hält an der bleibenden Gültigkeit des Bundes Gottes mit dem jüdischen Volk fest. Sofort stellt sich dann die Frage, wie sich der alte und der neue Bund, oder wie manche sagen: der erste und der zweite Bund verhalten. Handelt es sich um zwei Bünde oder um einen Bund, oder reicht diese Alternative überhaupt aus, um das komplexe Verhältnis zwischen beiden zu beschreiben? Im Hintergrund dieser Frage steht das noch viel grundsätzlichere Problem, wie ist Weitergeltung des alten Bundes mit der für den neuen Bund grundlegenden universalen Heilsbedeutung Jesu Christi vereinbar (Röm 3,21-31)? Hält man an der universalen Heilsbedeutung Jesu Christi fest, dann stellt sich sofort das äußerst sensible Problem der Judenmission.“13

Der vordergründige, aber nur scheinbar ausschließliche Gegensatz beider Aussagen wird bereits im Neuen Testament reflektiert und angemessen gelöst. Vor allem der Evangelist Matthäus, aber nicht nur er, bindet die Erlangung des Heils an die Erfüllung des Willens Gottes (vgl. das Ende der Rede auf dem Berg in Mt 7,15-27 sowie die Rede vom Weltgericht in 25,31-46).14 Bereits hier wird die Frage, ob innerhalb einer universal angelegten Christologie die Erlangung des Heils am Glauben an Jesus Christus gebunden sein muss, mit Nein beantwortet. Die alles entscheidende Bedingung des matthäischen Jesus lautet: „Wer den Willen meines Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (12,50) und: „nur wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt, wird in das Himmelreich kommen“ (7,21). Ihn erkennen die Juden aus der Tora und ihren Aktualisierungen, wir Christen ebenso aus der Tora und aus der Aktualisierung durch Jesus von Nazareth und den späteren kirchlichen Deutungen.

Mit Recht betet darum die römisch-katholische Kirche seit 1959 (nach weiteren Veränderungen 1970 im Missale Romanum festgelegt) in der Karfreitagsbitte nicht mehr für die „ungläubigen Juden“ und ihre Bekehrung zum christlichen Glauben, vielmehr lautet der Text: „Lasset uns beten für die Juden, zu denen Gott im Anfang gesprochen hat. Er gebe ihnen die Gnade, sein Wort immer tiefer zu verstehen und in der Liebe zu wachsen.“ Christen, die den Text beten, sollten wahrnehmen, dass er kein „durch Christus“ oder kein „durch den Glauben an den Heilstod Jesu am Kreuz“ enthält. Jeglicher Christusbezug fehlt, weil Gottes Treue zu Israel unkündbar ist.15 Wir Christen beten also um die Treue der Juden zu ihrer Glaubenstradition und sehen darin einen Weg zum Heil, ohne unseren eigenen christlichen Glauben ins Spiel zu bringen. Die Lösung können wir nach Paulus Gott überlassen (vgl. Röm 11,33-36). Ebenso gilt nach Paulus, dass die von ihm nach seiner Berufung zum Apostel Jesu Christi verkündete Glaubens-Gerechtigkeit Gottes „aus dem Glauben an Jesus Christus kommt für alle, die glauben“ (Röm 3,22).

Wie die unterschiedlichen Sammlungen der heiligen Schriften im Judentum und Christentum an die jeweilige Glaubengemeinschaft gebunden sind (was unbestritten ist), so gilt das für das Ganze Gesagte auch für die einzelnen Teile und ihren theologischen Inhalt: Auch Glaubensaussagen sind perspektivische Bekenntnisse, auch wenn sie universal die ganze Welt und die ganze Menschheit betreffen; faktische Heilstatsachen sind sie nicht, da auch die Kirche noch auf dem Weg zum umfassenden Heil des Einzelnen, aller Menschen und der Welt ist (vgl. Röm 8,23-24). Jeder Glaube ist konfessorisch, nicht konstatierend. Woran Christen glauben, kann daher nicht im Sinne einer „faktischen“, dem Glauben Anderer „überlegenen“ Heilswahrheit beansprucht werden, deren Folge die Überzeugung von der Heilsexklusivität wäre – mit allen aus der christlichen Geschichte bekannten negativen Folgen für Andersgläubige.

Christlich-jüdischer Dialog führt nicht zur Auflösung der jeweiligen konfessionellen Identität, sondern setzt sie voraus und schärft sie. Ziel ist nicht der Verlust des „Gesichtes“ der jeweiligen anderen Glaubensüberzeugung, ist nicht Indifferentismus und Relativismus, sondern die je eigene Glaubensüberzeugung. Hier besteht, um es pointiert zu formulieren, „nicht der Gegensatz Glaube und Unglaube, sondern hier steht Glaube gegen Glaube.“ (Hanspeter Heinz in einem Brief)

Papst Johannes Paul II., ein zweifellos im christlichen Glauben Gefestigter, wandte sich anlässlich des ersten Besuches eines Papstes in einer Synagoge im April 1986 gegen jegliche „zweideutige Vereinnahmungen“ und erklärte: „Niemandem entgeht, dass der anfängliche grundsätzliche Unterschied in der Zustimmung der Katholiken zur Person und zur Lehre Jesu von Nazaret besteht, der ein Sohn eures Volkes ist. [...] Aber diese Zustimmung gehört dem Bereich des Glaubens an, das heißt, der freien Zustimmung der Vernunft und des Herzens, die vom Geist geleitet werden. Sie darf niemals in dem einen oder anderen Sinn zum Gegenstand von äußerem Druck werden. Das ist der Grund, warum wir bereit sind, den Dialog unter uns in Loyalität und Freundschaft sowie in der Achtung vor den inneren Überzeugungen der einen und andern zu vertiefen, indem wir die Elemente der Offenbarung, die wir als ‚großes geistiges Erbe’ gemeinsam haben (vgl. Nostra aetate, Nr. 4), als wesentliche Grundlage nehmen.“16 Wir sollten nicht päpstlicher als der Papst sein!

Welches „große geistige Erbe“ hatten bzw. haben Juden und Christen gemeinsam? Auch in diesem Komplex gibt es Fragen, die im christlich-jüdischen Dialog aufzuarbeiten sind.


HUBERT FRANKEMÖLLE

Juden und Christen im Gespräch über "Dabru emet - Redet Wahrheit".


Bonifatius Verlag
Paderborn 2005
251 S.
15,90 Euro


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In ihrer Erklärung "Dabru Emet" fordern amerikanische jüdische Verfasser in acht Thesen auf, die tief gehenden positiven Entwicklungen im Christentum und den einhergehenden Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen wahrzunehmen und anzuerkennen. Im vorliegenden Band versuchen namhafte Referenten, alle seit Jahren im christlich-jüdischen Dialog engagiert, einen Beitrag zu den einzelnen Thesen zu leisten und Impulse zu setzen.



3. Die Bedeutung der hebräischen Bibel für den christlich-jüdischen Dialog

Will der christlich-jüdische Dialog nicht auf der Stelle treten und soll er nicht in alten Gleisen weitergeführt werden, ist nach der Bedeutung der hebräischen Bibel (Tenach) zu fragen. Von der Antwort ist das Selbstbewusstsein evangelischer Christen stark betroffen, weit mehr noch aber das der jüdischen Gläubigen, während ich auf katholischer Seite hier primär eine wissenschaftssgeschichtliche Entscheidung der Alttestamentler sehe.

Die Erklärung für diese These formuliert der evangelische Neutestamentler Nikolaus Walter wie folgt: „Das Alte Testament der christlichen Kirchen ist die Septuaginta [die spätere christliche Sammlung der heiligen Schriften Israels in Griechisch: H.F.]. Die Reduzierung des Alten Testaments auf den Umfang der ‚Hebräischen Schriften’ durch einige Reformationskirchen ist eine kirchlich-theologische Fehlentscheidung, die auf das humanistische Wissenschaftsideal der Reformationszeit zurückgeht.“

Aus dieser zutreffenden Feststellung folgt: Der gegenwärtige christlich-jüdische Dialog findet „um des lieben Friedens willen“ (?) auf einer unangemessenen Textbasis statt, wenn man den Dialog (nur) auf der Basis der hebräischen heiligen Schriften Israels führt. Man geht nämlich von einer Entscheidung der Rabbiner für die hebräischen heiligen Schriften um und nach der Wende vom 1. zum 2. Jh. aus. Ebenso geht man christlicherseits von der Entscheidung der reformatorischen Theologen im 16. Jh. aus. Die hebräischen heiligen Schriften der Juden sind Grundlage aller deutschen Übersetzungen, auch der allerneuesten evangelischen, der „Bibel in gerechter Sprache“, die am Reformationsfest in diesem Jahr erscheinen soll. Die römisch-katholischen Bibelausgaben haben zusätzlich die ursprünglich in Griechisch geschriebenen jüdischen Bücher Tobit, Judit, 1-2 Makkabäer, Weisheit Salomos, Jesus Sirach und Baruch aufgenommen. Im Laufe der Jahrhunderte bevorzugte die römisch-katholische Kirche die lateinische Übersetzung der Vulgata, die als Neovulgata 1979 revidiert wurde und seit letzten Herbst bei dem Bemühen um eine revidierte Neuübersetzung der so genannten „Einheitsübersetzung“ für ökumenische Verstimmung zwischen der (katholischen) Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland sorgt.18 Was fehlt, ist eine deutsche Übersetzung der heiligen Schriften Israels in Griechisch, eine Septuaginta deutsch.

Ohne Zweifel: Judentum und Christentum sind unauflösbar miteinander verbunden durch die heiligen Schriften Israels in Hebräisch und einigen wenigen jüngeren Teilen in Aramäisch. Sie bildeten die Bibel Jesu und der ersten Jünger. Sie war aber nicht mehr die Bibel der Griechisch sprechenden Juden in Palästina und in der weiten Dispora, die etwa Vierfünftel der jüdischen Bevölkerung stellte. Der große jüdische Theologe Philon von Alexandrien konnte kein Hebräisch. Die heiligen Schriften Israels in Hebräisch waren auch nicht mehr die Bibel der Verfasser der neutestamentlichen Schriften, ebenso nicht der christlichen Theologen ab dem 2.Jh., als die rabbinischen Theologen allein die hebräischen heiligen Schriften als normativ erklärten. Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften und die Kirchenväter lasen die heiligen Schriften Israels in Griechisch. Das unauflösliche „Band“, von dem in „Nostra aetate“ Art. 4 gesprochen wird, ist demnach etwas bunter als in der Regel im christlich-jüdischen Dialog und vor allem dezidiert bei evangelischen Bibeltheologen, die z.T. im Dialog engagiert sind, angenommen wird.

Das Problem lautet: Für das christlich-jüdische Gespräch auf der Basis des Tenach, der Sammlung der heiligen Schriften Israels in Hebräisch, ist es von großem Vorteil, von einem generellen Einverständnis zum Textbestand der hebräischen heiligen Schriften ausgehen zu können. Aus der jeweiligen jüdischen und christlichen Glaubensperspektive werden diese Schriften unterschiedlich gelesen. Die hebräische Textbasis impliziert andererseits aber einen großen Nachteil. Und dies aus zwei Gründen:

Zum einen: Bei christlichen und jüdischen Bibeltheologen, Historikern und Religionswissenschaftler gehört es zur Allgemeinbildung, dass gesagt wird: Das Judentum hat sich in seiner nachbiblischen Form des rabbinischen Judentums erst seit Jochanan ben Zakkai, dem Gründer des Lehrhauses von Jabne, zum normativen Judentum im Festhalten an den hebräisch-aramäischen Traditionen geformt. Rabbi Jehuda Hanasi schuf um 200 n.Chr. das jüdische Grunddokument, die Mischna als Basis des Talmud. In eben dieser Zeit entwickelte sich aber auch das Christentum zu der glaubensgeschichtlich wirksam gewordenen Gestalt. Seit einigen Jahrzehnten diskutiert man im englischsprachigen Bereich, neuerdings vermehrt auch in Deutschland die Frage nach wechselseitigen Beeinflussungen.19 Traditionell geht man nur vom unübersehbaren Einfluss des Frühjudentums auf das frühe Christentum aus und spricht folglich von einer Asymmetrie im Verhältnis von Judentum und Christentum.

Kardinal Kasper, der Vorsitzende der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, brachte am 9. März in Berlin den gegenwärtigen Erkenntnisstand wie folgt auf den Punkt: „Der Einfluss und die Bedeutung des Judentums für das Christentum, seine Geschichte, seine Liturgie, für die biblischen Studien, aber auch für die Literatur und Philosophie sind mehr oder weniger bekannt. Weniger bekannt ist der Einfluss, den das Christentum auf das Judentum hatte. So weiß man heute, dass nicht nur die christliche Liturgie von der jüdischen, sondern auch die des späteren Judentums von der christlichen beeinflusst worden ist. Hier harrt noch vieles der historischen Aufarbeitung.“20 Dem stimme ich nachdrücklich zu.

Der jüdisch-christliche Dialog hat nur dann eine theologisch tragfähige Basis und eine Zukunft, wenn man dieses historisch „in Abhängigkeit wie in gegenseitiger Abgrenzung voneinander“ sich entwickelnde „Gesicht“ und die „geschichtlich wirksam gewordene Gestalt“ (W.Kasper) beider Religionen bis heute wahrnimmt. – Tut man dies nicht, darf man den Muslimen keinen Vorwurf machen, die zwischen dem Koran und den die heutige islamische Religion prägenden nachkoranischen Phasen in der Regel nicht unterscheiden, vielmehr behaupten, alles sei schon im Koran unabänderlich festgelegt.

Ich hatte zwei Gründe angekündigt, die das christlich-jüdischen Gespräch erschweren, wenn man es nur auf der Basis der hebräischen heiligen Schriften Israels führt. Sprachgeschichtlich entwickelte sich das Frühjudentum spätestens seit der Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen (333: „Issus Keilerei“) und Ägyptens wie des gesamten Vorderen Orients in Hebräisch/Aramäisch und Griechisch. Entsprechend gibt es seit Ende des 4.Jh. v.Chr. einen breiten doppelten Literaturstrom in diesen Sprachen;21 dies bezeugen die vorhin genannten zahlenmäßig unterschiedlichen Fassungen der Sammlungen der heiligen Schriften Israels.

Vergleicht man die hebräischen heiligen Schriften mit den heiligen Schriften im Neuen Testament, gibt es nur einen breiten Graben, über den keine Brücke, sondern nur schwankende Stege führen. Versucht man auf dieser Textbasis einen Dialog, muss es zu den unter Juden und Muslimen weit verbreiteten, bekannten groben Missverständnissen in der Christologie wie in der Trinitätslehre führen, so als würden Christen zwei bzw. drei Götter anbeten.

Meine These lautet: In einem auf Zukunft hin tragfähigen Dialog haben vor allem Juden, aber auch wir Christen im christlich-jüdischen Dialog das Jahrhunderte alte, damals von den meisten Juden gelebte Griechisch sprachige Judentum als theologisch angemessenes Glaubensmodell anzuerkennen, auch wenn es die Rabbiner später abgelehnt haben.

Die Folge für einen tragfähigen zukünftigen jüdisch-christlichen Dialog wäre demnach die Erweiterung der einlinigen Literaturwerdung „hebräisch/aramäische heilige Schriften Israels – Jesus ? rabbinisches Judentum“ zu einer zweifachen Literaturwerdung der vorneutestamentlichen jüdischen Glaubensüberzeugungen, indem man neben der genannten auch die in Griechisch verfassten heiligen Schriften Israels mit ihrer Nachgeschichte im Griechisch sprachigen Urchristentum der christlichen Juden und Nichtjuden zur Grundlage macht. Der zukünftige Dialog hätte ein Dialog auf den beiden Sprachebenen Hebräisch und Griechisch zu sein. Will man die neutestamentlichen Schriften angemessen verstehen, ist in der Perspektive ihrer Verfasser der Dialog mit den heiligen Schriften der Juden in Griechisch zu führen; nur diese wurden nämlich (bis auf wenige Ausnahmen) umfassend rezipiert und zitiert.

In aller Klarheit sei betont: Die von Christen geglaubte zentrale, von Juden abgelehnte heilsgeschichtliche Einmaligkeit Jesu von Nazareth bleibt unter dieser sprachlichen Voraussetzung auch in Zukunft ein nicht aufzuhebender Unterschied. Nur liegen die Grenzen nicht dort, wo sie traditionell gezogen werden. Beachtet man das griechische Judentum als sprachliche und somit auch als theologische Voraussetzung für die griechischsprachigen christlichen Juden, könnte die von Christen geglaubte singuläre Gottesbeziehung Jesu von Nazareth auch für Juden, zumindest für jüdische Theologen intellektuell nachvollziehbarer werden,22 ohne dass sie Christen werden. Dies sei im Folgenden mehr angedeutet als erläutert.


4. Jesus als das „Gesicht“ des Gottes Israels

Christen glauben an den einen Gott in drei Personen, wie es auf den ökumenischen Konzilien von Nizäa (325) und Konstantinopel (381) nach vielen Kontroversen formuliert wurde. Der lateinische Begriff „persona“ bedeutet „die Maske“. Entsprechend dem Verbum „personare“ in der Bedeutung von „hindurchtönen, verkündigen“ wird damit ein Medium genannt, durch das etwas oder einer vorgestellt und offenbart wird. Das lateinische persona entspricht dem griechischen prosopon. Beide Begriffe sind Übersetzungen des hebräischen panim: Angesicht. Wo der Begriff im Kontext von Aussagen über Gott auftaucht, liegt eine bildliche Ausdrucksweise vor, von der die hebräische Bibel voll ist, um mit verschiedenen Metaphern die Wirkungskräfte des Gottes Israels zu umschreiben (wie Geist, Herrlichkeit, Name, Engel, Segen, Weisheit, Wort und Angesicht).23 Da man nur metaphorisch, in Bildern von Gott und seinem Wirken reden kann, heißt es etwa am Schluss des auch bei Christen bekannten Aaronitischen Segens: „Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Heil“ (Num 6,25f; vgl. auch Ps 4,7; 31,17; 67,2). Gottes „Angesicht“ kann auch als Subjekt im Satz erscheinen, wenn er etwa dem Mose verspricht: „mein Angesicht wird mitgehen“ (Ex 33,14), oder dem Propheten Jesaja wird offenbart: „sein Angesicht hat sie [die Söhne Israels] errettet“ (Jes 63,9). „Wo JHWHs Angesicht als selbsthandelndes Subjekt in der Geschichte [...] begegnet“, wird „die persönliche Anwesenheit des dadurch handelnden Gottes zum Ausdruck“ gebracht.24

In diesem Sinn kann der Apostel Paulus in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth von Jesus Christus als „Gottes Ebenbild“ sprechen und davon, dass die Christen erleuchtet wurden „zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ (2 Kor 4,4.6) Wichtiger als diese beiden Metaphern sind etwa im Neuen Testament die Bekenntnisse zu Jesus als „Wort Gottes“ oder auch „Weisheit Gottes“.
Christen glauben nicht an drei Götter, sondern an den biblisch bezeugten einen einzigen Gott, der sich in drei personae, prosopa, hypostaseis, middot, Subsistenzen, Wirkweisen geoffenbart hat: als Vater, Sohn und Geist.

Das theologische Problem, um das es im Ansatz geht, formulierte in einem ökumenischen Gespräch der orthodoxe Rabbiner, Marc Stern, wie folgt: „Habt ihr Christen nicht den Glauben an den einen einzigen Gott aufgegeben? Nach dem alttestamentlichen Schema (5. Mose 6,4), dem Grundbekenntnis jüdischen Glaubens, ist Gott ‚ein einziger’ Gott. Ihr aber glaubt an einen Gott mit drei verschiedenen ’Personen’ – Vater, Sohn und Heiliger Geist.“ Darauf antwortete sein Gesprächspartner, der evangelische Theologe, Professor Horst Georg Pöhlmann: „Das ist eine Fehlübersetzung des lateinischen Begriffs ‚persona’, der nach altkirchlichem Verständnis nicht mit ‚Person’, sondern mit ‚Besonderheit’ zu übersetzen ist (Boethius). Mit den drei ‚personae’ (Prosopa, Hypostaseis) sind nicht drei Personen Gottes, sondern drei Besonderheiten der einen göttlichen Person gemeint wie die drei Äste an einem Baum. Dreieinigkeit Gottes heißt, der eine Gott hat drei Begegnungsweisen als Vater, Sohn und Geist. Er besteht aber nicht aus drei Subjekten oder Göttern. Warum offenbart sich der eine Gott in drei verschiedenen Gestalten? Weil er ein geschichtlicher Gott ist, kein abstrakter Gott.“25

Es geht beim Reden über Gott in bibeltheologischen Kategorien nicht um Wesensspekulationen, sondern darum, wie man den geschichtlich wirksamen Gott in unterschiedlichen Lebenssituationen erfahren kann. Gemäß den vielfältigen lebensgeschichtlichen Erfahrungen ist die Bibel voll unterschiedlicher Gottesbilder (Gott als Hirte Befreier, Kämpfer, Arzt, Heiler, Schöpfer ...). Auch christliche systematische Theologen denken seit vierzig Jahren wieder verstärkt heilsökonomisch, wie der Fachbegriff heißt. So redete auch Jesus von Gott (zur Zitation des Schema Israel vgl. Mk 12,29f). Zu diesem Verständnis der trinitarisch wirkenden Gottes bemerkt der orthodoxe Rabbiner: „Diese Sicht der Dreieinigkeit Gottes ist mir neu. Ich dachte immer an einen Gott mit drei Köpfen, nicht mit drei Aspekten.“26

Ich kann hier nicht die bei Juden und Moslems, aber auch bei Christen vorhandenen groben Missverständnisse und Verzeichnungen beim Glauben an Gottes Handeln durch und in Jesus Christus (Christologie) und in der Trinität aufarbeiten. Dazu müsste die Entwicklung von Gottesbildern im hebräischen und griechischen Judentum entfaltet werden mit der Vorstellung verschiedener Wirkweisen des einen Gottes, die wie Gott selbst präexistent gedacht wurden. Außer an die Weisheit (vgl. Spr 8,22-36; Sir 24; Weish 7,22-8,1) und das „Wort“ (vgl. vor allem Philon von Alexandrien) ist auch an den präexistenten Messias und Menschensohn oder an die präexistente Tora zu erinnern. 27 Insgesamt wäre jüdisch vor allem die Frage zu beantworten, wie Gott durch und in Propheten handelt. Das Grundproblem lautet auch heute: Wie kann man von Gott, von seinem Handeln in den verschiedenen Erfahrungsbereichen sprechen? Wie haben Menschen früher in hebräischen und griechischen Kategorien davon gesprochen? Will man im christlich-jüdischen und im christlich-jüdisch-islamischen Dialog einander verstehen, muss man diese verschiedenen Denkmodelle kennen. Dazu sollte man verstärkt Gesprächskreise anbieten.

In einem weiteren Punkt ist summarisch ein innnerchristliches Problem anzusprechen, um das in den vergangenen Jahren vor allem unter dem Stichwort „kanonische Exegese“ gerungen wird, ohne das Verhältnis Christentum – Judentum zu problematisieren. Es ist aber eingeschlossen. Kanonische Exegese wird in der Regel als „biblische“ Exegese, das Alte und Neue Testament umfassende Auslegung verstanden, kann aber auch allein auf die Sammlung der neutestamentlichen Schriften in ihrer Endgestalt im Kanon verstanden werden. Die hermeneutischen Probleme sind unterschiedlich. Im Hinblick auf den christlich-jüdischen Dialog sei das Problem innerneutestamentlich konkretisiert: Genügt der übliche Rückgriff aller christlichen Kirchen auf Röm 9-11? Stehen dem nicht andere gewichtige exklusive und universalistische christologische Aussagen im Neuen Testament entgegen? Was berechtigt die einseitige Zitierung von Röm 9-11?


5. Röm 9-11 und die Einheit des Neuen Testaments

Die christlichen Kirchen haben ohne Ausnahme ihr erneuertes Verhältnis zum Judentum nach der Schoa in vielen offiziellen und offiziösen Verlautbarungen ausnahmslos mit der paulinischen Konzeption in Röm 9-11 begründet. Danach sind die Christen aus den Völkern/“Heiden“ – so die übliche Auslegung ? als wilde Schösslinge in Israel als edlen Ölbaum eingepfropft (vgl. Röm 11,16-24) oder auch – um das bei Paulus beliebte ekklesiologische Bild vom „Leib Christi“ (vgl. 1 Kor 12; Röm 12) aufzunehmen – „einverleibt“ worden. Und ebenso gilt für alle Kirchen als Voraussetzung: Der Bund Gottes mit Israel und somit auch zum heutigen Judentum ist nie aufgekündigt worden (vgl. Röm 9,4; 11,29); dies besagt die Rede vom oft zitierten „niemals gekündigten Bund“, die durch Papst Johannes Pauls II. kirchlich sanktioniert wurde. Faktisch ist damit durch die Rezeption eine schwierige hermeneutische Frage für die gegenwärtigen christlichen Theologien geklärt.

Die Begründungen für diese Lesart – entgegen den Jahrhunderte langen antijüdischen Deutungen des Neuen Testamentes – liegen zweifelsohne in der Wahrnehmung dessen, was die „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac) den Juden durch Christen angetan hat oder durch antisemitische Regime, etwa in der NS-Zeit, stillschweigend antun ließ. Können polemische Verformungen in Lehre und Verhalten der christlichen Kirchen jene Wahrheit enthalten, „die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (Vatikanum II, Dei Verbum 11)? Unter dem Eindruck der Schoa musste auch die ohnehin nicht objektiv zu betreibende historisch-kritische Exegese ihre hermeneutischen Voraussetzungen neu bedenken, wollte sie kontextuell die Bibel lesen.29 Die Konsequenz für die christologische Verkündigung lautet nach Helmut Merklein: „Mit dem Christuszeugnis sollten Christen gegenüber dem Judentum vorsichtig sein. Die Schuld, die Christen und christliche Kirchen in Jahrhunderten auf sich geladen und in diesem Jahrhundert ins Unermeßliche gesteigert haben, muß den Mund verstummen lassen. Der Christus, den Christen verkünden, ist für Israel auf lange Sicht, vielleicht sogar für immer, nicht akzeptabel. Die Schuld gegenüber dem Judentum hat christologische Dimension.“30 Die eventuelle inhaltliche Differenz zwischen möglichen antijüdischen Stellen im Neuen Testament oder Stellen, an denen urchristliche Theologen sich an ihre jüdischen Glaubensbrüder wenden (vgl. die Konzeption des Lukas in der Apg, der zufolge Paulus mit seiner Predigt immer zuerst in der Synagoge beginnt) und der gegenwärtigen Israel-Theologie der christlichen Kirchen ist auszuhalten – im Wissen um die oft für Juden tödliche Auslegungsgeschichte bestimmter biblischer Stellen.31 Historisch-kritische Exegese hat aber im Wissen um das eigene Vorverständnis den historisch in den Texten der Bibel vorgegebenen Textsinn zu erheben, sie hat ihn sich nicht von gegenwärtigen Überzeugungen präjudizieren zu lassen.

Mit Recht wird darum auch in jüngster Zeit verstärkt die Frage gestellt, ob denn die alleinige Berufung auf Röm 9-11 theologisch ausreichend ist. Dies wäre in der Tat ein Rückfall in Biblizismus und Eklektizismus; letzterer ist aufgrund seiner Einseitigkeit immer häretisch (hairesis = Auswahl). So lässt sich der Verweis auf Röm 3,21-31 mit der Behauptung der universalen Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu32 (vgl. auch Röm 8,32) in seiner Stichhaltigkeit relativieren, da im Gegensatz zu der früher bei Dogmatikern üblichen „Steinbruchexegese“ die moderne Sprachwissenschaft den einzelnen Vers als Teil des übergreifenden Textes als primär die Semantik bestimmenden Faktor gelehrt hat, folglich Röm 3,21ff kontextuell nicht nur mit Röm 9-11 als kompatibel zu deuten ist, sondern auch schon mit der Grundthesen in Röm 1,16f und Röm 4 (Abraham als „Vorvater“ aller Menschen aufgrund seines Glaubens). Die Lösung kann hier offen bleiben.

Außerdem wird in den vergangenen Jahren immer intensiver diskutiert, ob Paulus in seinem letzten und wichtigsten Brief an die Römer eine „Einpfropfung“ der Nichtjuden in Israel als den edlen Ölbaum vertritt oder ob mit dem Ölbaum nicht eher Abraham und die Väter gemeint seien, so dass die Nichtjuden an den an sie ergangenen „Verheißungen“ partizipieren, darüber hinaus JHWH aber einen besonderen Bund (am Sinai) mit Israel geschlossen hat. Nach seiner Berufung zum „Apostel Jesu Christi“ rezipiert Paulus nicht mehr die Sinai-Traditionen, sondern – modern formuliert – die der Priesterschrift, d.h. Gen 12-18, mit dem ungeschuldeten Gnaden-Bund für alle Menschen (vgl. bes. Gen 12,3; 15,6), die wie Abraham glauben. Auch dieses Evangelium hält Paulus ausdrücklich für „gemäß den Schriften“ (vgl. Röm 1,2; 3,21; 15,4; 16,26) bzw. er entwickelt es sogar aus den Schriften. Jesus Christus ist in dieser Perspektive „Ziel des Gesetzes“ (Röm 10,4) – für jeden, der im Sinne Abrahams und des Paulus glaubt.34 Die Angemessenheit auch dieser Lesart kann hier offen bleiben.

Die neutestamentliche Vorgabe wird noch komplizierter, wenn Karlheinz Müller vor allem im Gespräch mit Franz Mußner in seinem jüngsten profunden Beitrag zu Röm 9-11 Recht hat, der nach der Aufdeckung der ohne Zweifel zahlreichen nach menschlichen Maßstäben logischen „Brüche“ in Röm 9-11 entgegen vielen exegetischen Deutungen und entgegen der kirchlichen Rezeption die These formuliert: „Was sich stattdessen aus Röm 9-11 ergibt, ist die harte Forderung einer Judenmission“; dies ist der „unzweifelhaft vorgegebene Imperativ“ des Paulus, der jedoch im Kontext der Schoa von den Christen aufzugeben ist.35 Hier ist nicht der Ort, auf diese Lesart, die auch der eigenen widerspricht, zu antworten.

Da nicht der Römerbrief allein Kanon des christlichen Glaubens ist, sondern das ganze Alte und Neue Testament, ist im Hinblick auf das Verhältnis von Judentum und Christentum in der Deutung der Verfasser der Schriften im Neuen Testament auch auf die Konzepte mit einer kosmologischen (vgl. Eph 2,14-18; Kol 1,15-18) oder exklusiven Christologie (vgl. etwa Joh 14,6; 1 Tim 2,5) zu verweisen. Nicht immer lassen sich wie im Johannesevangelium und im Kontext seiner Gesandtentheologie (22mal: „der Vater, der mich gesandt hat“) die Stellen im Konzept der christologischen Theozentrik kontextuell erklären, was der Singularität Jesu als Logos Gottes (Joh 1,1-18) keinen Abbruch tut. Alle diese Formulierungen sind zum einen historisch-kritisch aus der konkreten Sprechsituation der Verfasser und ihrer Adressaten zu interpretieren, zum anderen handelt es sich immer um Sprechakte konfessorischen Redens, wobei deren Dignität (analog der Frage, welche Schriften aus der Vielzahl der umlaufenden Texte in den christlichen Gemeinden im 2.Jh. verdienten, Kanon/Maßstab/Norm für den christlichen Glauben zu werden) auch durch die Rezeption in christlichen Gemeinden bestimmt wurde. Diese Rezeptionsgeschichte gehört bis heute zur theologischen Wahrheit dazu.

Sie erinnert den neutestamentlichen Glauben an die Universalität des erlösenden Wirkens Gottes, d.h. des Gottes Israels und aller Völker, im sprachlichen und nichtsprachlichen Handeln Jesu Christi sowie durch Tod und Auferweckung (vgl. 2 Kor 5,17-20). Bei aller sprachlichen Variabilität und bei allen Differenzen in den Konzepten des Neuen Testaments ist dies Ursache und Fundament des christlichen Glaubens. Darin unterscheiden Christen sich bleibend von Juden. Diesen Glauben haben Christen vor allen Völkern „bescheiden und ehrfürchtig“ als ihren Glauben zu bezeugen, wenn sie danach gefragt werden (so 1 Petr 3,15); ansonsten ist es ihre Aufgabe, diesen Glauben im zwischenmenschlichen Tun zu be-glaubigen, denn allein daran werden sie – so der Evangelist Matthäus (vgl. Mt 7,15-27; 12,46-50; 25,31-46) und Paulus (vgl. Röm 2,1-11) ? von Gott beurteilt.


6. „Gesicht zeigen“ im christlich-jüdischen Dialog

Die christlich-jüdische Zusammenarbeit muss sich über ihre theologischen, geistlichen Grundlagen im Klaren sein. Dazu gehören die Bedingungen ihrer Entstehung nach der Schoa, aber auch der Jahrhunderte lang gepflegte Antijudaismus der christlichen Kirchen, der den neuzeitlichen rassistischen Antisemitismus erst ermöglichte. Nur wer seine Herkunft kennt, kann Zukunft gestalten. Oder um den alten, bekannten Spruch jüdischer Weisheit zu zitieren, der sehr bewusst auch über der Gedenkstätte Jad waSchem in Jerusalem steht: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Christlich-jüdischer Dialog allein auf der Basis humanitärer Einstellung ist lobenswert, ohne die sie tragende theologische Grundüberzeugung steht sie aber ständig in Gefahr, ihren Anker zu verlieren.

Will man das Christentum heute verstehen, hat man sich an den Ursprung zu erinnern, als die Jesusbewegung ihr „Gesicht“ bekam. Damit ist theologisch der Weg zum vielgestaltigen, lebendigen Judentum zur Zeit Jesu sowie zu den heiligen Schriften Israels und der christlichen Kirchen gewiesen. Den haben Christen zukünftig verstärkt zu gehen. Nur so lernt man die wirklichen Differenzen im Glauben kennen, die unaufhebbar zwischen Juden und Christen stehen. Sie sind nicht zu verschweigen und zu verharmlosen. Nur wer seine eigene Überzeugung kennt und sich zu ihr bekennt, nur wer die Überzeugung des Anderen kennt, kann den Dialog seriös führen und „Zusammenarbeit“, die den Namen verdient, praktizieren.

Das Problem heute ist, dass viele Christen, auch Akademiker, nicht mehr ihren christlichen Glauben kennen; er ist ihnen gleichgültig geworden. Was für den innerchristlichen Dialog etwa zwischen evangelischer und katholischer Kirche als in hohem Maße belastend empfunden wird, dass ihren Mitgliedern die verschiedenen Glaubensüberzeugungen gleich gültig erscheinen, kann ich in demselben Maße für das christlich-jüdische Gespräch noch nicht sehen; hier geht es primär um Missverständnisse in der Christologie und Trinität, die den Dialog belasten. Will man gegenseitig tolerant sein, setzt dies zumindest ein Grundwissen voraus, da Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf.

Die christlichen Kirchen leiden gegenwärtig unter einer Identitätskrise, sind daher für Außenstehende nicht attraktiv. Was Kardinal Kasper am 22.2.06 bei einer Vorlesung an der Universität Regina Apostolorum in Rom zum innerchristlichen Dialog formulierte: „Niemand will von einem gesichtslosen Ganzen absorbiert werden“37 , gilt auch für den jüdisch-christlichen Dialog, wobei es auch hier nicht um die Vereinnahmung des Einen durch den Anderen geht. Juden wie Christen haben sich jeder für sich ihrer Identität zu vergewissern, um Anderen gegenüber Rechenschaft über ihren Glauben geben zu können (vgl. 1 Petr 3,15). Wir Christen, vor allem in Deutschland, haben das Recht, ungefragt den Juden unseren Glauben zu verkündigen, verspielt. Wohl haben wir unseren durch Tun beglaubigten Glauben zu leben. Dabei sollten wir Christen uns verstärkt an das mit den Juden gemeinsame Erbe erinnern, die Wege der Trennungen kennen, aber auch die unauflöslichen Einheitsbande. Nur wenn Juden wie Christen in gegenseitigem Respekt und Wissen um die je anderen Glaubensüberzeugungen ihr eigenes „Gesicht“ wahren, können sie gemeinsam den Auftrag an die Welt erfüllen, indem sie sich „gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen“.38 Christen können den Juden dies nur in der Gebrochenheit des Christentums in der Schoa anbieten. Sie müssen es tun, wenn sie in der Nachfolge Jesu, dem Juden aus Nazareth, bleiben wollen; schließlich ist er für sie das „Gesicht“ Gottes. Jenseits aller Reflexion auf die je eigene theologische Identität sind Christen mit den Juden gemäß Zef 3,9 auf die biblische Ethik verpflichtet, „Schulter an Schulter“ (hebräischer Text) bzw. „einmütig“ (griechischer Text) in der gemeinsamen Verantwortung für die jüdisch-christliche Ethik in einer säkularen Welt.






ANMERKUNGEN



1 Gesicht zeigen. Themenheft 2006, hrsg. vom Deutschen KoordinierungsRat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Bad Nauheim.

2 Die Reden sind abrufbar unter http://www.deutscher-koordinierungsrat.de/04_02.php. Eine Dokumentation des Treffens ist in Vorbereitung.

3 Zu einem Überblick vgl. etwa H.Frankemölle, Zum jüdisch-christlichen Dialog in Deutschland nach dem Holocaust bis zu Johannes Paul II., in: Ders. (Hg.), Juden und Christen im Gespräch über „Dabru emet – Redet Wahrheit“, Paderborn/Frankfurt 2005, 9-37.

4 Um so bedauerlicher ist es, dass sich die Deutsche Bischofskonferenz trotz der einstimmigen Voten aller katholischen Alt- und Neutestamentler und der Liturgiker bislang nicht durchringen konnte, Israel dort, wo es in liturgischen Texten eindeutig gemeint ist, beim Namen zu nennen, so vor allem im vierten Hochgebet; zur Begründung vgl. D.Kranemann, Israelitica dignitas. Studien zur Israeltheologie Eucharistischer Hochgebete (MThA 66), Altenberge 2001, 139-149 und G.Braulik, Gott für Israel preisen. Zur Heilsprärogative Israels und zum 4. Hochgebet, in: A.Gerhards/H.H.Henrix (Hg.), Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum (QD 208), Freiburg 2004, 223-253. Zur Stellung Israels in den liturgischen Texten der römisch-katholischen Kirche insgesamt vgl. D.Kranemann, Teilhabe an der Würde Israels. Anmerkungen zur Israeltheologie in den Gebetstexten des Messbuches, in: Gerhard/Henrix, Dialog 284-305.

5 Wie bei keinem Papst vorher findet sich bei ihm eine biblisch begründete, konsistente Israel-Theologie; vgl. R.Kampling, „ ... eine Erfahrung, die ich heute noch in mir trage ...“. Die Israel-Theologie des Papstes Joihannes Paul II. Ein Versuch, in: Ders., Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von israel und Kirche (SBA 47), Stuttgart 2002, 261-272 und H.Frankemölle, Die Bedeutung der Christologie im christlich-jüdischen Dialog. Bibeltheologische (und päpstliche) Impulse, in: Ders., Studien zum jüdischen Kontext neutestamentlicher Theologien, Stuttgart 2005, 292-302 

6 Zum ganzen Text vgl. das Standardwerk von R.Rendtorff/H.H.Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, Paderborn-München 1988, ebd. 594; vgl. auch den Folgeband von H.H.Henrix/W.Kraus (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Bd. II: Dokumente von 1986-2000, Paderborn/Gütersloh 2001.

7 Hg. vom Präsidium des ZdK, Bonn 2005, ebd. 11.

8 Zum Text vgl. Frankemölle, Juden und Christen (s.o. Anm. 4), 39-44, ebd. 39.

9 K.Müller, Die Aufforderung zum „brüderlichen Gespräch“ mit den Juden auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil und die Halacha, in: W.Weiß (Hg.), Zeugnis und Dialog. Die katholische Kirche in der neuzeitlichen Welt und das II. Vatikanische Konzil. FS K.Wittstadt, Würzburg 1996, 456-463, ebd. 463.

10 Joseph Kardinal Ratzinger, Der Neue Bund. Zur Theologie des Bundes im Neuen Testament, in: Ders., Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Bad Tölz 42005, 47-79, ebd. 72

11 In:Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152, Bonn 2001,44. Auch zum Vorwort dieses Schreibens von J.Ratzinger stellt sich die Frage, ob er die angemessene christologische Lesart der heiligen Schriften Israels nicht zu stark mit der Intention der vorgegebenen Texte vermischt, wenn er formuliert: „Dass aber die Schriftsteller der vorchristlichen Jahrhunderte, die in den alttestamentlichen Büchern zu Worte kommen, auf Christus und den Glauben des Neuen Testaments voraus weisen wollten, erscheint dem modernen historischen Bewusstsein mehr als unwahrscheinlich.“ (ebd. 6) Wenn Jesus Christus den Anspruch erhoben hat, „der wahre Erbe des Alten Testaments – der Schrift – zu sein“ (ebd. 5), ist Israel dann nicht enterbt?

12 Vgl. M.J.Rainer (Hg.), „Dominus Jesus“. Anstößige Wahrheit oder anstößige Kirche ? Dokumente, Hintergründe, Standpunkte und Folgerungen, Münster 2001.

13 Zum Text s.o. Anm. 2. Zur angeblichen biblischen Begründung der Judenmission vgl. H.Frankemölle, Die Sendung der Jünger Jesu „zu allen Völkern“ (Mt 28,19), in: Zeitschrift für Neues Testament 8(2005)45-51 sowie F.Wilk, Eingliederung von „Heiden“ in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams. Die Aufgabe der Jünger Jesu unter „allen Weltvölkern“ nach Mt 28,16-20, in: ebd. 52-59.

14 Zu dieser handlungsorientierten Grundlinie vgl. H.Frankemölle, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus (NTA 10), Münster 21984, 257-307 sowie die Auslegung der genannten Perikopen in: Ders., Matthäus-Kommentar 1-2, Düsseldorf I 21999, II 1997.

15 Zu einer eindringlichen Analyse vgl. Kranemann, Teilhabe 285-290.

16 Zum zitierten Text Rendtorff/Henrix, Kirchen 106-111, ebd. 110.

17 N.Walter, Zum Problem einer „Biblischen Theologie“, in: Ch.Dohmen/Th.Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie, Paderborn 1995, 307-318, ebd.309 kursiv als These.

18 Zur Information vgl. M.Theobald, Eine Partnerschaft zerbricht. Zum Austritt der EKD aus der „Einheitsübersetzung“, in: Orientierung 70(2006)18-22.

19 Zur Literatur und zum Diskussionsstand vgl. H.Frankemölle, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte (ab 4.Jh. v.Chr.) – Verlauf – Auswirkungen (bis 4.Jh. n.Chr.), Stuttgart 2006 (Studienbücher Theologie 5; im Druck), 29-33.244-258; im gesamten Buch geht es um Trennungsprozesse zwischen christlichen sowie nichtchristlichen Juden und um Einheitsbande zwischen ihnen.

20 Zum Text s.o. Anm. 3. zur wissenschaftlichen Begründung vgl. Gerhards/Henrix, Dialog (s.o. Anm.5).

21 Seit 1973 erscheint die wissenschaftliche Reihe „Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit“ mit bislang über Einhundert Übersetzungen; zu einem Überblick vgl. E.Haag, Das hellenistische Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 2003.

22 Wie dies z.B. David Flusser tut; vgl. etwa Ders., Das Schisma zwischen Judentum und Christentum, in: EvTh 40(1980)214-239; vgl. auch C.Thoma/M.Wyschogrod (Hg.), Das Reden vom einen Gott bei Juden und Christen, Bern 198.

23 Vgl. etwa H.D.Preuß, Theologie des Alten Testaments. Bd. 1: JHWHs erwählendes und verpflichtendes Handeln, Stuttgart 1991, 183-228; zu „JHWHs Angesicht“ vgl. ebd. 187-189.

24 Preuß, Theologie 187.

25 H.G.Pöhlmann/M.Stern, Daß wir Gott gehören, in: Lutherische Monatshefte 1998, Heft 2, 26-28, ebd.26f.

26 Ebd. 27.

27 Zur religionswissenschaftlichen Einführung vgl. R.Laufen (Hg.), Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, Paderborn 1997; zur biblischen Entwicklung vgl. W.Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzikeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-frühjüdischen Tradition, Neukirchen-Vluyn 2002.

28 Zur eigenen Deutung des Verhältnisses jüdische heilige Schriften – christliche Rezeption vgl. H.Frankemölle, Jüdische Wurzeln christlicher Theologie (BBB 116), Bodenheim 1998; Ders., Studien zum jüdischen Kontext neutestamentlicher Theologien (SBAB 37), Stuttgart 2005.

29 Vgl. das Diktum von Franz Mußner: „’Auschwitz’ übt eine hermeneutische Funktion aus“; Ders., Traktat über die Juden, München 1979, 16 oder ebd. 11 in der Überschrift: „Auschwitz als Impuls zum Umdenken“. Zu den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen vgl. R.Huning, Bibelwissenschaft im Dienste popularer Bibellektüre (SBB 54), Stuttgart 2005, 33-98.

30 So zum „Missionsbefehl“ in Mt 28,19 H.Merklein, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen (SBS 156), Stuttgart 1994, 234.

31 Zur Dokumentation aus den Quellen vgl. H.Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11.Jh.), Frankfurt/Bern 1982; Ders., Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.-13.Jh.), Frankfurt/Bern 1988; vgl. auch den Überblick von L.Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, 8 Bände, Frankfurt/Worms 1977-1988.

32 Vgl. oben bei Anm. 14.

33 Zur Begründung dieser Lesart vgl. H.Frankemölle, Die paulinische Theologie im Kontext der heiligen Schriften Israels. „So viele Verheißungen Gottes, in ihm das Ja“ (2 Kor 1,20), in: Ders., Studien zum jüdischen Kontext neutestamentlicher Theologien (SBAB 37), Stuttgart 2005, 199-225; Ders., „Wie geschrieben steht“. Ist die paulinische Theologie schriftgemäß?, in: ebd. 255-291. Zur Abraham-Rezeption in Röm 4 vgl. das wichtige Buch von M.Neubrand, Abraham – Vater von Juden und Nichtjuden. Eine exegetische Studie zu Röm 4 (fzb 85), Würzburg 1997.

34 So jetzt auch dezidiert H.Giesen, Christus – Ende oder Ziel des Gesetzes (Röm 10,4)?, in: J.Hainz (Hg.), Unterwegs mit Paulus. Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 155-191, ebd. 176-185; zum teilweise gewaltsamen Umgang des Paulus mit Zitaten aus der Schrift vgl. L.Wehr, „Nahe ist dir das Wort“ – die paulinische Schriftinterpretation vor dem Hintergrund frühjüdischer Parallelen am Beispiel von Röm 10,5-10, in: ebd. 192-206, der ebd. 194 Anm.3 sich „sicher“ ist, dass Röm 10,4 nicht mit „Ziel“, sondern mit „Ende“ zu übersetzen ist; im Übrigen kann er aber nachweisen, dass im Kontext griechisch-jüdischer „Interpretationen“ der in Röm 10,5-10 rezipierten Stellen aus der griechischen Überlieferung von Dtn 30,11-14 etwa in Bar 3,29-32.37f und bei Philon von Alxandrien, Über die Belohnungen und Strafen 80-84, Freiheiten in der Rezeption von biblischen Stellen belegen, ohne die paulinische Zuspitzung auf „Glaubens-Gerechtigkeit“ zu formulieren. Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften legen die heilige Schrift nicht aus, sondern aktualisieren sie (wie die Theologen in Qumran); vgl. H.Frankemölle, Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers, in: Ders., Studien 28-90.

35 K.Müller, Von der Last kanonischer Erinnerungen. Das Dilemma des Paulus angesichts der Frage nach Israels Rettung in Röm 9-11, in: M.Theobald/R.Hoppe (Hg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“ (Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur (SBS 209), Stuttgart 2006, 203-253, ebd. 249f.251; zur Bedeutung der Schoa vgl. ebd. 252.

36 Vgl. H.Frankemölle, Jesus Christus als „Zugang“ zur Gnade Gottes (Röm 5,2). Der paulinische Beitrag zur biblischen Gedächtniskultur, in: Theobald/Hoppe, Erinnerung 181-201; Ders., Völker-Verheißung (Gen 12-18) und Sinai-Tora im Römerbief. Das „Dazwischen“ (Röm 5,20) als hermeneutischer Parameter für eine lutherische oder nichtlutherische Paulusauslegung, in: M.Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005, 275-307.

37 Zitiert nach der Vatikanischen Nachrichtenagentur ZENIT vom 24.3.06.

38 So lautet mit Recht die achte These in der jüdischen Erklärung „Dabru emet – Redet Wahrheit“ aus dem Jahre 2000. Zur eigenen Deutung vgl. H.Frankemölle, in: R.Kampling/M.Weinrich (Hg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, 188-195.


Der Autor

HUBERT FRANKEMÖLLE


Prof. Dr., geb. 1939, Uni Paderborn, Katholische Theologie. Zahlreiche Veröffentlichungen (siehe unten: Link zum Fachbereich, Uni Paderborn); er versucht, das Neue Testamten im jüdischen Horizont seiner Verfasser zu lesen. Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Paderborn,  Mitglied im Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) und im Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK).


Universität Paderborn
Fachbereich Katholische Religion