Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

Online-Extra Nr. 134

Wir sind, was wir erinnern
Zwei Generationen nach Auschwitz - Stimmen gegen das Vergessen

KONRAD GÖRG




Die Geschichte des Jungen Erwin Katz



„Unterrichte nie Geschichte, ohne dabei eine Geschichte zu erzählen“
(Yehuda Bauer)

Der gefährlichste Feind des Gedächtnisses ist die Abstraktion.
In diesem Sinne gilt es weniger in anonymer
und staatspolitisch aseptischer Weise
der "Opfer des Nationalsozialismus" zu gedenken,
sondern wir sollten beispielsweise wieder lernen,
Geschichten zu erzählen:
die Geschichte dieses Vaters Shlomo Wiesel,
dieser Mutter Lena Donat
dieses Mädchens Eva Heymann,
oder dieses Jungen Erwin Katz …
´Der Holocaust ist nicht sechs Millionen,
sondern Einer und Einer und Einer und Einer ...`(J. Miller).
(Christoph Münz)



Es sind schon viele Jahre vergangen, seit ich einmal mit meinem alten Freund aus WG- und Studienzeiten Petr Abeles den Jüdischen Friedhof in Frankfurt besuchte. Dort, auf dem Grabstein seiner erst kürzlich verstorbenen Mutter Hilda Abeles, geb. Katz standen – damals für mich etwas verwirrend – nicht nur ihr Name, sondern auch die Namen ihrer Eltern Samuel und Gisela Katz (geb. Halpert) und ihres jüngeren Bruders Erwin, versehen mit einer zusätzlichen kleinen Inschrift:


In Erinnerung an die,
die kein Grab haben


Wer war dieser kleine Junge Erwin, der 1944 im Alter von zehn Jahren in Auschwitz starb?
Petr versprach mir, seine inzwischen 84-jährige alte Tante Jolana, die älteste Schwester von "Onkel Erwin", etwas genauer zu befragen; und sie erzählte von ihrem kleinen Bruder:

´Unsere Familie wohnte in Huklive, einem kleinen Straßendörfchen inmitten der waldreichen Karpaten-Ukraine. Diese Gegend lag im östlichsten Zipfel der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Tschechoslowakei. Wir in unserem kleinen Dorf sprachen aber rusinisch, ukrainisch oder eben jiddisch.


Die Eltern besaßen damals einen kleinen an der Straße gelegenen Bauernhof. Das Wohnhaus unseres Hofes bestand aus einem Doppelhaus. In der anderen Hälfte des Hauses wohnte der Bruder meines Vaters. Mit diesem Onkel und seiner Familie verstanden wir uns sehr gut.
An Vieh hatten wir zwei Pferde, sechs Kühe, Hühner, Schafe und einen Hund. Zusätzlich gehörten uns einige Äcker und Wiesen, wo für den Eigenbedarf Getreide, Kartoffeln und Viehfutter angebaut wurde. In den langen Wintermonaten, wenn es auf den Feldern nichts zu tun gab, zog Vater oft mit seinen Pferden und einigen Männern aus der Nachbarschaft zum Holzschlagen in die umliegenden Wälder oder aber er verdingte sich für ein paar Wochen in einem der zahlreichen Sägewerke.

Als Erwin am 12. Dezember 1933 in diese ärmliche, aber doch Geborgenheit vermittelnde Welt hineingeboren wurde, war das ein großes Fest für die ganze Familie. Vater, der zufällig am gleichen Tag Geburtstag hatte, bekam nun endlich den ersehnten ´Stammhalter`. Nicht dass er uns drei ältere Schwestern Jolana, Hilda und Rela weniger mochte – die Eltern liebten uns über alles – aber Erwin war eben ein Junge, und er war Vaters ganzer Stolz.

Was soll ich über unseren Bruder, den kleinen blonden Wirbelwind mit seinen wachen blauen Augen erzählen? Er war lebhaft, aufgeweckt und in meiner Erinnerung eigentlich immer fröhlich. Und er mochte seine drei großen Schwestern wirklich sehr. Wenn um die Mittagszeit der Unterricht in unserer Einklassen-Dorfschule, die von einem netten tschechischen Lehrer aus Prag geleitet wurde, zu Ende ging, stand Klein-Erwin oft schon einige Zeit in der Wohnstube am Fenster und beobachtete gespannt die Dorfstraße. Sobald er die Schwestern dann erblickte, lief er uns eilig entgegen und erzählte wild gestikulierend, was er am Morgen Aufregendes erlebt hatte.
Für mich gab es keine schönere Begrüßung nach einem langen Schulvormittag. Noch heute sehe ich sein kleines vor Freude strahlendes Gesichtchen mit den weit aufgerissenen Augen vor mir.

Erwin hatte viele Freunde und Spielkameraden im Dorf. Besonders gerne jedoch war er mit seinen Vettern und Kusinen vom Nachbarhaus zusammen, den Kindern meines Onkels. Stundenlang konnten sie, die Zeit völlig vergessend, im Dorf und in der nahen Umgebung herumstromern.
Einmal – so erinnere ich mich – war große Aufregung in unserer Straße. Bei einem ihrer wilden Kinderspiele auf der Wiese hinter dem Haus fiel Erwin in die dortige Jauchegrube und wäre fast ertrunken, hätten ihn nicht die älteren Kameraden rechtzeitig aus der stinkenden Gülle herausgezogen.

Mit 6 Jahren kam dann auch dein Onkel in die Dorfschule. Wir Schwestern besuchten damals schon das Gymnasium in der 60 km von Huklive entfernten Bezirkshauptstadt Mukatschewo. Hier wohnten wir zur Miete bei Verwandten und sahen Erwin und die Eltern nur noch am Wochenende und in den Ferien.

Erwin muss ein recht guter Schüler gewesen sein. Unsere Mutter erzählte uns öfters, wenn wir nach Hause kamen, dass der Junge in der Woche wieder mal besonders freudig aus der Schule gekommen war und voller Stolz ein großes Hühnerei auf den Küchentisch gelegt hatte: ein Geschenk seiner Mitschüler, weil er ihnen erneut bei den Hausaufgaben geholfen hatte.

Von den großen bedrohlichen politischen Ereignissen bekamen wir Kinder kaum etwas mit. Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde unser Gebiet erneut ungarisch und wir mussten daher im Gymnasium in Mukatschewo eine uns völlig fremde Sprache erlernen.
Erst ziemlich spät, im März 1944, wurden wir Juden dann gezwungen den Stern zu tragen. Wie Erwin sich dabei gefühlt hatte, weiß ich nicht.
Für uns Älteren war diese Stigmatisierung durch den Stern sehr demütigend und auch erschreckend, denn richtige Judenfeindlichkeit hatte es in unserer Gegend bislang eigentlich nicht gegeben.

Und dann ging alles plötzlich furchtbar schnell:
Am Morgen des 18. April 1944 kamen sie: eine brutale Horde ungarischer Polizisten, bewaffnet mit Schlagstöcken und Maschinengewehren. Den Juden des Dorfes wurde nur noch eine halbe Stunde Zeit gewährt, das Nötigste zusammenzupacken. Für uns Kinder und Jugendliche war dies ein heftiger Schock. Wir hätten so etwas Schlimmes niemals erwartet.

Dein Großvater jedoch musste die ganze Entwicklung geahnt haben. Denn als ich nach dem Krieg unser Dorf noch einmal besuchte, – in der leider vergeblichen Hoffnung, noch irgendwelche Verwandte zu finden –, kam mir plötzlich ein ehemaliger Nachbar, ein alter rusinischer Freund meines Vaters entgegen. Freudig, aber mit Tränen in den Augen, kniete er vor mir nieder und bat mich inständig um Verzeihung.
Ich erfuhr dann, dass Vater ihn wenige Tage vor unserer Verhaftung verzweifelt gebeten hatte, doch bitte wegen der drohenden Gefahr für uns Juden den kleinen Erwin bei sich aufzunehmen und zu verstecken. Er, der Freund und Nachbar habe ihm diese Hilfe damals verweigert. Dafür schäme er sich heute sehr.

Nach hektischem Packen wurden wir Juden also an diesem 18. April zunächst auf der Dorfstraße zusammengetrieben. Als die Polizisten auch noch unser Vieh aus den Ställen holten, ahnte ich, dass dies ein endgültiger Abschied sein würde. Mit den Tieren zusammen traten wir dann den Weg zum 7 km entfernten Güterbahnhof nach Volovec an. Erwin war bei diesem Marsch sehr still. Sichtlich eingeschüchtert, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack tragend, lief er den ganzen Weg ängstlich an der Hand der Mutter.
Von Volovec aus ging es anschließend mit dem Zug in das jüdische Ghetto von Mukatschewo. Dort blieben wir vier Wochen.

Am Abend des 18. Mai 1944 wurden schließlich alle Juden des Ghettos nach Auschwitz deportiert. Auf engstem Raum in alten Viehwaggons eingezwängt ergriff uns ein Gefühl von Ausweglosigkeit. Eine nicht fassbare dumpfe Angst stieg in uns auf. Wohin würde diese Reise wirklich gehen? Was würde uns dort erwarten? Mich ließ der düstere Gedanke nicht los, dass es für uns alle kein Zurück mehr geben könnte.
Wir Schwestern rückten ganz eng zusammen und fingen irgendwann an zu singen – wohl um diese schrecklichen Gedanken zu verscheuchen. Und so erklangen an diesem traurigen Ort all die vielen schönen Lieder aus der Kindheit, gesungen in den unterschiedlichsten Sprachen unserer Heimat.
Erwin blieb die ganze Zeit schweigend neben der Mutter sitzen. Zu Hause, wenn wir uns in den warmen Sommernächten auf der Steintreppe vor dem Hof die Zeit mit Liedersingen vertrieben hatten, wollte er immer gerne mitkrähen.
Doch hier musste er unsere eigentliche Stimmung wohl gespürt haben, denn nach einer Weile fing er plötzlich laut an zu weinen und bat uns, dass wir mit dem Singen aufhören sollten. Die Lieder würden ihn so traurig machen und er bekäme noch größere Angst.
Noch lange nach unserem Verstummen hörten wir Erwin im Schoß der Mutter leise vor sich hin wimmern, bis er endlich tief in der Nacht vor Erschöpfung einschlief.

Diese Zugfahrt nach Auschwitz war das Fürchterlichste, was man sich vorstellen kann. Wie Vieh aufs Engste zusammengepfercht, hockten wir dort ohne Brot und Wasser auf dem kahlen Holzboden. Tagsüber kam nur wenig Licht durch die schmalen Ritzen des Bretter-verschlags unseres Wagens. Als Toilettenersatz stand in der Ecke des Wagens ein alter Blecheimer. Dieser Zustand war für uns Schwestern so beschämend und erniedrigend!

Nach zwei Tagen und zwei Nächten ununterbrochenen Eingeschlossenseins erreichten wir dann spät abends am 20. Mai 1944 Auschwitz.
Die Lokomotive pfiff zweimal kurz vor dem Bahnhof als Zeichen für die SS-Lagerschergen, dass "Arbeit" auf sie zukam. Wir wurden aus unseren Waggons herausgetrieben und mussten uns alle in einer Schlange aufstellen. Sich gegenseitig an den Händen anzufassen, war uns strengstens verboten. Ein beißender, uns damals noch unbekannter Geruch lag in der Luft.
Auf der Rampe wartete schon – den Namen erfuhr ich später – Dr. Mengele …
Bei der Selektion trennte er uns zwei große Schwestern von dem Rest der Familie. Ich gab Erwin daraufhin noch schnell das letzte kleine Stück meines Brotes, musste aber schnell weitergehen. Wir standen schon im Rücken von Mengele, und ich weiß nicht warum, vielleicht weil wir drei Schwestern bisher immer alles gemeinsam durchgestanden hatten: Einem plötzlichen Impuls folgend zog ich, unbemerkt von allen Wachsoldaten, noch schnell Rela, die jüngste Schwester, auf unsere Seite.
Erwin und die Eltern sahen wir nie wieder.

In den nächsten Wochen wurden wir Schwestern in ein Sonderkommando zur Sortierung der Wäsche eingeteilt. Unsere Aufgabe bestand darin, die riesigen Berge von Kleidungsstücke all der ermordeten Menschen zu sichten, zu ordnen und die noch verwendbaren auszusortieren. Insbesondere mussten wir von den vielen Jacken und Mänteln die Judensterne entfernen.
Eines Tages nun sah deine Mutter Hilda in einem dieser zahlreichen Wäschehaufen zufällig das kleine Hemdchen von Erwin. Sie erkannte es sofort an einem nicht sehr großen, aber auffälligen gestickten Muster. Da wurde uns zur schrecklichen Gewissheit, dass auch unser Bruder nicht mehr lebte. Insgeheim hatten wir die ganze Zeit gehofft, dass die Deutschen ihn vielleicht verschont hätten, weil sein Haar doch so auffallend hell war und er blaue Augen hatte.
Später erfuhren wir von älteren KZ-Mithäftlingen, dass Erwin und die Eltern noch in der Ankunftsnacht vergast worden waren.`

Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Es gibt kaum noch Nachkommen der Familie Katz, die sich an das traurige Schicksal des kleinen Erwin und seiner Eltern erinnern könnten. Auch das Grab mit der oben erwähnten Inschrift existiert so nicht mehr. Auf diesen Sachverhalt hin angesprochen meinte mein Freund Petr: ´Meine Tante hat mir diese Geschichte erzählt und ich erzähle sie dir weiter.`
Damit bin ich unversehens ein Glied in der Kette des Erinnerns geworden und ich habe die Geschichte von Erwin Katz meinen Kindern und Freunden weitererzählt und nun wissen auch Sie davon.
„So entreißen wir gemeinsam die Namenlosen der Anonymität, hemmen die Gefahr, dass sich, etwas pathetisch ausgedrückt, über sie der Mantel der Geschichte und des Vergessens senkt. Diese Form jüdischen Gedenkens provoziert eine in die Zukunft gerichtete Aufgabe. So hat die Erinnerung für den sich Erinnernden auch etwas Tröstliches.“ (Günter B. Ginzel)



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   KONRAD GÖRG:
   Wir sind, was wir erinnern.
   Zwei Generationen nach Auschwitz
   Stimmen gegen das Vergessen


   Hartung Gorre Verlag
   2. erw. Aufl. Konstanz 2009
   110 Seiten
   ISBN 3-86628-208-7

   9,95 € 

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Diese Anthologie zur Schoáh ist ein Lesebuch, das es in sich hat. Dahinter steht wie ein Wasserzeichen der Aufschrei des Gedenksteins von Treblinka: "Nie wieder"
(Erhard Roy Wiehn, Auszug aus dem Vorwort).

Erstaunlich, wie ein solch schmaler Band die Augen zu öffnen vermag.
(
Norbert Jachertz, Deutsches Ärzteblatt)

Aber gerade durch seine verdichtende Gesamtschau verdient das kleine Buch eine große Verbreitung. Man kann aus ihm mehr lernen als aus manchen ausgedehnten Dokumentationen. Und es hilft, an die Notwendigkeit einer andauernden Wachsamkeit zu erinnern
(Horst-Eberhard Richter, Auszug aus dem Geleitwort).

Einfach ein wunderbares Buch! Nicht nur die Auswahl der Texte, sondern auch ihre thematische Anordnung, die imposante Einleitung und die geleitenden Worte - ganz zu schweigen von der gesinnungsmäßigen Ausrichtung des gesamten Bandes - machen diese Sammlung zu einer einzigartigen Manifestation wahren Gedenkens und humanistischer Weltschau. Ganz großen Dank für dieses bedeutende Geschenk, das der Verfaßer den bisherigen und künftigen Lesern seines Buches gemacht hat.
(
Moshe Zuckermann, Tel Aviv)

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