Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 111

Februar 2010

Als Schüler und Sohn einer jüdischen Mutter überlebte er das nationalsozialistische Unrechtsregime, das sein ganzes Lebenswerk prägen sollte: Ralph Giordano. In seinem autobiographischen, später auch erfolgreich verfilmten Roman "Die Bertinis" legte er dann von seinen Erlebnissen und Erfahrungen im Hitler-Deutschland Zeugnis ab. Durch seine kompromisslose Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Faschismus, Antisemitismus, Stalinismus und Sozialismus avancierte er zu einem kritischen Beobachter und einem der profiliertesten Kommentatoren der deutschen Zeitgeschichte. In jüngerer Zeit machte er vor allem durch seine prononcierte Ablehnung eines Moscheebaus in Köln auf sich aufmerksam, eine Ablehnung, die er mittlerweile durch eine keineswegs unumstrittene, scharfe Kritik am Islam und islamistischen Tendenzen ergänzte.

Im Mai vergangenen Jahres führten der israelische Schriftsteller Chaim Noll und der Berliner Rechtsreferendar und Journalist Martin Jehle ein ausführliches Interview mit Ralph Giordano, das viele seiner Stationen und Lebensthemen ansprach, vor allem aber auch seine kritische Haltung gegenüber dem Islam thematisierte. In Auszügen wurde dieses Interview bereits an mehreren Stellen in gedruckter Form veröffentlicht. Das vorliegende ONLINE-EXTRA Nr. 111 bietet hingegen nun erstmals Gelegenheit, das Interview in vollem Wortlaut und im Internet lesen zu können.

COMPASS dankt den Interview-Beteiligten für die Genehmigung
zur Online-Wiedergabe des Interviews an dieser Stelle!


© 2010 Copyright bei den Autoren 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 111


Nicht die Moschee, der Islam ist das Problem

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Ralph Giordano
am 13. Mai 2009 in Köln



MARTIN JEHLE / CHAIM NOLL


Noll:
Deutschland ist ein mehrdeutiges Wort. Besonders im zwanzigsten Jahrhundert. Welches Deutschland war es für Dich im Besonderen?


Giordano: Zunächst war die DDR mit einbegriffen oder stand sogar vorne, denn ich habe einen großen politischen Irrtum begangen. Ich habe gedacht, die Feinde meiner Feinde müssen auch meine Freunde sein. Die Nazis hatten zwei Hauptfeinde: Die Juden, das waren wir selber, und die Bolschewiken, die Roten, die Kommunisten. Darum war mein Eintritt 1946 in die Kommunistische Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg, ganz organisch nach meinem damaligen Erkenntnisstand. Es hat elf Jahre gedauert, bis ich diesen Irrtum überwunden hatte. 1957 bin ich aus den gleichen antifaschistische, humanen  Gründen, aus denen ich der Partei beigetreten bin, auch wieder ausgetreten. Ich glaubte, ich suchte nach Zugehörigkeit und glaubte sie in dieser Partei gefunden zu haben. Und das ist ein Irrtum gewesen. Zunächst hatte ich eher ein Zugehörigkeitsgefühl zur DDR als zur alten Bundesrepublik, der Republik der „zweiten Schuld“. Das sage ich jetzt retrospektiv. Damals hatte ich noch nicht erkannt, dass die DDR von der „zweiten Schuld“ genauso heimgesucht war, dass der verlogene „verordnete Antifaschismus“ der DDR, das ganze System von seiner moralischen Konsistenz her gar nicht fähig war, die Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten. Davon konnte in der DDR überhaupt keine Rede sein. Als ich dann mit meinem stalinistischen Irrtum Schluss machte, begann ein neues Leben für mich.


Noll: Ein neues Leben? Wie für jemanden, der aus dem Osten in den Westen kam? 


Giordano: Es war wie eine zweite Befreiung. Ich habe 1961 ein Buch darüber veröffentlicht: „Die Partei hat immer Recht“. Das war mein Abschied von der DDR. Und im Laufe der Zeit, nachdem ich hier zum Fernsehen kam, wuchs etwas wie eine Zugehörigkeit zur Bundesrepublik. Warum? Weil ich hier denken und schreiben und filmen konnte, was ich wollte. Ich bin nie zensiert worden. In wie vielen Ländern der Welt kann das jemand von sich behaupten? 1987 habe ich ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die zweite Schuld. Oder von der Last Deutscher zu sein.“ Das kann nur intellektuell und moralisch redlich sein, wenn der Autor sich selbst einschließt. Das heißt, also, 1987 war ich soweit zu sagen, ich bekenne mich zu diesem Land, trotz allem, was war, weil der demokratische Verfassungsstaat mir die Möglichkeit gegeben gab, zu sagen, zu denken, zu schreiben und zu filmen, was ich wollte. Als Überlebender des Holocaust war es nicht leicht, in Deutschland zu bleiben. Doch es gab keine sinnvolle Alternative. Ich konnte nicht weg, ich konnte nicht fliehen. Die Auseinandersetzung mit Deutschland wäre mir überall nachgekommen, wohin ich auch immer gegangen wäre. An dem Kampf, an der Aufklärung musste ich direkt beteiligt sein. Mir war von Anfang an klar, Hitler ist militärisch geschlagen, aber im Ungeist, ist er nicht geschlagen. Das ist eigentlich das Entscheidende, was mich hier in Deutschland gehalten hat.


Jehle: Noch mal zu den beiden Jahren in der DDR. Können Sie daraus ein bisschen berichten, wie haben Sie in Leipzig gelebt, hatten Sie die DDR-Staatsbürgerschaft, was war Ihre Arbeit?     


Giordano: Ich war Mitglied der KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg. War aber als Delegierter oft in der DDR, und einen längeren Aufenthalt hatte ich nur am Institut für Literatur in Leipzig vom Oktober 1955 bis Juni 1956. Bis dahin war ich eigentlich ein treuer Genosse, aber in manchem doch schon emanzipiert vom Dogmatismus. Man darf nicht vergessen, der 20. Parteitag der KPDSU, als Chruschtschow zum ersten Mal über die stalinistischen Verbrechen sprach, fiel in diese Zeit. Und es hat dann noch ein Jahr gedauert, bis ich Schluss gemacht hatte, bis ich soweit war, dass ich erkannte, die KPD ist nicht die Organisation, um die Welt bewohnbarer zu machen als sie ist. In Leipzig selber, die neun Monate in Leipzig – das sind die einzigen Monate gewesen, in denen ich dauerhaft in der DDR gelebt habe. Aber in denen ich auch erkannte, was es bedeutete, Schriftsteller zu sein unter der Fuchtel der Apparatschiks. Ich lernte zum ersten Mal das Los der Kollegen kennen, die zwar zur DDR hielten, aber auf der anderen Seite durch die  Kultur-, besser Unkulturpolitik der Apparatschiks auf eine Weise beengt wurden, die mich fragen ließ, was würde eigentlich aus Dir, wenn Du hier wärest und diesen Leuten unterworfen. Die neun Monate in der DDR bildeten den Abschluss meiner Parteiperiode. Während dieser Monate habe ich auch Freunde gefunden. 1957, nachdem ich mit der Partei gebrochen hatte, war alles abgeschnitten, später sind einige Verbindungen wieder zustande gekommen. Erich Loest war mit an diesem ersten Lehrgang am Institut für Literatur, er bekam bald danach acht Jahre Zuchthaus. Auch Fred Wander, mein alter Freund, der Österreicher, war da und insofern war das auch eine gute Zeit. Ich habe Victor Klemperer kennen gelernt, ich habe Bloch kennen gelernt, das war ein großes Erlebnis. Zunächst einmal, von meinem damaligen ideologischen Standpunkt her, habe ich natürlich manches vergoldet gesehen in der DDR. Der Unterschied im Lebensstandard war mir natürlich bewusst, das ist etwas, was gar nicht verborgen bleiben konnte. Es hatte aber für mich nicht die Bedeutung, die es eigentlich im Leben hat. Ich war ideologisch verblendet.


Jehle: Wie haben Sie eigentlich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Stalinismus, mit der KPD das Verhalten vieler westdeutscher Intellektueller wahrgenommen, die dann später – im Zuge der 68er Bewegung und in den 70er und 80er Jahren -  die DDR eher wohlwollend begleiteten, soweit, dass seit den 70er Jahren die Wiedervereinigung beider deutscher Teilstaaten immer mehr in den Hintergrund rückte, bis zur fast völligen De-Thematisierung? 


Giordano: Sie sprechen von einer Linken, die ich überwunden habe. Diese Leute haben einen Standpunkt perpetuiert, die DDR ist das bessere Deutschland, den ich nach langen, qualvollen inneren Prozessen überwunden hatte. Das heißt, diese Linke wurde zu „nützlichen Idioten“, wie Lenin sie genannt hat, und ich bin dann ein Gegner dieser Leute geworden. 1991 habe ich einen Essay im „Spiegel“ geschrieben über diese Linke und ihre sentimentale Anhänglichkeit an die DDR. Ich hatte keine persönliche Verbindung zur Studentenverbindung, aber ich habe die 68er-Bewegung begrüßt, denn eines ihrer Motive war die zweite Schuld, das heißt, die Verdrängung und Leugnung der ersten. Die 68er haben den Deckel von der verlogenen Verdrängergesellschaft gesprengt. Aber ich war nie so stark mit ihnen verbunden, schon wegen ihrer Haltung zu Israel. Die Studentenbewegung war tief antizionistisch, hinter diesem Antizionismus habe ich latenten Antisemitismus vermutet. Das ist mir nicht geheuer gewesen. Dem antifaschistischen Antrieb der 68er konnte ich zustimmen, aber der Gleichsetzung Israel gleich Imperialismus und die arabischen Staaten gleich Sozialismus - etwas dümmeres und lächerlicheres kann man sich nicht vorstellen. Ich habe die arabische Welt kennen gelernt und wenn die Erde je sozialistisch geworden wäre, dann wären die arabischen Länder, die muslimischen Länder die letzten gewesen.


Jehle: Sie haben 1961 in ihrem Buch „Die Partei hat immer Recht“ nicht Ihre Verfolgungsgeschichte erwähnt. Daraus erklärt sich aber gerade Ihr Beitritt zur KPD. Warum haben Sie es damals nicht erwähnt, war die Zeit nicht reif, hätte es dem Buch unter dem damaligen Klima vielleicht geschadet, wenn Sie sich darin als Jude bekannt hätten?


Giordano: Nein, das würde ich nicht sagen. „Die Partei hat immer Recht“ ist keine Biographie eines enttäuschten Kommunisten gewesen, sondern eine Anatomie des Stalinismus auf deutschem Boden, das heißt, wie es dieser Partei gelang, einen Menschen mit meiner Biographie zu packen, eine Zeitlang zu halten und dann wieder zu verlieren. Die Idee dazu hat mir Wolfgang Leonhard, mein alter Freund suggeriert, der Verfasser von „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Ich kannte Leonard schon seit 1948. Es ist richtig, was Sie sagen, dass das alles in einem biographischen Zusammenhang gehört, aber ich empfinde es nicht als Defizit, als Mangel, dass ich meine Vorgeschichte in diesem Buch nicht zum Thema mache. Ich gehörte zur Internationale der Einäugigen. Die Internationale der Einäugigen hat zwei Fraktionen, eine recht und eine linke. Die eine ist auf dem rechten Auge blind, die andere auf dem linken Auge. Und beide – mit ihren jeweiligen Vorzeichen – bekämpfen in einem Teil der Welt, was sie jeweils in dem anderen befürworten.


Jehle: Zur heutigen Situation im Osten Deutschlands. Sehen Sie da Parallelen, also nach 45 Frieden mit der Geschichte und nach 89? Viele Ostdeutsche wollen bis heute ihren Frieden mit der Geschichte. Verklärung der Vergangenheit, Ostalgie – sind das, psychologisch gesehen, ähnliche Verhaltensmuster?


Giordano: Das Kriminalgewicht des NS-Staates ist ungleich höher gewesen als das Kriminalgewicht des Hammer-und-Zirkel-Staates. Aber ein so scheußliches System wie das des real existierenden Sozialismus wird nicht weniger scheußlich dadurch, dass es ein noch scheußlicheres System gegeben hat. Es war scheußlich genug, und es ist das Verkehrteste, was man tun kann, dass man diese beiden Gewalt- und Mordregimes als Messmodelle aneinander hält. Die Toten von Auschwitz werden nicht getröstet durch die Gulag-Toten, und die Gulag-Toten werden nicht getröstet durch die von Auschwitz. Nein, das sind zwei Mordsysteme, die man nicht als Messmodelle aneinander halten kann. Das einzig legitime Messmodell ist der demokratische Verfassungsstaat. Auch er voller Schwächen, Mängel und Fehler, aber es gibt kein besseres System. Dafür habe ich einen Instinkt, und gegen alles, was diese demokratische Republik bedroht, gegen all das wende und kehre ich mich. Neuerdings kann man sagen: gegen das, was diese Demokratie von islamischer Seite bedroht. Und selbst auf die Gefahr hin als Ausländer- und Fremdenfeind missverstanden zu werden, kehre ich mich gegen Kräfte aus der muslimischen Minderheit in Deutschland, die nach meinen Kriterien diese Republik bedrohen und – wenn sie könnten, wie sie wollten – aus ihr etwas anderes machen würden.         


Jehle: In Ihrem Aufsatz „Der verordnete Antifaschismus“ schreiben Sie über die DDR: „Bis zuletzt war der staatlich verordnete Antifaschismus eine klägliche Marionette, die jede Menschenrechtsverletzung im eigenen Bereich entweder stets rechtfertigte oder leugnete.“ Liegt darin auch ein Grund für das bis heute schwächer oder gar nicht ausgeprägte Bewusstsein für den Unrechts- und Diktatur-Charakter der DDR in den neuen Bundesländern? Sie sprechen von einer „methodischen Teilung der Humanitas“ in „Die Partei hat immer recht“. Sehen Sie eine Fortsetzung der Teilung heute in den neuen Bundesländern?  


Giordano: Ich sehe in den neuen Ländern etwas, was diesen Teil Deutschlands sehr wohl unterscheidet von der alten Bundesrepublik, nämlich, dass die Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, auch der Antisemitismus, oft getarnt als Antizionismus, dort stärker ist, dass die Gewalttaten von rechts sich heute sich auf dem Territorium der ehemaligen DDR konzentrieren. Das kann kein Zufall sein. Das heißt, bei allem, was in der alten Bundesrepublik falsch gelaufen ist, hat es doch eine demokratische Sozialisation gegeben. Die hat es in DDR überhaupt nicht gegeben, natürlich nicht. Die DDR-Bewohner sind die eigentlichen Verlierer des 2. Weltkrieges, materiell ohnehin, aber auch ideell. Die beiden Teile Deutschlands unterscheiden sich auch nach 20 Jahren. Und nicht zuletzt deshalb, weil es in der DDR die demokratische Sozialisation nicht gegeben hat. In der Bundesrepublik hat man sich mit dem Dritten Reich offen auseinandergesetzt, auch Kritisches konnte geschrieben werden, gefilmt und erzählt. All das war in der DDR unmöglich. Und ich denke, der Status Quo zwischen den ehemals getrennten Staaten, der Status des jetzigen Verhältnisses ist davon gekennzeichnet, dass die Bevölkerung der DDR unter ganz anderen Bedingungen gelebt hat, 40 Jahre lang, das sind zwei Generationen. Und das sich dort nach 1989 etwas abspielt, was sich mit anderen Vorzeichen abgespielt hat in der alten Bundesrepublik. Das heißt also, die Täter sind wieder davongekommen. Wenn ein Gewaltregime durch eine Demokratie abgelöst wird, kommen die Täter davon. Das hat sich am Beispiel der DDR wieder bestätigt. Und das ist überhaupt die schrecklichste Bilanz, die man ziehen muss. Das gilt nicht nur für das Deutschland nach Hitler. Es gilt auch für das Italien nach Mussolini, es gilt für das Spanien nach Franco, es gilt für die faschistischen Staaten in Südamerika, es gilt für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und es gilt für die DDR. Das heißt, wir können aus all dem nur eine wichtige Erkenntnis ziehen. Wenn ein solches System seine Macht etabliert hat, ist es schon zu spät. Dann wird es entweder von außen zerstört oder es implodiert von innen wie die Sowjetunion, aber kein Toter wird wieder lebendig, wir werden immer die selben hilflosen Gespräche über Sühne und Gerechtigkeit führen. Darum sage ich den jungen Leuten immer, ein solches System darf gar nicht erst seine Macht etablieren, weil sich die Menschen sonst so verhalten, wie sie sich geschichtsnotorisch verhalten haben, entweder als Täter oder als Mitläufer. Eine kleine Gruppe leistet Widerstand, aktiven oder passiven Widerstand, aber das Unglück ist da. Alles, was ich tue in diesen Jahrzehnten an Aufklärung, zielt eigentlich auf diesen Punkt ab: passt auf, dass wir das, was wir hier haben erhalten: dass ich hier angstfrei zu euch sprechen kann und ihr angstfrei zu mir sprechen könnt. Allen, die das antasten wollen, denen haut auf die Finger. Unter diesem Motiv hat mein ganzes Leben gestanden. Aber ich musste mich über einen politischen Irrtum auch erst dazu durchringen, dass die Humanitas für mich unteilbar geworden ist. Das bedeutet, Kritik, die kritische Methode muss alles umfassen. Ich will alles kritisch betrachten dürfen, alles, ich will den Gott der Juden kritisieren, den Gott der Christen, ich will Allah kritisieren dürfen, ich will sagen dürfen, Allah ist nicht der Vater von Jesus. Ich habe Respekt vor anderen Ansichten, aber ich will meine äußern können. Ich will niemanden beleidigen, der eine andere Meinung hat, aber ich will meine nicht verbergen müssen. Die kritische Methode ist eine Errungenschaft der judäo-christlichen Welt.


Jehle: Noch einmal zum Thema Erinnerungskultur, Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern. Nehmen wir mal an, die Tendenz, die wir jetzt im Osten haben, geht so weiter, die DDR, der Staatssozialismus, alles, was weltanschaulich dahinter steht, wird unter der Formel subsumiert „Gut gemeint, aber falsch umgesetzt“. Wenn sich das als allgemeine Haltung durchsetzt - wäre es nicht das Ende des „antitotalitären Konsens“, den die alte Bundesrepublik ein Stück weit als „Staatsraison“ hatte?


Giordano: Zunächst einmal, Verdrängung funktioniert nicht. Verdrängung tut nichts anderes als ein unaufgearbeitetes Stück Geschichte aus der Vergangenheit in die Gegenwart und damit auch in die Zukunft zu schieben. Verdrängung hilft einigen, kann die Täter begünstigen, aber auf Dauer lässt sich die Wahrheit nicht unterdrücken. Und wir sehen jetzt, dass auf dem Territorium der ehemaligen DDR ein solcher Versuch stattfindet, ein nostalgischer Prozess, es verklärt sich plötzlich, die DDR wird als eine harmlose Diktatur hingestellt, dabei hat sie zwei Generationen das Leben versaut, deshalb musste dieser Staat eine Mauer bauen. Mauern haben ja in der Regel die Funktion, dass die von draußen nicht nach drinnen können, aber diese Mauer ist gebaut worden, um die von drinnen nicht nach draußen zu lassen. Ein solcher Staat ist gar nicht im Stande gewesen, die Nazi-Vergangenheit ehrlich und offen zu behandeln.



RALPH GIORDANO

Erinnerungen eines Davongekommenen.


RALPH GIORDANO:
Erinnerungen eines Davongekommenen.




Verlag Kiepenheuer & Witsch
Köln 2008
420 Seiten
22,90 Euro 


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"Ralph Giordano hat spannende Lebenserinnerungen geschrieben. Ich bin froh und stolz, dass ich seit 50 Jahren zu seinen Freunden zählen darf." (FAZ)

"Ein zorniger Mann, ein zärtlicher Mann - so hat sich Ralph Giordano zwischen den Zeilen seines Buches selbst porträtiert. Einmal mehr hat er damit ins Schwarze getroffen." (Die Zeit)

"Eine dramatische und am Ende doch auch glückliche und erfolgreiche Lebensgeschichte."NDR"Nicht zufällig ist dieses derart spannend geschriebene Buch auch eine Freundschafts- und Weltchronik von Hamburg über Berlin, Lima, Rio de Janeiro, Tel Aviv und Palermo bis nach Köln!" (Rheinischer Merkur)



Jehle: Zur Zeit erleben wir also in der DDR einen ähnlichen Prozess, wie Sie ihn in „Die Zweite Schuld“ beschreiben für die ersten 20 Jahre der Bundesrepublik. Aber Sie gehen davon aus, dass sich die Klärung, die Aufarbeitung irgendwann Bahn bricht?


Giordano: Ja, ich bin überzeugt, die Wahrheit lässt sich auf die Dauer nicht unterdrücken. Nur, je länger eine offene und ehrliche Auseinandersetzung verschoben wird, desto schwieriger wird sie aufzuarbeiten sein. Was sich jetzt tut, dass in der DDR offensichtlich eine kollektive ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle nicht möglich ist, das wird Folgen haben. Dann wird man über die unbewältigte DDR-Vergangenheit noch in der Mitte des 21. Jahrhunderts sprechen müssen. So wie wir erlebt haben, dass – weil sie verdrängt worden ist – auch 60 Jahre nach 1945 in der alten Bundesrepublik noch die Nazi-Vergangenheit herumspukt. Wenn der letzte Verfassungsschutzbericht von 15.000 rechtsextrem motivierten Anschlägen berichtet im Jahre 2009, dann ist Deutschland mit seiner Vergangenheit immer noch nicht im Reinen. Das bedeutet nicht, dass die Rechtsextremen den demokratischen Verfassungsstaat zerstören können, aber die Schmerzgrenze beginnt vorher dort, wo wir sehen, dass Leute, die eigentlich verboten werden müssten von ihrem antidemokratischen Standpunkt her, von Polizeieskorten flankiert und beschützt werden.


Noll: Für wie besorgniserregend hältst Du Anknüpfungspunkte von Antisemitismus in Deutschland unter den muslimischen Jugendlichen heute, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Rezidive des alten immer noch vorhanden sind?


Giordano: Eine kurze Zeit lang habe ich geglaubt, nach meiner Befreiung durch die Briten, der Antisemitismus sei zu überwinden. Ich bin heute der Meinung, dass Judenhass, Antisemitismus nicht zu überwinden sind. Es ist ein geistgeschichtlicher Irrweg, eine Fehlhaltung in der Geistesgeschichte. Die Deutschen waren nicht die stärksten Antisemiten, ich denke, die Ungarn, die Weißrussen , die Ukrainer, die Polen waren antisemitischer, aber Auschwitz ist eine deutsche Installation gewesen. Der Antisemitismus ist wieder präsent, auch im wiedervereinigten Deutschland, eine Größe, eine politische Kraft, die offensichtlich unausrottbar ist. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland braucht sich von dieser Seite nicht, und schon gar nicht physisch, bedroht zu fühlen. Nicht, was die heutigen Deutschen anbetrifft. Aber was die starke muslimische Minderheit in Deutschland anbetrifft, kann man nur sagen, ohne dass ich sie dämonisieren will: die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat von dieser Seite eher Feindschaft, eher Animosität zu erwarten als alles andere. Die Identifikation mit den Palästinensern, mit der Hamas, mit der Hisbollah, mit dem Jihad ist größer als man sich eingesteht. Was diese Seite anbetrifft, die muslimische Seite hier in Deutschland, jetzt im Zusammenhang mit der jüdischen Gemeinschaft, da wird mir ein bisschen bänglich zumute. Ich sehe es an meinem eigenen Beispiel. In den Gazetten heißt es dann „Judi Assili Ralph Giordano“, „der Jude Ralph Giordano“. Warum? Weil ich mich dafür eingesetzt habe, dass der Völkermord an den Armeniern 1915/1916 im osmanischen Reichs an die Öffentlichkeit kommt.


Noll: Und das tust du schon lange. Wir haben uns 1987 kennen gelernt, bei einer Sendung im Westdeutschen Rundfunk. Es war eine Sendung über den Völkermord an den Armeniern, Du hattest mich eingeladen, weil ich als junger Mann in Armenien war und in meinem Buch den Völkermord erwähnt habe. Da sprachen wir das erste Mal darüber, solange setzt du dich schon für die überfällige Aufarbeitung dieses Verbrechens ein. Du warst, soweit ich weiß, der Erste in der Bundesrepublik...


Giordano: ... der Erste, der das in den öffentlichen Diskurs gebracht hat.


Noll: Schon von daher hast Du eine lange Vorgeschichte als unbeliebte Figur, als persona non grata in gewissen türkischen Kreisen.


Giordano: Ich bin persona non grata und das hat sich natürlich vertieft durch meine Kritik am Bau von Großmoscheen und vor allem am Islam.


Jehle: Was die Kritik am Islam betrifft, möchte ich mal zu den Ursachen gehen, wie Sie dazu kommen. Ich habe in Ihrem Buch „Deutschlandreise“ geblättert und bin von Ihnen auf diesem Spaziergang durch Duisburg-Laar mitgenommen worden in einem Kapitel, wo Sie diesen muslimisch geprägten Stadtteil in Duisburg eher wohlwollend betrachten. Sie erwähnen zwar die unterdrückte Lage der Frauen, aber Sie beschreiben das Muslimische eher positiv, sie kritisieren den protestantischen Pfarrer, der dort sehr ostentativ die christliche Fahne hoch hält. Im Großen und Ganzen hat man das Gefühl, Sie sind Anwalt dieser Minderheit, wie Sie sich insgesamt als Anwalt von Minderheiten verstehen. Aber heute lese ich von Ihnen Sätze wie „Der Islam ist das Problem“, „Deutsche Feigheit“, „Schleichende Islamisierung“. Wie kam es dazu? Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen? Was haben Sie in 10 Jahren für einen Wandel durchgemacht?


Giordano: In meinem Verhältnis zu Minderheiten, die bedroht sind, hat sich nichts geändert und wird sich nichts ändern. Noch heute sage ich, es ist die Ehre der Nation sich vor jeden von wem auch immer bedrohten Migranten zu stellen. Aber diese Minderheit ist nicht bedroht. Sie war es damals, als ich mich dagegen wehrte in der „Deutschlandreise“, damals ist ein rassistischer Flächenbrand über Deutschland gerast, und ich habe mich dagegen ausgesprochen. In der Zwischenzeit ist bei mir eine Erkenntnis dazugekommen, nämlich, dass ein politischer und militanter Islam eine große Gefahr ist für die Demokratie. Aber die Tatsache, dass einem die falschen Bundesgenossen auf die Schulter klopfen, kann mich nicht mundtot machen. Hier ist etwas ganz schreckliches im Gange. Die Leute sagen, ja, Giordano, Sie können sich das erlauben mit ihrer Biographie. Sie können nicht in die falsche Ecke gestellt werden. Als ich den Bau der Großmoschee in Köln-Ehrenfeld kritisierte und das an die Öffentlichkeit kam, bekam ich Hunderte und  Aberhunderte Briefe, die alle den selben Tenor hatten, nämlich, Giordano, wir fürchten wie Sie eine schleichende Islamisierung, wagen es aber nicht, öffentlich zu bekunden, weil wir dann in die falsche rechte, neonazistische, rassistische Ecke gestellt werden. Jetzt sind wir am neuralgischen Punkt der ganzen Geschichte angelangt. Von allen niederträchtigen Totschlagargumenten der Political Correctness ist dies das niederträchtigste, nämlich: wer den Bau von Großmoscheen kritisiert oder gar den Islam, macht die Sache der Nazis von heute. Das heißt, wir haben es mit einem Status quo zu tun, wo die Leute, Millionen in Deutschland, nicht wagen, ihre Meinung, ihre Beunruhigung zu äußern, weil sie dann in die falsche Ecke gestellt werden. Was – um Himmels willen – ist in diesem Land los?


Jehle: Darf ich da mal einhaken. Sie haben in der FAZ geschrieben, eine Ursache für dieses psychologische Verhalten sei der Schulddruck, der auf dem deutschen Volk lastet. Sehen Sie da einen Zusammenhang, dass dieser Schulddruck durch die „zweite Schuld“ entstanden ist und deshalb bis heute fortwirkt?


Giordano: Natürlich, das hängt mit der Geschichte der Bundesrepublik zusammen. Dieser Schulddruck ist nach wie vor da, ist ja an sich auch begrüßenswert, weil es eine moralische Reaktion ist.


Jehle: Wird aber jetzt, in diesem Zusammenhang, zum Nachteil.


Giordano: Er wird vor allem von dieser Political-Correctness-Clique, der linken, ausgenutzt. Das heißt, der Schulddruck liegt ja heute über Generationen, die total schuldlos sind - de jure, de facto, politisch und moralisch sind diese Generationen der Enkel völlig schuldlos. Und trotzdem hängt das über ihnen und wird von den Multi-Kulti-Illusionisten, den Gutmenschen vom Dienst, den xenophilen Einäugigen, den Beschwichtigungsaposteln, schamlos instrumentalisiert. Es ist ein Verbrechen, wie sie das ausbeuten, um ihren Beschwichtigungs-Kurs, um ihr Gutmenschentum zu legitimieren in Zusammenhang mit den muslimischen Parallelgesellschaften.


Jehle: Wenn Sie von schleichender Islamisierung sprechen, wer oder was ist Gegenstand dieser Islamisierung: die hier lebenden, gemäßigten, säkularen, unreligiösen Muslime oder meinen Sie Institutionen?


Giordano: Die Migrations-Frage, die Immigration und die Integration wird – wenn sie es nicht schon ist – das Problem Nummer Eins der deutschen Innenpolitik. Es ist aber auch ein Problem der Außenpolitik, vor allen Dingen durch die Türkei. Eine total verfehlte Immigrationspolitik hat uns hier etwas beschert, wovon niemand weiß, wie das Problem gelöst werden könnte. Es ist ganz schwer, das jetzt in wenige Worte zu fassen. Ich denke, dass das Problem verkörpert wird durch Verbände, es wird aber vor allem verkörpert durch das, was sich in den Parallelegesellschaften tut. Das heißt, eine total verfehlte Immigrationspolitik hat uns hier Millionen von Migranten beschert, wobei die berechtigten Eigeninteressen des Aufnahmelandes überhaupt nicht berücksichtigt wurden, ganz einfach deshalb, weil es in Deutschland keine größere Furcht gab als im Ausland als ausländer- und fremdenfeindlich wahrgenommen zu werden. Das hat die Atmosphäre bestimmt. Und das hat es mit sich gebracht, dass hier Millionen von Menschen vor allem aus der Türkei gekommen sind, die ohne jeden Nutzwert waren für das Aufnahmeland.


Jehle: Meinen Sie damit zum Beispiel bei den Türken, dass jetzt die dritte Generation, die jetzigen Kinder, Enkelkinder der ersten Generation, wieder religiöser wird, dass die jungen Mädchen ,– ich sehe das in Berlin – junge Frauen, junge Türkinnen heute häufiger ein Kopftuch tragen als die mittleren Alters, dass der Islam wieder an Bedeutung gewinnt in den Migrantenkreisen?


Giordano: Wir sehen, dass die dritte Generation, die Generation der Enkelinnen und Enkel, weniger deutsch spricht als ihre Väter und Mütter. Was ist da schief gelaufen? Wir haben riesige Parallelgesellschaften, Sitten, Gebräuche, Traditionen, die total unvereinbar sind mit dem Grundgesetz, mit der Demokratie, mit den Menschenrechten. Wir werden darüber aufgeklärt durch Muslime. Necla Kelek hat uns aufgeklärt, was die Lage der Frauen betrifft. Und zwar hier bei uns, nicht irgendwo in Saudi-Arabien, hier bei uns. Mina Ahadi und andere Frauen haben uns aufgeklärt, dass hier in den Parallelgesellschaften Zustände herrschen, die nicht geduldet werden dürften, aber geduldet werden. Deutschland hat bis heute keine Abwehrhaltung, die nötig ist, um die schleichende Islamisierung zu verhindern. Der Erfolg, den mein Protest hatte, ergibt sich daraus, dass ich etwas gesagt habe, öffentlich gesagt habe, was Millionen sagen möchten, aber nicht sagen können, weil eben dieser Schulddruck noch auf ihnen lastet.


Noll: Dann war es also richtig, dass Du hier geblieben bist. Du nimmst jetzt das Wort für die, die nicht sprechen können, weil sie sich mit der deutschen Schuld beladen fühlen. Einer Schuld, die Du immer wieder thematisiert hast. Aber jetzt sprichst Du für sie. Das ist ein starker Identifikationsprozess mit diesem Land. Vielleicht nicht mit allen Deutschen, schon gar nicht mit denen, die noch etwas mit der Nazi-Zeit zu tun haben. Aber das Land als solches verteidigst Du heute.


Giordano: Ich verteidige die demokratische Republik, die dafür steht, dass ich als Publizist jederzeit sagen und schreiben konnte, was ich wollte. Das ist mir ungeheuer wichtig.


Jehle: Ich sehe da einen neuen Giordano, der sich auch ein Stück weit widerspricht, zumindest, was ich rausgelesen habe. Kann es sein, dass Sie die Kräfte, die für die von Ihnen geforderte „kulturelle Selbstbehauptung“ stehen und schon immer gestanden haben, selbst lange kritisiert haben? Ich denke etwa an den schon erwähnten christlichen Pfarrer in Ihrem Buch „Deutschlandreise“ oder Ihre Kritik an einem „unsterblichen Konservatismus“, den Sie in „Die zweite Schuld“ auf die „Schlussstrichmentalität“ der Nachkriegsjahre verengen. Traditionelle Werte, das Bekenntnis zu Land und Heimat etc. werden doch für die heute von Ihnen geforderte „kulturelle Selbstbehauptung“ dringend gebraucht. Und ich finde, dass Sie früher gerade diesen traditionellen Kräften in der Gesellschaft oft nur auf das NS-Thema verengt haben, auf die fehlende Aufarbeitung. Aber dass diese Kräfte auch ganz andere Eigenschaften haben, Vaterlandsliebe, kulturelle Selbstbehauptung, das was wir heute zunehmend brauchen ...


Noll: … oder anders gesagt, gibt es nicht auch gute konservative Kräfte in Deutschland? Konservativ im Wortsinn, indem sie das bewahren wollen, was Deutschland erreicht hat nach dem Krieg... Konservative, die jetzt gebraucht werden?


Giordano: Meine Ideologische Befreiung besteht unter anderem darin, dass ich Konservative kenne, die ich achte, die ich ehre, Richard von Weizsäcker zum Beispiel, auch andere. Und dass es Linke gibt, die ich nicht mit der Fingerspitze anfassen würde... Insofern bin ich frei von Ideologien. Man kann nicht sagen „die Konservativen“. Es gibt solche und solche. Ich würde mich heute auch nicht mehr als Linken bezeichnen.


Noll: Du würdest heute gegenüber Deutschen, die ihr Land lieben, die sagen, ich liebe Deutschland, ich bin gern Deutscher ... kein Misstrauen mehr aussprechen?


Giordano: Absolut. Wenn ich – es ist mehrere Male geschehen – im Ausland erlebt habe, wie jugendliche Deutsche behandelt worden sind, denen vorgeworfen wird, wofür sie nicht verantwortlich sein können, nämlich für die Untaten ihrer Großväter, also dann komme ich dazwischen und werde denen, die solche Vorwürfe vorbringen, die Leviten lesen. Seit 25 Jahren spreche ich vor jungen Deutschen an Schulen, immer wieder sage ich, mache ich den jungen Leuten klar, ihr müsst Euch mit eurem Land identifizieren, wenn ihr das nicht tut, was für alle anderen selbstverständlich ist, dann werden sich in diesem Vakuum rechtextreme Ideen einnisten. Es ist wichtig, dass die Deutschen zu sich selbst finden, verdammt noch mal, zu ihrer Identität finden. Ich tue nichts anderes, als den jungen Leuten das klar zu machen. Das ist etwas ganz elementares und ganz wichtiges.





Noll: Das erinnert auch an einen anderen Gedanken, den Du vorhin ausgesprochen hast: Deutschland ist heute integriert in das vereinigte Europa, Deutschland steht nicht für sich, sondern hat im Verbund, im Netz der westlichen Welt eine geographisch und auch sonst zentrale Stelle. Von daher habe auch ich heute ein anderes Verhältnis zu Deutschland. Ich sehe Deutschland nicht mehr nur als Land der Katastrophe, sondern als den modernen Staat in der Mitte Europas. Schon, weil jetzt Generationen herangewachsen sind, die wirklich – selbst nach biblischen Vorstellungen – nicht mehr verantwortlich gemacht werden können für das, was vor ihnen war. Auch der biblische Gott macht Schluss mit seinem Zorn bei der vierten Generation, und dann ist es verziehen. Und im heutigen Zusammenhang, geopolitisch gesehen, kulturell, aus Gründen des Überlebens, brauchen wir alle ein starkes und stabiles Deutschland.


Giordano: Ja, Deutschland ist eingebettet in Europa und es gibt dazu – für den demokratischen Verfassungsstaat – überhaupt keine Alternative. Nur, wie alles Kostbare und Schöne ist es gefährdet, ist es bedroht, muss es verteidigt werden.


Noll: Das heißt, man muss die jungen Leute in Deutschland ermutigen, ihr Land zu verteidigen?


Giordano: Selbstverständlich. Was sich da bei der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren ereignete, das hat mich berührt. Warum? Weil ich zum ersten Mal, wenn sie die Fahnen schwenkten oder wenn sie sangen, keine Beklemmungen gefühlt habe. Zum ersten Mal habe ich keine Beklemmungen gefühlt, wenn Deutsche hinter Fahnen herlaufen, junge Leute, denen das einfach aus dem Gesicht leuchtete, die sich dazu bekannten, ohne dass es nationalistisch war oder chauvinistisch oder rassistisch. Und da habe ich gedacht, verdammt noch mal, hier ist ja etwas groß geworden, herangewachsen, was Du fördern musst. Mir ist klar geworden, dass sich etwas getan hat, was natürlich auch wieder dazu beigetragen hat, dass meine Zugehörigkeit ein Stückchen enger wurde. So einer Generation kann ich mich eher anschließen als der Generation der Väter oder Großväter, die nicht den Mut hatten, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen. Und in Folge dessen habe ich mir vorgenommen, solange ich überhaupt noch antreten kann vor jungen Leuten, mach ihnen klar, ihr seid Deutsche, ihr habt keine Schuld an dem, was da geschehen ist. Aber wie ihr seid, welche Persönlichkeit ihr seid, das hängt davon ab, wie ihr zu diesen Verbrechen steht, wie ihr euch damit auseinandersetzt oder nicht auseinandersetzt. Also in der Verbindung, in der Kette der nationalen Geschichte stehen sie natürlich, aber nicht mehr in Schuld, sondern in Verantwortung.


Noll: Und verteidigt es gegen Versuche, von welcher Seite auch immer, es wieder zu zerstören...


Giordano: Mein Kampf gegen den politischen und militanten Islam ist kein Bruch mit meiner biographischen Tradition, sondern ihre Fortsetzung. Ich habe von einem bestimmten Punkt an erkannt, dass hier eine Kraft im Gange ist, die ihre Aggression mehr und mehr nach außen lenkt, gegen andere. Eine Größe ist, mit der man sich auseinandersetzen muss. Das ist in der Zwischenzeit akut geworden, weil das Problem immer dringender geworden ist. Die Beschwichtiger, die feigen deutschen Politiker, haben dieses Problem über Jahrzehnte hin geschönt, verdrängt, weil sie Angst hatten, dass sie, wenn sie so nicht handeln würden, wenn sie Regularien für Einwanderung schaffen würden, sofort in den Verdacht kommen, ausländer- und fremdenfeindlich zu sein. Das hat die Immigrationspolitik der Bundesrepublik bestimmt und das war falsch. Deutschland hätte sich früh als Einwandererland erklären müssen mit Gesetzen und Regulierungen. Das ist nicht geschehen. Was ist die Folge? Es sind hier Millionen von Menschen eingelassen worden, die zum großen Teil den Sozialkassen zur Last fielen und fallen, in einem Land, in dem es schon 5 Millionen Arbeitslose gibt... Das ganze ist ein gravierendes innenpolitisches Problem, bei dem wir natürlich die muslimische Gemeinschaft nicht unter Generalverdacht stellen können und wollen. Wer will das? Nur, man muss die Dinge beim Namen nennen, auch wenn sie weh tun. Und da kann ich nur sagen: in den Parallelgesellschaften, die sich hier gebildet haben durch eine falsche Immigrationspolitik, gibt es Zustände, die nicht akzeptabel sind. Das geht in die Tiefe. Ich sage immer, nicht die Moschee, der Islam ist das Problem.


Noll: Warum ist der Islam das Problem?


Giordano: Der Islam ist das Problem, weil das Ganze geschieht vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, die die islamische Welt bei der Anpassung an die Moderne hat. Da sind wir am neuralgischen Punkt angelangt. Es sind Araber selber, Muslime, die sagen, die Schwierigkeiten, die wir haben bei der Anpassung an die Moderne, liegen in unserer Religion. Das wagt kein Deutscher zu sagen. Selbst die, die kritisch sind gegenüber der schleichenden Islamisierung wagen es nicht zu sagen.


Jehle: Sie haben vorhin erwähnt, das islamische Thema würde nicht nur die Innenpolitik bestimmen, sondern auch die auswärtigen Beziehungen, insbesondere zur Türkei. Wie stehen Sie zu einem möglichen Beitritt der Türkei zur EU?


Giordano: Die Türkei war nicht Europa, ist nicht Europa und wird niemals Europa sein. Und was sie tut um wirtschaftlicher Vorteile willen, ist eine schreckliche Fehlidentifizierung, die der Türkei nur schaden kann. Die Türkei ist ein großes muslimisches, asiatisches Land mit einigen europäischen Bindungen an der Peripherie, aber grundsätzlich ein Land, das in wenigen Jahren hundert Millionen Menschen haben wird, mit Problemen, die zunächst einmal in den nächsten Jahren unlösbar sind, Fundamentalismus, das Kurdenproblem... Und eine Tradition, die mit der europäischen Aufklärung überhaupt nichts zu tun hat. Die Türkei wird niemals in die EU kommen, aber sogar eine privilegierte Partnerschaft ist abhängig davon, muss gehen durch das Nadelöhr der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern 1915/1916 im türkisch-osmanischen Reich, sonst wird die Türkei nicht einmal eine privilegierte Partnerschaft erhalten. Meine Meinung ist ganz klar: die Türkei ist nicht Europa und wird nicht Europa sein, und tut sich selber nichts Gutes, indem sie versucht, in die Europäische Gemeinschaft zu kommen. Sie wird nicht hinein kommen, denn dazu wäre die Zustimmung aller Länder nötig. Feige deutsche Politiker, allen voran Schröder, tun so, als ob sie bereits Vollmitglied der EU ist, und haben sich damit vergangen am Schicksal der künftigen Generationen. Das muslimische Problem hier in Deutschland ist in aller erster Linie ein Problem der türkischen Minderheit. Und da spielt die Türkei mit hinein, als Staat, alles wird letztlich von da gelenkt. Der türkische Premierminister Erdogan war hier und hat in der Köln-Arena gesprochen zu 18.000 Menschen. Die Rede ist eine Kriegserklärung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft gewesen, eine Kriegserklärung an die Integration. Er hat verschlüsselt gesagt: „Schön, lernt Deutsch, bleibt aber, wie ihr seid. Bildet einen Staat im Staate, aber nennt es nicht so.“ Das sind die wirklichen Absichten, und die werden verkörpert durch Verbände, die hier tätig sind, durch Funktionäre, die behaupten, hier auf dem Bildschirm, die Scharia, das islamische Recht, ist vereinbar mit dem Grundgesetz. Ich habe gesehen, wie Aiman Mazyek, einer der Hauptfunktionäre des größten türkischen Verbandes, im Fernsehen erklärt hat, Grundgesetz und Scharia sind miteinander vereinbar. Ich traf ihn dann bei den „Aschaffenburger Gesprächen“ von Guido Knopp, da war er eingeladen und ich auch, um über diese Problematik zu sprechen, und habe ihn vor den Zuschauern gefragt: Sie haben gesagt, die Scharia ist vereinbar mit dem Grundgesetz, wiederholen Sie das hier? Ja, sagt er. Meine Auffassung von Demokratie ist: am Kragen gepackt, raus aus Deutschland. Das ist meine Auffassung von Demokratie. Aber wir sehen bloß zu, was uns da bedroht, was da im Gange ist...


Noll: Du hältst die Scharia, islamisches Recht, grundsätzlich für eine Bedrohung in einem demokratischen Staat?


Giordano: Ich habe es mir angetan und habe den Koran gelesen. Von der ersten bis zur letzten, bis zur 140. Sure. Es ist eine Lektüre des Schreckens und des Wahnsinns. Es wird fortwährend dazu aufgerufen, die Ungläubigen zu töten, vor allem aber die Juden, die Juden, die Juden. Ich habe Streichers „Stürmer“ noch erlebt, wenn ich zur Schule ging, da kam ich an so einem Kasten vorbei, wo Streichers „Stürmer“ aushing. Ich sage euch, nachdem ich den Koran gelesen habe: der Koran ist das judenfeindlichste Buch, das mir in meinem langen Leben jemals vor die Augen gekommen ist. Was können wir davon erwarten?


Noll: Das ist eine sehr weitgehende, mutige Aussage. Auch hier in Deutschland, im Westen traut sich kaum jemand, das zu sagen.


Giordano: Das traut sich keiner zu sagen, selbst die Kritiker, die sich an die empfindlichen Frage herantasten. Zu sagen, nicht die Moschee, der Islam ist das Problem. Das ist das stärkste und größte Tabu von allen. Aber es berührt den Kern der Sache. Wir haben es zu tun mit dem Zusammenstoß zweier Kulturkreise, hier bei uns, im Herzen Europas, die beide in einem höchst unterschiedlichen Entwicklungsstadium sind. Und das macht sich hier bemerkbar, nicht nur da, wo sie schon immer sind, sondern hier, wo sie neu sind, wo sie mit anderen zusammentreffen. Eine personelle, individuelle Integration ist möglich. Jeder von uns kennt Muslime, die gut integriert sind, von denen wir nichts zu befürchten haben. Nur, es ist nicht exemplarisch. Es ist nicht die Tendenz. Die Schicksalsfrage, vor der Deutschland steht im 21. Jahrhundert, ist daher: wird die türkisch dominierte muslimische Minderheit in Deutschland kollektiv integrierbar sein oder nicht. Und ich glaube, dass diese türkisch dominierte muslimische Minderheit in Deutschland nicht kollektiv integrierbar ist. Das eigentliche Problem besteht also darin, wie wir trotzdem friedlich mit ihnen auskommen, auch wenn sie nicht integriert sind. Das weiß niemand zu sagen.


Noll: Nun wäre die Frage, die ein Journalist hier unweigerlich stellen würde: Wenn sie nicht kollektiv integrierbar sind, was dann?


Giordano: Ja, was dann, das ist die Frage. Aber solchen geschichtlichen Wahrheiten müssen wir uns stellen, müssen sie voraussehen. Müssen uns überlegen, was man tut, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wir haben es mit drei Gruppen zu tun. Erstens: die Terroristen. Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber alle Terroristen sind derzeit Muslime. Das ist eine verhältnismäßig kleine Gruppe. Deutschland ist schon bedroht von ihnen gewesen, Kofferbomber oder die Sauerland-Gruppe. Größer ist schon die zweite Gruppe, die der Sympathisanten, auch wenn das nicht oft gesagt wird. Aber das eigentliche Problem ist ein sozio-kulturelles, nämlich die Masse der Muslime, die sich keine Dynamit-Gürtel umbinden, die nicht andere Menschen in die Luft sprengen wollen und trotzdem von ihren Sitten, Gebräuchen und Traditionen her aus einer ganz anderen Welt kommen. Auch ohne, dass sie sympathisieren, ohne, dass sie aggressiv werden, sind sie ein sozio-kulturelles Problem, weil ihre Traditionen ganz andere sind. Das ist die dritte, die größte der Problemgruppen.


Noll: Es sind nicht nur Traditionen oder äußere Gewohnheiten. Es ist das Menschenbild, das Verhältnis zum Anderen. Also die Grundlage des Gesellschaftlichen. Gibt es aus Deiner Sicht tiefe, unüberwindliche Gegensätze zwischen dem westlichen, dem biblisch geprägten Menschenbild und dem islamischen?


Giordano: Zum Beispiel die Rolle der Frau, die Stellung der Frau in der muslimischen Gesellschaft. Sie ist aus unserer Sicht absolut und total inakzeptabel. Die muslimische Gesellschaft ist bis in den Kern sexistisch. Eine Familienehre, die sich über die Genitalien der Frau, Töchter, Schwester definiert, ist zutiefst sexistisch. Das fängt beim Kopftuch an. Hier wird ein Männerproblem auf Kosten der Frauen ausgetragen, an die Frauen delegiert. Heute gibt es zwar immer mehr Frauen, die sich dagegen empören, die dagegen aufbegehren, aber das grundsätzliche Bild, das der Islam von den beiden Geschlechtern hat, von ihrer Unterschiedlichkeit zu Ungunsten der Frauen und zu Gunsten der Männer, wer glaubt, dass das geändert wird, nennenswert, der irrt. Hier gibt es etwas, das uns akut bedroht, das unser Wesen tief in Frage stellt, eine Erkenntnis, die ich vorher nicht hatte, was überhaupt nichts ändert an meinem inneren Verhältnis zu Minderheiten und an allem, was ich bis dahin geschrieben, gesagt und gefilmt hatte. Meine Auseinandersetzung mit dem militanten und politischen Islam auf deutschem Boden ist eine Fortsetzung der Auseinandersetzung, die ich im Interesse der Aufklärung mein ganzes Leben in diesem Land geführt habe.


Noll: Siehst Du darin eine Bestätigung Deines Hierseins?


Giordano: Ja, jetzt in der zweiten Hälfte des neunten Lebensjahrzehnts komme ich zu dem Schluss, dass ich mit diesem Deutschland unlösbar verbunden bin. Dass es da keine Alternative gibt. Und dass ich mich dazu auch bekenne, mit all den Schmerzen, die das bedeutet, aber auch der Freude, dem Glück. Denn mein Werk hat seine Wirkungen. Die Resonanz ist sichtbar. Mein ganzer Nachlass kommt ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Es ist nicht so, dass ich diese Welt verlasse und den Eindruck haben muss, ich hätte nichts von dem, was ich wollte, bewegt. Nun wollen wir mal sehen, wie lange ich das noch mache.


Noll: Bis 120 hast Du ja noch einige Zeit vor Dir! Wir danken Dir für dieses Gespräch.





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DIE INTERVIEW-BETEILIGTEN

RALPH GIORDANO
MARTIN JEHLE / CHAIM NOLL


Ralph Giordano, 1923 in Hamburg geboren, ist Publizist, Schriftsteller und Regisseur. Als Schüler und Sohn einer jüdischen Mutter überlebte er das nationalsozialistische Unrechtsregime, das sein ganzes Lebenswerk prägen sollte. In dem autobiographischen Roman "Die Bertinis" legte er von seinen Erlebnissen und Erfahrungen im Hitler-Deutschland Zeugnis ab. Durch seine kompromisslose Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus und Sozialismus avancierte er zu einem kritischen Beobachter und Kommentator der deutschen Zeitgeschichte. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen unter anderem "Israel, um Himmels willen, Israel" (1991), "Wird Deutschland wieder gefährlich?" (1993), "Ostpreußen ade" (1994) und "Mein irisches Tagebuch" (1996). Für seine publizistische Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen.

Chaim Noll, ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays. (Siehe auch seine zahlreichen Online-Extra-Beiträge: Übersicht)

Martin Jehle, geb. 1982 in Berlin, Studium der Rechtswissenschaft, zur Zeit Rechtsreferendar, gelegentliche journalistische Tätigkeit.


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