Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 102

September 2009

Wohl kein anderes Volk und kein anderer Staat sah und sieht sich in Geschichte und Gegenwarrt immer wieder mit der realen Bedrohung seiner Existenz konfrontiert wie das jüdische Volk und der Staat Israel. Die Frage, welches (politische, militärische, kollektive wie individuelle) Handeln in Anbetracht dieser Bedrohung moralisch gerechtfertigt ist, wird nicht nur als kritische Anfrage immer wieder von außen an Juden und den Staat Israel herangetragen, sondern stellt sich auch innerjüdisch aufgrund des hohen moralischen Anspruchs der jüdischen Religion und Tradition selbst. Was aber, wenn im Extremfall die Treue gegenüber der eigene Moral mit dem Willen und Recht zum eigenen Überleben kollidiert? Welchem der beiden Werte ist dann ein höherer Rang einzuräumen? Anders formuliert: Was ist der Güter höchstes? Das (Über-)Leben oder die Moral?

Um diese Fragen und Probleme entspann sich im vergangenen Jahr ein stellenweise heftiger innerjüdischer Diskurs, für den die Neukirchener Theologische Zeitschrift "Kirche und Israel" in ihrer Ausgabe 2/2008 ein eindrucksvolles Beispiel dokumentierte. Ausgangspunkt war in diesem Fall ein Text des renommierten israelischen Politikwissenschaftlers Yhezkel Dror, der die programmatische Überschrift trug: "Wenn das Überleben des jüdischen Volkes auf dem Spiel steht, bleibt kein Platz für die Moral". Auf diesen Beitrag antwortete in scharfer Form unter dem Pseudonym Jeremiah Haber ein ortdox-jüdischer Professor für Jüdische Studien. Ekkehard W. Stegemann, Professer für Neues Testament an der Universität Basel und Mitherausgeber von "Kirche und Israel", kommentierte schließlich die Debatte in einem kurzen Beitrag.

COMPASS freut sich, Ihnen diese drei Beiträge heute online-exklusiv als Online-Extra Nr. 102 präsentieren zu können und 
dankt den Autoren, der Übersetzerin und der Redaktion von "Kirche und Israel" für diese Möglichkeit der Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!

© 2009 Copyright bei Autoren und Redaktion von "Kirche und Israel" 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA





Online-Extra Nr. 102


Der Güter höchstes: Leben oder Moral? 

Eine innerjüdische Wertedebatte mit Beiträgen von: 

YEHEZKEL DROR und JEREMIAH HABER
sowie einem Kommentar von EKKEHARD W. STEGEMANN




YEHEZKEL DROR: Wenn das Überleben des jüdischen Volkes auf dem Spiel steht, bleibt für Moral kein Platz

JEREMIAH HABER: Yehezkel Drors Verteidigung jüdischen Faschismus

EKKEHARD W. STEGEMANN: Das Leben des jüdischen Staates und Volkes ist der Güter höchstes - oder nicht?




Wenn das Überleben des jüdischen Volkes auf dem Spiel steht, bleibt kein Platz für die Moral




YEHEZKEL DROR


Yehezkel Dror, geb. 1928, ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem und Gründungspräsident des Jewish People Policy Planning Institute. Schwerpunkte seines Interesses sind politische Planung und strategische Fragen. Zwei Jahre war er Mitglied des Senior bei der RAND Corporation in den USA, leitete die Strategic Studies Section des Davies Institute for International Relations an der Hebräischen Universität, und ist Mitglied des International Institute of Strategic Studies sowie des Club of Rome. Zwei Jahre beriet er das israelische Verteidigungsministerium als Senior Policy Planning and Analysis Advisor. Er beriet das israelische Kabinett sowie verschiedene Premierminister. (a)



Es besteht wenig Dissens darüber, dass jeder jüdische politische Verantwortliche, jede jüdische Organisation und Gemeinschaft und jedes jüdische Individuum die Pflicht hat, den Fortbestand des jüdischen Volkes sichern zu helfen. Doch in einer Welt, in der die längerfristige Fortexistenz des jüdischen Staates weit entfernt davon ist, sicher zu sein, wirft der Imperativ zu existieren unausweichlich schwierige Fragen auf, und zwar vor allem die folgende: Wenn das Überleben des jüdischen Volkes im Widerstreit zur Moral des jüdischen Volkes steht, ist dann die Existenz des jüdischen Volkes noch lohnenswert oder gar möglich?

Die physische Existenz – so behaupte ich – muss an erster Stelle stehen. Ungeachtet dessen, was eine Gesellschaft zu sein anstrebt, muss die physische Existenz den Vorrang vor allem haben.

Klare äußere wie innere Gefahren bedrohen die bloße Existenz Israels als jüdischer Staat. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der Zusammenbruch Israels oder der Verlust seines jüdischen Charakters die Existenz des jüdischen Volkes insgesamt untergraben würde. Aber auch wenn die Fortexistenz des jüdischen Staates gegeben ist, so bedrohen noch wenig klare, aber nicht weniger schicksalhafte Gefahren die längerfristig nachhaltige Existenz der Diaspora.

Wenn daher die Erfordernisse der Existenz mit anderen Werten im Widerstreit liegen, so muss der „Realpolitik“ der Vorrang eingeräumt werden. Es muss dieser Imperativ die Politikmacher leiten, und zwar von der Bedrohung durch einen desaströsen Konflikt mit islamistischen Akteuren, wie etwa dem Iran, bis hin zur Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen „uns“ und „anderen“, um die Assimilation zu begrenzen.

Bedauerlicherweise widerlegt die Menschheitsgeschichte die idealistische Forderung, dass ein Staat, ein Volk oder eine Gesellschaft moralisch sein muss, um dauerhaft zu bestehen. Angesichts der vorhersehbaren Realitäten des 21. Jahrhunderts und darüber hinaus sind herbe Entscheidungen unvermeidbar, verbunden mit Existenzansprüchen, die oft im Widerspruch zu anderen wichtigen Werten stehen.

Manche mögen dagegen einwenden, dass es kontraproduktiv hinsichtlich der Existenz selbst sein könnte, wenn die Existenz an die erste Stelle gesetzt wird. Denn das, was als unmoralische Handlungen angesehen werden könnte, könnte äußere wie innere Unterstützung unterminieren, die ja für die Existenz wesentlich ist.

Gleichwohl verleiht das Kalkül der „Realpolitik“ der Existenz den Vorrang und lässt nur begrenzten Spielraum für ethische Überlegungen übrig. Die traurige Wirklichkeit ist, dass das jüdische Volk mit tragischen Wahlmöglichkeiten konfrontiert werden könnte, wobei wichtige Werte um noch wichtigerer Werte willen geopfert werden müssten.

Verantwortungsvolle Entscheidungen in solch schwierigen Situationen erfordern klares Erkennen der involvierten moralischen Fragen, behutsames Abwägen aller relevanten Werte und die Übernahme der Verantwortung für ein eigenes autonomes Urteil. Sie erfordern zugleich die Anstrengung zur Reduzierung der Verletzung der moralischen Werte auf ein Minimum.

Wenn das jüdische Volk sich solchen Alternativen gegenübergestellt sieht, darf es sich trotzdem nicht von political correctness oder von anderen das Denken unterdrückenden Moden gefangen nehmen lassen. Im Hinblick auf China, beispielsweise, sollten die Anstrengungen, die Beziehungen dieser wachsenden Supermacht zum jüdischen Volk zu verstärken, moralgebundene Kampagnen zur Änderung von Beijings Verhalten in internen Fragen und im Verhalten in Tibet übertrumpfen. Gleiches gilt für die Türkei. Angesichts seiner wichtigen friedensschaffenden Rolle im Nahen Osten, sollte die Diskussion darüber, ob die Osmanen einen Völkermord an den Armeniern begangen haben, den Historikern überlassen bleiben, vorzugsweise nichtjüdischen Historikern.

Dies bedeutet nicht zwingend, Chinas Politik stillschweigen zu dulden oder die armenische Geschichte zu leugnen. Vielmehr bedeutet dies anzuerkennen, dass das jüdische Volk der Existenz den Vorrang einräumen muss, wie richtig oder auch nicht solche moralischen Haltungen auch immer sein mögen.

Was benötigt wird ist ein A-priori-Abwägen von Werten, um so Richtlinien zu haben, die für die Beurteilung in spezifischen Kontexten und unter Krisenbedingungen bereitstehen. Der Kernpunkt von allem ist, ob der Imperativ für das jüdische Volk, seine Existenz zu sichern, ein kategorischer Imperativ ist, der fast alle anderen Werte außer Kraft setzt oder unter vielen vergleichbar beständigen Imperativen einen Vorrang einräumt. Sowohl im Hinblick auf die Geschichte als auch angesichts der gegenwärtigen Situation des jüdischen Volkes plädiere ich dafür, dass der Imperativ, die Existenz abzusichern, von vorrangigem moralischen Gewicht ist.

Das Vertrauen auf transzendentale Argumente, biblische Gebote und Sprüche der Weisen, die alle für unterschiedliche Interpretationen offen sind, lassen wir außer Betracht. Die Rechtfertigungen, den notwendigen Belangen der Existenz Vorrang zu geben, sind vierfach:

Erstens. Das jüdische Volk hat – wie jedes andere Volk oder Zivilisation – das angeborene Recht zu existieren.

Zweitens. Ein Volk, das über 2.000 Jahre regelmäßig Verfolgungen ausgesetzt war, hat – im Sinn von ausgleichender Gerechtigkeit – das moralische Recht, um seine Existenz besonders besorgt zu sein, was das moralische Recht, ja sogar die Pflicht einschließt, zu töten oder getötet zu werden, wenn dies essentiell für die Sicherung der Existenz ist und auch wenn es zu Lasten anderer Werte oder anderer Völker geht. Dieses Argument zwingt sich im Lichte des beispiellosen Ermordens eines Drittels des jüdischen Volkes vor einigen Jahrzehnten umso stärker auf – ein Massenmord, der direkt oder indirekt unterstützt oder wenigstens nicht verhindert wurde, obwohl möglich durch große Teile der zivilisierten Welt.

Drittens. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Judentums und des jüdischen Volkes scheint es sehr wahrscheinlich, dass wir auch weiterhin dringend benötigte ethische Beiträge für die Menschheit leisten werden. Um dies jedoch tun zu können, ist eine stabile Existenz erforderlich.

Viertens. Der Staat Israel ist der einzige demokratische Staat, dessen bloße Existenz durch tief feindlich gesonnene Akteure gefährdet ist – wiederum ohne dass die Welt entscheidende Gegenmaßnahmen ergreift. Dies rechtfertigt – ja erfordert – Maßnahmen, die nicht nur notwendig, sondern auch potentiell unmoralisch unter anderen Bedingungen sein können.

Das jüdische Volk sollte ein viel größeres Gewicht dem Imperativ der Absicherung seiner Existenz geben als allen anderen Werten. Gewiss gibt es auch Grenzen. Nichts kann das Initiieren eines Völkermordes rechtfertigen. Mit wenigen Ausnahmen jedoch, wo es z. B. besser ist, getötet oder vernichtet zu werden, als absolute und totale Normen zu überschreiten, muss die Absicherung der Existenz des jüdischen Volkes, die Existenz des jüdischen Staates Israel eingeschlossen, als höchste Priorität gewertet werden.

Wenn daher die Sicherheit Israels signifikant durch gute Beziehungen mit der Türkei und China gestärkt wird, nach manchen Ansichten aber die Türkei sich in der Vergangenheit des Genozids an den Armeniern schuldig gemacht hat und China gegenwärtig Tibet und eine eigene Opposition unterdrückt, müssen jüdische Verantwortliche und Organisationen die Türkei und China unterstützen, oder sich jedenfalls neutral verhalten, wenn es um deren Angelegenheiten geht. Wenigstens sollten jüdische Verantwortliche nicht in den Chor liberaler und humanitärer Aktivisten mit einstimmen, die die Türkei und China verurteilen.

Gleichermaßen sollten jüdische Verantwortliche harte Maßnahmen gegen Terroristen, die Juden potentiell gefährden, unterstützen, sogar um den Preis von Menschenrechten und humanitären Gesetzen. Wenn die Bedrohung ernst genug ist, wäre der Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Israel gerechtfertigt, sofern das womöglich notwendig ist, um das Überleben des Staates abzusichern, und zwar trotz des bitteren Preises einer großen Zahl getöteter unschuldiger Zivilisten.

Ganz sicher gibt es viele Möglichkeiten, darüber zu diskutieren, was wirklich notwendig ist, um überleben zu können. Deshalb schließt die Priorisierung des Imperativs zur Existenzwahrung keineswegs eine Unterstützung jeglicher Politik des Staates Israel mit ein. Das Gegenteil trifft zu. Verantwortliche in der Diaspora, Organisationen und Individuen haben die Pflicht, israelische Politik zu kritisieren, wenn sie aus ihrer Sicht die Existenz des Staates und die Existenz des jüdischen Volkes gefährden. Diese Kritik muss allerdings mit Alternativvorschlägen einhergehen, wie die Existenz des jüdischen Volkes garantiert werden kann.

Doch am Ende geht kein Weg an den harten und schmerzlichen Implikationen der Priorisierung der Existenzsicherung als einer vorrangigen moralischen Norm vorbei. Wenn es für die Existenz wichtig ist, muss das Übertreten der Rechte anderer mit Bedauern, aber mit Entschlossenheit akzeptiert werden. Unterschützung oder Verurteilung seitens verschiedener Länder und ihrer Politik müssen primär im Licht mutmaßlicher Folgen für die Existenz des jüdischen Volkes beurteilt werden.

Zusammengefasst: Dem Imperative der Existenz sollte Vorrang vor anderen Interessen eingeräumt werden – so wichtig auch immer diese sein mögen – einschließlich liberaler und humanitärer Werte, Unterstützung für Menschenrechte und Demokratisierung. Die tragische, jedoch zwingende Schlussfolgerung ist nicht leicht zu schlucken, doch ist sie essentiell für die Zukunft des jüdischen Volkes. Ist unsere Existenz einmal gesichert, einschließlich der grundlegenden Sicherheit des Staates Israel, kann und muss vieles geopfert werden um des tikkun olam(b) willen. Doch angesichts der gegenwärtigen und vorhersehbaren Realitäten muss die Absicherung der Existenz vorgehen.


Aus dem Englischen übersetzt von Edna Brocke.


ANMERKUNGEN

(a) Der Beitrag ist unter http://www.forward.com/articles/13388/ zu finden.

(b)  Tikkun Olam ist ein hebräischer Ausdruck, welcher „Verbesserung der Welt“ oder „Reparieren der Welt“ bedeutet. Im Judentum entstand das Konzept des tikkun olam ursprünglich in der frühen Periode des Rabbinischen Judentums. Dieses Konzept wurde in der jüdischen Kabbala aufgenommen und erhielt neue Bedeutungen während des dunklen Mittelalters und weitere Bedeutungsbeilegungen in modernen Strömungen des Judentums.




KIRCHE UND ISRAEL
Neukirchener Theologische Zeitschrift



Herausgegeben von
Edna Brocke, Hans Hermann Henrix, Rolf Rendtorff, Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann, unter Mitarbeit von Gerhard Langer (für Österreich) und Gabriele Oberhänsli-Widmer (für die Schweiz) sowie namhafter Fachgelehrter



Heft Nr. 2 - 2008
Aus dem Inhalt (Auszug):



Meir Soloveichik:
Das Rätsel um die Menorah
Adele Reinhartz:
'Juden' und Juden im vierten Evangelium
Hans Hermann Henrix
Selbstliebe als Maß der Nächstenliebe?

Bestellungen und Verlag:
Neukirchener Verlagsgesellschaft GmbH;
Postfach 10 12 65
47497 Neukirchen-Vluyn




Yehezkel Drors Verteidigung jüdischen Faschismus’ im Forward




JEREMIAH HABER


Jeremiah (Jerry) Haber ist das Pseudonym eines orthodoxen Professors für Jüdische Studien, der seine Zeit zwischen Israel und den USA aufteilt (so seine Selbstbeschreibung). Habers Beitrag erschien in seinem Blog "The Magnes Zionist"1



„Faschismus” bedeutet verschiedenen Menschen Verschiedenes und ist – wie ich zugeben muss – ein hoch belasteter Begriff. Linke rufen „Faschist“ so häufig, dass man einen wirklichen Faschisten schwer ausmachen kann. Für diesen Beitrag definiere ich „jüdischen Faschismus“ deshalb als einen Glauben daran, dass die Existenz des jüdischen Staates alle Werte übertrumpft, besonders die moralischen, und dass individuelle und kollektive Sittlichkeit den Interessen des Staates untergeordnet sein müssen. In der zionistischen Geschichtsschreibung wird der jüdische Faschismus mit den Revisionisten gleichgesetzt; doch kann man darüber streiten. Jabotinsky2 verwendete häufig, wie so viele andere, eine faschistische Sprache, war aber ambivalent. Arbeiter-Zionisten3 vermochten nicht öffentlich so zuformulieren wie Jabotinsky, da sie ja Sozialisten waren, doch bestätigten ihre Taktiken seine Strategie.

Yehezkel Dror, ein emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Hebräischen Universität Jerusalem und Träger des Israel-Preises hat eine nicht sehr brillante Verteidigung des jüdischen Faschismus’ ausgerechnet im Forward4 veröffentlicht. Das Argument ist ein bekanntes und enthält die bekannten Auslassungen: Der Staat Israel ist mit dem jüdischen Volk identisch, so dass das Überleben des ersteren mit dem des letzteren gleichzusetzen oder mindestens eine notwendige Bedingung dafür ist. Dror macht sich noch nicht einmal die Mühe, die Frage zu stellen, ob der Staat Israel für das Überleben des jüdischen Volkes taugt; er hält das für eine selbstverständliche Wahrheit. Die Tatsache, dass mehr Juden seit 1945 als Juden wegen des Staates Israel starben als wegen irgendeines anderen Grunds, bringt ihn nicht in Verlegenheit. Die Tatsache, dass kein einziger Jude durch den jüdischen Staat gerettet wurde, der nicht eben durch diesen zuvor in Gefahr gebracht worden ist, kommt ihm nicht in den Sinn. Er könnte natürlich Gründe dafür anführen, dass jüdische Existenz sicherer ist als vor einem Jahrhundert. Dies tut er aber nicht, sondern nimmt es einfach als gegeben an.

Nehmen wir einmal – in seinem Sinn – an, dass das Überleben Israels dem Überleben der Juden gleichzusetzen ist. So stellt sich die Frage, was getan werden kann, um das Überleben zu gewährleisten? Und es stellt sich heraus, dass Dror, wie viele andere intellektuelle Faschisten einfach bei diesem Punkt kneift. Er akzeptiert es als legitim, die Politik eines Staates zu kritisieren, solange diese unzumutbar ist oder nicht die Interessen des Staates fördert. Wer jedoch entscheidet darüber, was sie sind? Wohl, Dror, vermute ich, und andere ähnlich denkende Individuen. Gewiss gibt es kein gutes Argument dafür, warum die Demokratie israelischer Prägung essentiell für das Überleben des Staates sei. Eine fundamentalistische Theokratie à la Iran würde hierfür genau so gut dienen.

Nein, für Dror geht es um Realpolitik einerseits und Moral andererseits; streichen wir letzteres, so sagt er, zugunsten des ersten. Nun gut, in diesem Fall haben wir Neokonservatismus und liberalen Interventionismus gestrichen und sind somit zurück bei Walts und Mearsheimers These, dass uneingeschränkte Unterstützung Israels durch die USA gegen die Interessen der USA ist. Ich habe kein Problem mit Realpolitik, nur weshalb muss man annehmen, dass sie etwas mit Judentum oder Juden zu tun hat? Noch einmal: Dror hat keinen Beweis für einen liberalen demokratischen Staat; er glaubt daran genau wegen jener Werte, die ihn geprägt haben.

Sind Staaten Moralvermittler? Dazu gibt es eine lange philosophische Diskussion, in die ich mich hier nicht vertiefen kann. Aber ob sie es sind oder nicht, so erweisen sich Staaten, die eine weitverbreitete Immoralität zulassen, auf Dauer als nicht stabil. Wenn Dror behaupten will, dass liberale Moral im Interesse des jüdischen Staates ist (zum einen, weil es einen stabilisierenden Faktor darstellt, und zum anderen, weil es einem kleinen Staat wie Israel die Akzeptanz in der „Familie der Nationen“ erleichtert), ist das eine Sache. Und Dror würde dem vermutlich zustimmen. Es ist jedoch ein Zeichen seiner intellektuellen Armut, dass er nicht sehen kann, dass diese Schlussfolgerung durch seinen zentralen Anspruch unterminiert wird.

In Wahrheit versuchen Leute wie Dror, Podhoretz und Wisse moralische Rechtfertigungen für Israels Handeln zu liefern. Wenn sie meinen, das nicht zu können, nehmen sie Zuflucht bei der jüdischen faschistischen Strategie, dass Israels „Überleben“ alle Gesichtspunkte übertrumpft. Ihr Argument lautet: Entweder sind Israels Handlungen moralisch, oder Moral zählt nicht.

Natürlich hat all dies – wie gesagt – nichts mit Judentum zu tun. Ich vermute, dass es etwas mit all jenen biblischen Königen zu tun hat, die ihre eigenen Interessen mit jenen ihres Volkes gleichsetzten, aber prompt bezüglich dieser Idee von den Propheten eines Besseren belehrt wurden. Prophetisches Judentum hält nicht viel von jüdischen Faschisten. Jüdischer Faschismus ist die jüngste Version jüdischen Zelotentums und geht auf Reuwen und Schim’on zurück, die ein ganzes Volk massakrieren würden, um die verlorene Ehre ihrer Schwester Dina zu rächen. Für sie übertrumpfte das Überleben des Clans jegliche Moral. Für den Chefredakteur von Azure, David Hazony, haben die Brüder realpolitisch gehandelt. Meine Antwort – die jüdische Antwort – ist: Be-ssodam al tawo nafschi („An ihren Ratsversammlungen möchte ich nicht teilnehmen”). Jüdisches Zelotentum ist so jüdisch wie Felafel, mein bevorzugtes palästinensisches Gericht.


Aus dem Englischen übersetzt von Edna Brocke.


ANMERKUNGEN

1 http://themagneszionist.blogspot.com/2008/05/yehezkel-drors-defence-of-jewish.html vom 21. Mai 2008.

2 Wladimir Zeev Jabotinsky wurde am 18. Oktober 1880 in Odessa geboren und starb am 8. August 1940 in Hunter, USA. Er war ein führender Zionist sowie Schriftsteller, Redner und Gründer der Jüdischen Legion im Ersten Weltkrieg. Er zählt zum revisionistischen Flügel im Zionismus.  

3 Ab 1900 entwickelte sich vor allem von Russland aus ein sozialistischer Zionismus. Die marxistischen Poalei Tzion hatten darin die größte Bedeutung und prägten die spätere Kibbuz- und Arbeiterbewegung in Israel. In Osteuropa gab es zudem die nichtmarxistischen Zionisten- Sozialisten, die sich nicht auf Eretz Israel als zukünftiges Siedlungsgebiet festlegten, und die Sejmisten, die kulturelle und politische Autonomie in Russland als Zwischenschritt zu einem eigenen Gebiet erreichen wollten. Auch bürgerliche, religiöse und völkisch-nationalistische Zionisten bildeten eigene Organisationen mit je eigenen Vorstellungen vom Erreichen und Gestalten des erstrebten Judenstaats. Auch die 1897 in Wilna gegründete jüdisch-sozialistische Partei BUND lehnte die Ideen eines Judenstaates ab und forderte stattdessen die volle Gleichberechtigung der jüdischen Arbeiterschaft Osteuropas sowie eine national-kulturelle Autonomie für die dort ansässigen Juden. Orthodoxe Juden wiederum sahen in den Zionisten abtrünnige Ketzer, die sich gegen das von Gott verfügte jüdische Exil auflehnten und sich selbst erlösen wollten, statt demütig auf die Ankunft des Messias zu warten. Aus den Reihen der Arbeiter-Zionisten ist die israelische Labour Party hervorgegangen.

4 Am 22. April 1897 erschien Forward – als jiddischsprachige Tageszeitung – erstmalig in New York und vertrat eine gewerkschaftliche Position sowie demokratischen Sozialismus. 1983 wurde aus der Tageszeitung ein Wochenblatt mit einem englischsprachigen Anhang. Ab 1990 ist Forward eine zweisprachige Wochenzeitung von hohem Niveau mit einer online-Ausgabe.



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Das Leben des jüdischen Staates und Volkes ist der Güter höchstes – oder nicht?




EKKEHARD W. STEGEMANN


Ekkehard W. Stegemann, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten  gehören die Paulusforschung, die Sozial- und Entstehungsgeschichte des Christentums sowie die Antisemitismusforschung. Außerdem gehört er zu den Herausgebern der Zeitschrift "Kirche und Israel", der die hier veröffentlichten drei Beiträge entnommen sind.



Auf die Frage, welche Zitate von Schiller er für die bedauerlichsten oder törichtsten hält, hat Marcel Reich-Ranicki in der FAZ im Jahr 2005 u.a. geantwortet: „’Das Leben ist der Güter höchstes nicht’. Vielleicht sollten wir dieses Wort aus der ,Braut von Messina’ kürzen: ‚Das Leben ist der Güter höchstes.’“I Eine ähnliche Kürzung hat Yehezkel Dror mit seinem Beitrag vorgenommen, den wir hier dokumentieren. Das Überleben des jüdischen Volkes ist der Güter höchstes. Damit hat Dror einen Sturm der Entrüstung und Empörung geerntet. Die Entgegnung eines sich als jüdisch bezeichnenden, aber nur pseudonym auftretenden Kritikers drucken wir hier als ein Beispiel ebenfalls ab. Charakteristisch für die Wut, die sich etwa in den Kommentaren zum Artikel in der Internetzeitschrift Forward austobtII, ist, dass man sich gar nicht erst die Mühe macht, die Argumentation Drors nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, sondern ihm etwas andichtet, was er gar nicht behauptet hat. Ich rede nicht von den absichtsvollen Verfälschungen, sondern von offenbar aus moralischer Überzeugung rührenden „Verlesungen“. So unterstellt man etwa, dass Dror Israel und jüdischen Politikern empfiehlt, den Genozid an den Armeniern zu leugnen; aber sie hätten sich dann jedoch auch nicht zu beschweren, wenn irgendjemand und zumal der iranische Präsident den Holocaust leugnet.

Dror hat freilich nichts dergleichen geschrieben, sondern nur eine Güterabwägung vorgenommen, die lautet: Wenn Israel gute Beziehungen zur Türkei etablieren kann, die sehr wichtig für seine Sicherheit und die Herstellung von Frieden im Nahen Osten sind, dann soll es die Diskussion darüber, ob die Osmanen einen Genozid an den Armeniern begangen haben, den Historikern – und am besten noch nichtjüdischen – überlassen. Dass das nicht notwendigerweise bedeutet, die „Armenische Geschichte zu leugnen“, sagt er ausdrücklich. Aber offenbar ist das für die Kritiker Drors unzureichend.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie Dror argumentiert. Er geht davon aus, dass Israels Existenz als jüdischer Staat und der Fortbestand des jüdischen Volkes gegenwärtig und in absehbarer Frist keineswegs als gesichert angesehen werden können, ja, dass dann, wenn Israels staatliche Existenz vernichtet werden würde, dies auch sehr negative Folgen für die Juden in der Diaspora haben wird. Der Punkt ist also, dass für Dror das Überleben des jüdischen Volkes nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch und tatsächlich auf dem Spiel steht.

Eine andere Deutung der gegenwärtigen Realitäten sieht er nicht. Und es ist auf der Basis dieser realpolitischen Analyse, dass er alle israelische Politik und alles Handeln von jüdischen Verantwortlichen in der Diaspora unter den kategorischen Imperativ stellt, die Existenz und das Überleben des jüdischen Staates und Volkes abzusichern und Unterstützung dafür innen und außen zu fördern. Dieses Gut darf nicht geopfert oder noch weiter gefährdet werden, als es schon ist, selbst wenn andere Güter oder Werte dabei vernachlässigt werden.

Für Dror bedeutet das aber nicht, dass man Israels Politik nicht kritisieren darf. Im Gegenteil. Gerade weil Israels Politik der Pflicht unterstellt ist, das Überleben des Staates und des Volkes zu sichern, kann sie und muss sie von Diasporajuden kritisiert werden, sofern sie eben diesem Ziel nicht dient. Genau an dieser Stelle öffnet Dror also die Tür weit für kritische, auch moralische Diskurse. Aber er stellt sie unter die Kondition, dass die Kritik alternative Handlungsweisen vorzuschlagen verpflichtet ist, die der Existenzabsicherung dienlicher sind. Wer etwa aus moralischen Gründen empfiehlt, dass Israel die Abriegelung des Gaza-Streifens aufheben oder den Sicherheitszaun zu den palästinensischen Gebieten niederreißen soll, ist verpflichtet zu begründen, inwiefern diese Maßnahmen der Sicherheit bzw. dem Überleben des Staates und des Volkes förderlicher sind.

Dror wendet also Kants Kategorischen Imperativ, nach dem jeder so handeln soll, dass sein Handeln jederzeit zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung taugt, so: Jüdische Politik muss so handeln, dass sie jederzeit zur Erhaltung oder Verbesserung der Überlebensbedingungen des jüdischen Staates und Volkes taugt.

Das ist natürlich sehr partikularistisch gedacht und nicht universalistisch. Dessen ist sich Dror bewusst. Denn er kann sich Situationen denken, in denen sehr wertvolle moralische Grundsätze eingehalten werden können, die eben möglicherweise im Fall der Anwendung des kategorischen Imperativs für das jüdische Volk („Handle so, dass Du überlebst!“) übergangen werden müssen. Natürlich gibt es Grenzen für Dror. Wenn Israel sein eigenes Überleben gegen Genozid absichern möchte, darf es natürlich nicht selbst einen Genozid initiieren. Aber den Luxus, für die Menschenrechte aller Elenden dieser Welt und die Anprangerungen aller Mörder und Schurken besorgt zu sein, weil das eigene Überleben durch die Nachbarn nicht gefährdet ist, bzw. weil die eigene Existenz keines kategorischen Imperativs zum Überleben bedarf, kann sich Israel nicht leisten.

Wer Drors Imperativ für falsch oder für unmoralisch hält, muss entweder seine Einschätzung der Realität Israels für falsch oder übertrieben erklären oder aber das Leben des jüdischen Volkes und seines Staates nicht für der Güter höchstes halten.

Der pseudonyme Jeremiah Haber argumentiert darum so: Dror setzt das Überleben des Staates Israel mit dem des jüdischen Volkes gleich, ohne sich damit auseinanderzusetzen, wie gefährlich eigentlich der Staat für das Volk sein kann. Wenn Juden gefährdet wurden nach 1945, dann wegen des Staates, und wenn Juden aus Gefahren gerettet wurden, dann, weil der Staat sie vorher in dieselben gebracht habe. Ist es also gerade der jüdische Staat, der nach 1945 das Leben des jüdischen Volks in Gefahr gebracht hat? Der Pseudonomynos geht nicht ganz so weit, diese Frage zu bejahen. Er weiß nämlich, dass Dror „Gründe dafür anführen“ könnte, „dass jüdische Existenz sicherer ist als vor einem Jahrhundert“, heute, nur wirft er Dror vor, das nicht getan zu haben. Tut er es? Nein. Und dass die sicherere jüdische Existenz etwa mit der Existenz eines jüdischen Staates zusammenhängen könnte, sagt er natürlich auch nicht. Wissen wir es besser? Können wir sagen, dass der Staat Israel für das Überleben des jüdischen Volkes nach 1945 dienlich war und ist, jedenfalls tauglicher als eine bloße und ausschließliche Diasporaexistenz? Ich glaube zwar, dass das so ist. Aber das ist spekulativ und letztlich unbeweisbar. Sicher ist aber, dass der Staat Israel seine Existenz und das Überleben seines Volkes mit hohem Einsatz verteidigt hat und verteidigen muss. Dass er dies, wenn er im Land Baden-Württemberg oder in Florida gegründet worden wäre, und zwar mit Zustimmung der deutschen oder amerikanischen Regierung, nicht nötig gehabt hätte und hat, ist schon wahr. Nur gab es diese Möglichkeit, wenn ich mich nicht täusche, gar nicht. Und sie gab es auch nicht in Uganda oder am Suez oder in Kasachstan. Gleichwohl kann man der Meinung sein, den Staat Israel ausgerechnet im Nahen Osten zu gründen, war falsch. Aber die Vereinigten Staaten ausgerechnet in den Dreizehn Kolonien der Briten in Amerika zu gründen, war dann auch nicht richtiger. Vielleicht sollte man überhaupt keine Staaten gründen. But it happens.

Haber verschiebt seinen Angriff auf eine andere Ebene. Er unterstellt, dass Dror eigentlich nur Israels Handeln moralisch rechtfertigen wolle, koste es auch die Moral. Wie andere „jüdische Faschisten“ (welche Freude dürfen antisemitische „Moralisten“ bei diesem Aufkleber fühlen) würde Dror, wenn er Israels Politik nicht mehr moralisch rechtfertigen kann, „Zuflucht (nehmen) bei der jüdischen faschistischen Strategie, dass Israels ‚Überleben’ alle Gesichtspunkte übertrumpft. Ihr Argument lautet: Entweder sind Israels Handlungen moralisch, oder Moral zählt nicht.“ Das ist eine üble propagandistische Verzerrung von Drors Argumentation. Denn Dror argumentiert nicht, dass Israels Handlungen immer moralisch sind oder dass sie der Moral immer dann enthoben sind, wenn sie nicht moralisch sind, sondern dass die Absicherung des Überlebens des jüdischen Volkes, wenn das Überleben auf dem Spiel steht, in der moralischen Güterabwägung Priorität hat. Mit anderen Worten: Der kategorische Imperativ, den Dror für Juden (!) aufstellt, ist, dass unter den Bedingungen der Bedrohung des Fortbestands das Leben der Güter höchstes und zu sichern ist, zwar nicht mit jedem Mittel, aber durchaus mit Mitteln, welche andere hohe moralische Güter vernachlässigen.

Man kann dieser Argumentation widersprechen, wenn man der Meinung ist, dass auch die Bedrohung Israels mit Vernichtung nicht rechtfertigt, Handlungsweisen vorzunehmen, die unter Umständen das Leben unschuldiger Menschen gefährden. Man kann dieser Argumentation aber nur widersprechen, wenn man die Vernichtung dann unter Umständen in Kauf nehmen würde. Man kann freilich nicht verlangen, dass Israel sein Überleben opfert, um moralischen Ansprüchen zu genügen, die zu erfüllen man selbst den Luxus hat - ohne Opfer des Lebens.



ANMERKUNGEN

I Nachzulesen unter:
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E6FCD3E5D7AC248359E8F5268E4C70324~ATpl~Ecommon~Scontent.html.

II Nachzulesen unter: http://www.forward.com/articles/13388/.