Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 86

Dezember 2008

Im Sommer diesen Jahres erschien ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Buch, das die Lebensgeschichte des Kasselaner Juden Hans Mosbacher erzählt, der 1937 aus Kassel vertrieben mit seiner Familie nach Palästina auswanderte. Seine Geschichte erlaubt einen Einblick in das zerstörte deutsche Judentum, exemplarisch dargestellt an der Lebensgeschichte eines typischen Vertreters des selbstbewussten jüdischen Bürgertums vor 1933 in Deutschland, eines Mannes, der sich durch vielseitige Interessensgebiete und Tätigkeitsfelder, vor allem aber durch Humor und Lebenswitz auszeichnete.

Was auf den ersten Blick als eine weitere von bereits vielen bekannten Vertreibungsgeschichten erscheint, entpuppt sich jedoch bei näherem Hinsehen auf ebenso überraschende wie inspirierende Weise als gänzlich anders, denn das Buch erzählt keine Opfergeschichte, sondern die eines Lebenskünstlers. Durch die gleichermaßen sensible wie klare Sprache von Eva Schulz-Jander, ihres Zeichens Literaturwissenschaftlerin, lernen wir einen Menschen kennen, der sich trotz und entgegen aller Katastrophen seiner Zeit die Fähigkeit zum Glücklichsein bewahren konnte, eben die "Geschichte des glücklichen Juden Hans Mosbacher". Und gleichzeitig - wie könnte es anders sein - blicken wir auch auf die aussterbende, die letztlich vernichtet Welt des früheren deutschen Judentums. Denn so sehr diese bemerkenswerte Chronik diesem lebensfrohen Menschen ein sprachliches Denkmal setzt und dem gängigen Erinnerungsdiskurs widerspricht, so macht sie uns gleichzeitig schmerzlich bewusst, welch unermesslicher Verlust hier zu beklagen ist.


COMPASS freut sich, mit dem vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 86 das vollständige Vorwort der Autorin sowie einen Auszug aus dem Kapitel "Jüdisches Leben 1918–1937" dieses überaus empfehlenswerten Buches präsentieren zu können!

COMPASS dankt Autorin und Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!

© 2008 Copyright bei Autorin und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 86


Von Kassel nach Haifa

Die Geschichte des glücklichen Juden Hans Mosbacher


EVA M. SCHULZ-JANDER

Wie es dazu kam ...

Unser Haus in Kassel hat eine „Rosenzweig-Wohnung“. Und die Universität Kassel hat eine „Rosenzweig-Gast-Professur“. Warum Rosenzweig? Franz Rosenzweig, 1886–1929, einer der bedeutendsten Religionsphilosophen der Moderne, wurde in Kassel geboren; er verbrachte hier seine Kindheit und Jugend und machte am Friedrichsgymnasium sein Abitur. Die Familie Rosenzweig lebte schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Kassel und gehörte zu den wohlhabenden und angesehenen Bürgern der Stadt. Der Vater, Georg Rosenzweig, baute die von seinem Großvater gegründete Drogerie zu einem erfolgreichen Lack- und Farbenunternehmen aus, war Stadtverordneter und später Stadtrat. Das Haus der Familie steht heute noch an der Terrasse 1.

Seit 1987 gibt es an der Universität Kassel eine nach Franz Rosenzweig benannte Gastprofessur. Jedes Sommersemester werden aus aller Welt Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete nach Kassel eingeladen, um – zumindest an der Universität – der neuen Generation, inzwischen schon die vierte nach dem Nationalsozialismus, eine Vorstellung von dem zerstörten jüdischen Erbe zu geben. Diese Juden und Jüdinnen, einst von den Deutschen von irgendwo aus Europa - aus Deutschland, Polen, Ungarn oder Österreich vertrieben –, kommen jetzt von irgendwo aus der Welt, aus Israel, Schweden, den Niederlanden, Frankreich, den USA oder Süd-Amerika, nach Kassel und vergegenwärtigen durch ihre Wissenschaft und ihr Leben für deutsche Studenten der dritten und vierten Generation das zerstörte jüdische Erbe. Während ihres Forschungsaufenthaltes müssen sie irgendwo wohnen, und so kamen sie zu uns, und wir kamen zu unserer „Rosenzweig-Wohnung“.

Alle haben viel erzählt, ungeordnet erzählt. Erinnerungen, Träume, Alpträume, Begegnungen und Erlebnisse der Gegenwart, die die Vergangenheit aufleuchten ließen und die Zeit außer Kraft setzten; sie still stehen ließen. Emil Fackenheim z. Bsp. konnte in keinen Zug einsteigen und musste immer begleitet werden; Rafael Rosenzweig, der Sohn von Franz Rosenzweig, erzählte, wie er 1945 als 23-jähriger Britischer Soldat das Rosenzweig Haus „besetzte“ und sein legitimes Erbe einforderte, Jacob Goldberg erzählte, wie er den Namen Kassel zuerst an den Güterwagen las, die ihn und andere polnische Juden in die Lager transportierten und die Aufschrift „Heimatbahnhof Kassel“ trugen. Unser Haus war wie eine archäologische Grabungsstelle. Schicht um Schicht wurde abgetragen und sorgfältig beiseite gelegt, um sortiert und zusammengesetzt oder als Erinnerungsscherbe aufbewahrt zu werden.

Einer, der besonders viel in seinen Erinnerungsschichten grub und große Stücke hervorholte, war Benyamin. Benyamin Maoz, Arzt und Psychiater in Israel, kam 1994 nach Kassel, in die Stadt, die er 1937 als siebenjähriger Hans Bernhard Mosbacher mit seinen Eltern verlassen musste. Er wohnte mit seiner Frau Elly drei Monate lang in unserem Haus. Hielt Vorlesungen und Seminare, aber die Vergangenheit, seine Kindheit in Kassel, drängte immer stärker an die Oberfläche und überlagerte die Gegenwart. 1929 geboren, 1937 vertrieben, und jetzt, 1994, wiedergekehrt als Gastprofessor, um hier für drei Monate zu leben. Benyamin ist der Erzähler dieses Buches. Er kam nicht als Besucher in ein Hotel, nein, er lebte in einer Wohnung, die den Anschein von einem „Zuhause“ hatte, in der gegessen, gekocht und geputzt wurde und in die die drei Töchter, Michal, Ofra und Hagar, sowie Gäste zu Besuch kamen. Alles war normal, und nichts war normal. Es war der falsche Ort in Kassel, das falsche Haus, der falsche Garten. Es war ein Ort ohne Erinnerungen, der aber alle Erinnerungen zuließ, wenn nicht gar auslöste.

Elly verband keine Erinnerung mit Kassel, für sie war es eine weitere dieser traurigen, verregneten deutschen Städte. Sie lebte im Jetzt und Heute, während Benyamin immer mehr in seine eigene Vergangenheit zurückkehrte. Weil ich hier wohne und die Stadt gut kenne, fuhr Benyamin gerne mit mir in die Universität. Diese Fahrten durch die Straßen, die jetzt alle andere Namen haben, regten ihn an, mit mir über „damals“ zu sprechen. Manchmal fuhren wir einfach ziellos herum, das heißt, ich fuhr und Benyamin redete. Redete er mit mir? Als er beispielsweise vor sich hin sprach, wie er als kleiner Junge einmal mit dem Roller die Hohenzollernstraße herunterschoss, und nicht mehr bremsen konnte, sodass er durch die geöffnete Kirchentür bis vor den Altar der Friedenskirche raste. „Seither hatte ich Angst, die Kirchtürme würden mich jagen und erschlagen.“ Redete er mit sich selbst? Mit wem redete Benyamin, wenn er auf diesen Fahrten durch Kassel im Sommer 1994 erzählte? Jedenfalls tauchten in den Straßen die verschütteten Zeitschichten wieder auf, und die Straßen hießen nicht mehr Goethe-, Pestalozzi- oder Friedrich-Ebert-Straße sondern: Kaiser, Prinzen-, oder Hohenzollernstraße. Und wir besuchten die Verwandten und Freunde: die Gotthelfts, die Plauts, die Rubensohns, die Hallos.1 „Ach, fahren wir noch kurz bei Hallos vorbei“, und über jeden und jede gab es Geschichten, traurige und witzige. Sie hatten sich hier wohlgefühlt, die Mittelschichtjuden, die im besseren Viertel, im Westen der Stadt, wohnten, ihre Maler- oder Wollwäschereibetriebe, ihre Konfektions- oder Haushaltsgeschäfte hatten, ihre Feste feierten, in die Oper und ins Konzert gingen, sich am Kasseler Leben beteiligten. Eine Figur tauchte in fast jeder Geschichte aus Benyamins Archiv der Erinnerung auf: sein Vater, Hans Mosbacher.

Hans Mosbacher war der strahlende Wortheld jeder Geschichte, die Benyamin mir erzählte. Mit einem bonmot, einem Kalauer, einer kleinen Namensverdrehung, so erinnerte sich Benyamin, begleitete der Vater jedes Ereignis, das sich bei Hallos, Gotthelfts oder Plauts ereignete. Diese Form von Wortwitz war ein Talent, das Hans Mosbacher, aber auch viele seiner Freunde, auszeichnete. Es scheint ein rein männliches Talent gewesen zu sein, niemand berichtete je von einer Frau, die diese Form von Witz besaß.

Benyamin kennt noch unzählige dieser Aussprüche seines Vaters, witzige Kommentare zu einer Situation oder über einen Bekannten, Wortspiele aller Art. Es ist just wegen dieser Sprüche, dass Hans Mosbacher zur Legende wurde. Hans Mosbacher konnte mit diesem Sprachwitz, ohne je verletzend zu sein, seinen Freunden Wahrheiten ins Gesicht sagen, an denen, wären sie in anderer Form gesagt worden, manch eine Freundschaft zerbrochen wäre. Jede Eigenart eines Menschen konnte er sprachlich erfassen und zu einem geflügelten Wort der Familie machen. Wenn Arthur Karlsruher, ein Nachbar und sehr kleiner Mann, zu Besuch kam, rief bald die ganze Familie: „Da kommt Halb-Arthur.“ So lachten sie und erfreuten sich an dem Wortspiel. Über den etwas missratenen Sohn von Ernst und Liese Plaut dichtete Mosbacher noch im Juni 1951:


Will man die Geschichte Gideons schreiben,
So ist am besten – man lässt es bleiben.
Sie wäre kein Beispiel der reinen Tugend,
Gewiss kein Lehrbuch für die Jugend.


Noch heute belebt Benyamin mit diesen Wortwitzen seine Erzählungen. Viele in Israel lebende ehemalige Kasseler Freunde, aber auch andere Bekannte, die Deutsch können, zitieren ihn bis heute. Die Rosenzweig-Gastprofessorin des Jahres 2001, Gerda Elata-Alster, die weder aus Kassel kommt, noch Benyamins Vater gekannt hat, aber den Sohn kennt, bedankte sich kürzlich nach einer Abendeinladung zum Essen mit den Worten: „Das Essen war gut und reichlich und nicht so fett wie bei anderen Juden – das ist ein Spruch von Benyamins Vater.“ So kehrt Hans Mosbachers Sprachwitz, der 1937 aus Kassel vertrieben wurde, auf diese Weise zurück in die Stadt. Diese ephemeren Gebilde aus Worten haben die Zerstörung überlebt und bleiben als Zeugen einer vergangenen Zeit in der Erinnerung haften. Benyamin hat seine Freude daran, seine Frau Elly kann sie goutieren, aber die drei Töchter können kein Deutsch mehr, und auf Hebräisch haben diese Witze nicht die gleiche Qualität, sie haben etwas sehr Europäisches, geprägt von einem gewissen Bildungsstand. Man hatte die gleichen Referenzsysteme und konnte sich über die leichte Verfremdung eines deutschen Klassikers, oder den Rhythmus eines Gedichtes, köstlich amüsieren, so sehr, dass diese Sprüche mündlich tradiert wurden. Keiner hat sie je aufgeschrieben, bis ich zu Benyamin sagte, dieses Stück deutsche Kultur dürfe nicht verloren gehen, jemand müsse alles aufschreiben. Aber leben sie dann noch, ohne die Mimik oder Gestik? Werden diese Sprachspiele nicht zu etwas sehr Künstlichem, wenn sie auf einer Buchseite eingefroren werden? Was verlieren sie von ihrer Originalität und ihrem Witz? Eigentlich brauchen sie die Stimme und müssen gehört werden, sie zu lesen ist nicht das gleiche. Wenn Benyamin sie heute aus dem Gedächtnis zitiert, dann leben sie fort in seiner Mimik, der besonderen Betonung, den Pausen und vor allem dem Lachen, das sie immer begleitet. Auch ich lachte und sagte immer wieder, dass er alles aufschreiben sollte, das sei ein Stück jüdisch-deutscher Kulturgeschichte. Und Benyamin sagte dazu: „Das kann ich nicht. Ich kann nicht gut genug Deutsch schreiben. Ich war ja erst sieben Jahre alt, als ich wegging, und auf Hebräisch geht es nicht. Mach Du es doch.“

Ich wollte das überhaupt nicht machen. Ich bin keine Historikerin. Ich mag keine staubigen Archive ... ich sträubte mich. Ich sagte: „Ja, vielleicht“, und meinte damit: „Nein, ich will nicht.“ Und Benyamin erzählte weiter. Ich hörte weiter zu und wurde zu einem Teil seines persönlichen Archivs der Erinnerungen. Er ging zurück nach Israel und fragte immer wieder: „Wann kommst Du? Wann fangen wir mit der Arbeit an?“ Und eines Tages sagte ich dann doch: „Ich komme nach Israel, höre Dir mit einem Kassettenrekorder zu und schreibe alles auf. Es darf doch nicht verloren gehen.“


EVA M. SCHULZ-JANDER

Von Kassel nach Haifa

Die Geschichte des glücklichen Juden Hans Mosbacher




euregioverlag
Kassel 2008
160 S.; mit 45 schw.-w. Abb., kartoniert
14,90 Euro


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Diese Geschichte über das Leben Hans Mosbachers, der als Jude 1937 aus Kassel vertrieben wurde und mit seiner Familie nach Palästina ging, erlaubt einen Einblick in das zerstörte deutsche Judentum, exemplarisch dargestellt an der Lebensgeschichte eines typischen Vertreters des selbstbewussten jüdischen Bürgertums vor 1933 in Deutschland, eines Mannes, der sich durch vielseitige Interessensgebiete und Tätigkeitsfelder, vor allem aber durch Humor und Lebenswitz auszeichnete.

Dieses Buch unterscheidet sich von den vielen Vertreibungsgeschichten, denn es erzählt keine Opfergeschichte, sondern die eines Lebenskünstlers. Eva Schulz-Jander lässt uns durch ihre Erzählung am Leben Hans Mosbachers teilhaben. Wir lernen einen Menschen kennen, der sich die Fähigkeit zum Glücklichsein bewahrt hat. Doch blicken wir gleichzeitig auf die aussterbende Welt des früheren deutschen Judentums. Denn so sehr diese bemerkenswerte Chronik diesem lebensfrohen Menschen ein sprachliches Denkmal setzt und dem gängigen Erinnerungsdiskurs widerspricht, so macht sie uns gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie viel wir verloren haben.

Aus dem Vorwort von Bertram Hilgen,
Oberbürgermeister der Stadt Kassel. 



Warum sagte ich die Worte, die ich gar nicht sagen wollte? Um aus dem Bann der Geschichten herauszukommen, aus der eingefrorenen Zeit und mich von den erzählenden Häusern zu befreien, die inzwischen auch ohne dass Benyamin dabei war, mit mir sprachen, wann immer ich vorbeifuhr? Wer wird befreit? Benyamin – von der Last des Vaters, den er auf den Schultern trägt – oder ich als Benyamins Erinnerungsarchiv, das er mir zur Verwaltung und zur Versprachlichung hier gelassen hatte?

Aber vielleicht sagte ich auch „ja“, weil die Geschichten mich an meine eigene Familie erinnerten, vielleicht hat Benyamin sie mir auch deshalb so ungeschützt anvertraut. Er musste nichts erklären, vieles war bekannt und selbst erlebt. Die Familie meines Vaters gehörte ebenso zur assimilierten, etablierten jüdischen Mittelschicht wie die Mosbachers, zwar in einer Kleinstadt in Oberschlesien, aber die Geographie macht da keine Unterschiede. Viele bonmots oder Gelegenheitsgedichte könnten von meinem Onkel Max oder der Tante Dore stammen, meine Großmutter Julie war Benjamins Großmutter Clara nicht unähnlich. Aber endgültig habe ich mich wegen „Tante Käthe“ dafür entschieden. Benyamin hatte, wie ich, eine Tante Käthe. Mit ihr haben die Geschichten überhaupt angefangen. Eines Tages sagte er: „Lass uns mal bei Tante Käthe vorbeifahren“. Den Satz kannte ich schon aus der eigenen Familie. Wir hatten beide eine „Tante Käthe“, meine lebte weder in Kassel noch in Haifa, sondern zuletzt in Houston, aber sie war meine, wie auch Benyamins, Lieblingstante. Und da musste ich schließlich „ja“ sagen, weil mir schien, dass die Geschichte Hans Mosbachers aufzuschreiben, gleichzeitig bedeutete, die Geschichte meiner eigenen Familie in einem ungeschriebenen Text mit zu erzählen, und auch sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Also fuhr ich nach Israel, nach Even Yehuda, wo Benyamin wohnt, und verbrachte eine Woche mit ihm und Elly. Morgens saßen wir im Wohnzimmer und Benyamin erzählte. Es sprudelte aus ihm heraus, ich hatte keinen Einfluss auf das, was er mir erzählte. Es war kein gesteuertes Interview, höchstens mal eine kleine Nachfrage wegen eines Datums, eines Namens, der Rest war ein Monolog. Einmal fuhren wir im Zug nach Beer Sheva. Auf dieser Fahrt in den Süden saßen wir zwischen Soldaten mit ihren Gewehren. Benyamin redete auf Deutsch in meinen Kassettenrekorder und um uns herum sprachen alle Hebräisch. In diesem Zug trafen zwei Wirklichkeiten aufeinander - eine israelische von heute und eine jüdische aus ferner Zeit, als der Staat Israel kaum mehr als eine Idee war. Der Vater begleitete uns auf allen unseren Fahrten durch Israel. Als wir, auf einer anderen Reise, in einem anderen Zug, an Haifa vorbeifuhren, bemerkte Benyamin: „Hier war die alte Abzweigung nach Damaskus, wo mein Vater viele Geschäftspartner hatte. Hier fuhr er oft vorbei, er reiste überhaupt viel in der Mandatszeit, in den Libanon und auch nach Damaskus. Dort musste er nicht Hebräisch sprechen. Sein Handel lief gut, weil er Französisch und Englisch beherrschte.“

Ich hatte meine Kassetten immer dabei, aber ich wollte auch alte Briefe und Zeitungen, einfach Papiere sehen, die die Leerstellen in den Erzählungen ausfüllen würden. Immer wieder fragte ich nach Papieren und Dokumenten, bis Benyamin anfing, in alten Schuhkartons zu suchen. Ungeordnet lag da vieles nebeneinander - „Willst Du das haben? Das möchte ich noch behalten. Das kann doch kein Mensch lesen.“ Diese Sätze sagte er mehrmals am Tag, denn das Papier war hauchdünn und brüchig, die Handschriften sehr altertümlich. Am Ende hatte ich meinen eigenen „Archivkarton“ mit Texten, einigen Briefen und Bildern, einen knallblauen Karton, in dem einmal sehr teure Stiefel gewesen waren. Ich hatte mein eigenes „blaues Hans-Mosbacher-Archiv“.

Als ich wieder zu Hause war, transkribierte ich die Kassetten und ordnete die Dokumente. Bei diesen Vorarbeiten wurde mir, der Chronistin, deutlich, dass es Benyamin darum ging, seinem Vater mit dieser vergangenen deutsch-jüdischen Geschichte ein Denkmal aus Worten zu bauen. Aber warum erinnert sich jemand, der seit seinem siebten Lebensjahr in Palästina/Israel lebt, so spät im Leben an die Geschichte seines Vaters und nicht an seine eigene? Weil der Sohn den eigenen Vater von klein auf bewunderte und noch immer bewundert, obwohl er selbst schon über siebzig ist? Besitzt der Vater Fähigkeiten und Talente, die der Sohn sich wünscht, und die durch die Erinnerungen und Erzählungen fast zu den eigenen werden? Das sind Fragen, die andere sicher besser beantworten können als ich. Aber beim kritischen Hören und Wiederhören der Kassetten fiel mir auf, dass Benyamin die Menschen und Situationen des heutigen Alltags, denen wir bei unseren Gesprächen und Fahrten in Deutschland und dann auch in Israel begegneten und die wir erlebten, durch die Augen seines Vaters wahrnimmt, ganz gleich ob es sich um die israelische oder die deutsche Gegenwart handelt. Für jede Situation gab es ein Vaterwort, ein deutsches Vaterwort, das die Situation etwas ironisch distanziert betrachtete. Wünscht Benyamin sich diese Fähigkeit der sprachlichen Eindämmung des Lebens, die gleichzeitig ein Schutzmantel vor Verletzungen ist?

So transportiert das Buch mit der Vatergeschichte auch eine Vater-Sohn Geschichte. Als übermitteltes Erinnerungsbuch erzählt es neben der deutsch-jüdischen Bindestrich-Geschichte, gleichzeitig etwas von dem prägenden Einfluss, den diese jüdische Sozialisation vor 1933 in Deutschland auf die nachfolgende Generation hatte.

Ich werde sie erzählen, die Geschichte von Hans Mosbacher, dem Vater des Psychiaters Benyamin Maoz, alias Hans Bernhard Mosbacher. Ich werde sie erzählen, so wie ich sie gehört habe, nicht wie sie wirklich gewesen ist, aber wie sie sein Sohn erinnert. Die Fakten stimmen vielleicht nicht immer, die genauen Daten sind inzwischen verwischt, aber „manchmal stellen Tatsachen auch eine Bedrohung für die Wahrheit dar“, wie Amos Oz es in seiner eigenen Familienchronik „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ formuliert. Dieser Satz befreit mich von der Last, Benyamins Erinnerungen anhand von Archivdokumenten zu überprüfen, um sie aus seiner persönlichen Wahrheit in die der Tatsachen und Fakten zu übertragen.

Aber was bedeutet es, aus dem Erzählten eine erzählte Geschichte zu machen? Die ungeordneten Wortfetzen, die Benyamin mir beim Besteigen eines Zuges, beim Abwaschen oder Einkaufen erzählte, in geordnete Worte zu verwandeln? Ist es nicht eine Reduktion des Erzählten, in diesem Fall der Person Hans Mosbachers, der sich nicht mehr wehren, nichts mehr richtig stellen kann? Als sekundäre Erzählstimme war ich wie ein Dompteur gezwungen, Erzähler und Erzähltes zu zähmen, in eine Ordnung einzufügen, beidem eine Struktur zu geben, die Erinnertes und Erzähltes vorher nicht hatten. Und daraus entstand gezwungenermaßen etwas Neues, Anderes, eben ein erzählter Text.


Eva Schulz-Jander, Birgit Jansen, Angelika Trilling, Eveline Valtink und Michael Fecke (Hg.)

Erinnern und Erben in Deutschland: Versuch einer Öffnung


Euregio Verlag
Kassel 1999
335 S.
24,90 Euro


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"Fragt uns, wir sind die letzten!" Können Jüngere mit heute alten ZeitzeugInnen des Nationalsozialismus in einen Dialog gelangen? Wie war es bei dir, bei Euch? Wie ist es für mich, für uns? Was folgt?

In Erinnern und Erben in Deutschland geht es um die Opfer und Überlebenden, die MitläuferInnen, ZuschauerInnen und TäterInnen und um die der nachfolgenden Generationen. Das Buch sammelt Erinnerungen, Gedenken, Nach-Fühlen und Sichtbarmachen aus der "Ersten Generation". Zum anderen zeigt es neue persönliche, kulturelle und wissenschaftliche Möglichkeiten des Erbens in der und aus der "Zweiten", "Dritten" und "Vierten Generation". Die Fokussierung auf Opfer und Täter sowie ihre jeweiligen Nachkommen unterstreicht zum einen die Tatsache der gespaltenen Erinnerung - Opfer und Täter können niemals die gleiche Erinnerung haben. Zum anderen verdeutlicht sie den Wandel des kollektiven Gedächtnisses innerhalb einer Gesellschaft, bedingt unter anderem durch den Generationenwechsel: Das kollektive Gedächtnis ist somit nur im Plural zu verstehen. Jede Generation, und darin wiederum jede Gruppe, verfügt über ihre eigene Erinnerung, ihr eigenes Erbe.



Jüdisches Leben 1918–1937

Nachdem das Gefangenenlager in Niederzwehren aufgelöst wurde, wahrscheinlich im Herbst 1918, kehrte Hans Mosbacher ins Privatleben zurück. Das gesellschaftliche und berufliche Leben ging wieder seinen gewohnten, angenehmen Gang. Man feierte Familienfeste, schrieb Gedichte und Theaterstücke, lud Freunde ein. In Benyamins Erzählungen gibt es keine genauen Daten, damit nimmt er es nicht so genau, ihm ist es völlig egal, ob etwas 1921, 1922 oder 1924 geschah, in den 20er Jahren, das reicht ihm. Ihm sind die einzelnen Menschen in den Geschichten und die bonmots seines Vaters viel wichtiger.

Hans Mosbacher trat „um 1924 herum“ der Bnei Brit Loge bei, die sein Vater 1888 in Kassel gegründet hatte. Es war die Sinai Loge, in der sich die profiliertesten Männer der Gemeinde zusammenschlossen, um kulturelle und wohltätige Ziele zu verwirklichen. Wie bei allem, was er machte, war Hans Mosbacher auch hier nicht nur ein einfaches Mitglied, sondern engagierte sich in der Vereinsarbeit und übernahm verschiedene Ämter, war Mitglied im Vorstand und mehrfach sogar Präsident der Loge.


„H.M. stammt aus einem typisch deutsch-jüdischem Haus. Er war zwar ein „Stolzer Jude“ und schon seit den 20er Jahren Mitglied (und mehrfach Präsident) der B’nei Brit-Loge. Er war kein Zionist und wusste wenig vom Judentum und seiner Tradition. Diese Einstellung änderte sich 1933 grundlegend ...“


So erinnert sich Franz Wallach2, ein Freund und Verwandter aus Kasseler Zeiten, in seiner kleinen Festrede 1972 in Haifa, zum 90. Geburtstag Hans Mosbachers. Mosbacher blieb Mitglied der Loge, bis diese 1937 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde.

Die Mosbachers waren Mitglieder der Einheitsgemeinde Kassels in der Unteren Königstraße, ohne dass die Religion für sie eine besondere Rolle spielte. Sie gingen zu den hohen Feiertagen in die Synagoge, nahmen aber sonst nicht am religiösen Gemeindeleben teil. Hans Mosbacher interessierte sich eher für die sozialen Einrichtungen der Gemeinde und war im Vorstand des Gemeindevereins.3  Gleich nach seiner Rückkehr aus England, im März 1907, wurde er Mitglied des „Israelitischen Krankenpflege-Vereins zu Cassel“.4 Die Verwaltungs-Commission schickte dem neuen Mitglied ein in wunderschöner Sütterlinschrift ausgestelltes Dokument als Begrüßungsschreiben zu. Darin beehrten sie sich mitzuteilen, dass seinem Antrag auf Mitgliedschaft stattgegeben wurde.

Neben diesem sozialen Engagement in der jüdischen Gemeinde gehörte er mehreren Kulturvereinen in Kassel an. Bereits 1907 trat er, auf Empfehlung von L. Löwenbaum, der Gesellschaft der Humanität zu Cassel5  bei. Auch hier liegt das Begrüßungsschreiben noch vor, unterzeichnet von Alexander Fiorino, dem Vorsitzenden, und L. Löwenbaum, dem Schriftführer. Außerdem war Hans Mosbacher Mitglied der Mond-Stiftung (Ludwig Mond), der Kurhessischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, der Kant-Gesellschaft, der Deutschen Wollgesellschaft, des Bürger-Bezirksvereins Bettenhausen, des Bundes ehemaliger Frontsoldaten und der Vereinigung der Handelsrichter. 1932, zu seinem 50sten Geburtstag, hielt Karl Hermann Sichel, ein entfernter Verwandter und einer der wenigen jüdischen Beamten der Weimarer Republik – er war Regierungsbaumeister – die Festrede, in der er Hans Mosbachers Verdienste in jedem dieser Vereine mit einem kleinen Gedicht würdigte. Sichel versucht, in seiner kleinen Laudatio die verschiedenen Vereine mit ihren unterschiedlichen Zielsetzungen so weit wie möglich durch Sprache und Stil voneinander zu unterscheiden. So kommt die Würdigung der ehemaligen Frontsoldaten militärisch zackig daher und endet mit einem Salut von „F r e i – H e i l“. Ein kleines Gedicht des Krankenpflege- und Armenpflegevereins erinnert an Bänkelgesänge:


Die Kranken zu pflegen,
Die Armen zu hegen,
Nicht nur allein,
Auch im Verein,
Der dazu gegründet,
Mit andren verbündet,
Wirkst D u zum Guten
Der Kassler Juden.
Drum lasse Dir danken
Von Armen und Kranken.
D e i n Sorgen und Regen
Es sei D i r zum Segen.


Und noch ein Zitat aus der Gratulation des Bürger-Bezirksvereins Bettenhausen ganz auf Kasselänisch:


Mäh honn uns vom Bürgerbezirksverein Bettenhusen verdebbeld gefreid, alz mäh herden, dass Säh fuffzig Johre alt geworren wären. Sinn Säh doch so ziemlich der einzigste im Derfchen, der noch in der Wulle sizzed, un do honn ech mich dann uff de Strimbe gemach dun bin bei Ihnen nuff, um Ihnen unse beste Gradulazione uszuschbrechen.Säh sinn jo nu eigenlich in Bettenhusen nidd derheime, wawer, wo Säh doch Ähre Fawericke do honn un schond so väle Johre Ihre dreckkigte Wulle do unnen wäschen, wovonne mäh dann alzderzu de Flehe krichen duhn – nix vor ungut, Herr Mosbacher, awer wo ähre Flehe sinn, dos es rasse, dä sbierd mr im Dunkelen us den anneren rus. Un dodervor bedanken mäh uns au scheene un winschen Ihnen noch väle Jaohre in Gesundheit un Läwensfreide, un noch väle Wulle ze wäschen, u nähre Feleh kennen Söh au widder hibben lossen, äs kimmed uf einen mehr nidd ahn.


Das Privatleben kreiste um gemeinsame Feste und kulturelle Ereignisse. Aus dieser Zeit stammt die Gründung des „willhöhen Klubs“, gegründet „zu Mosbach, der Kur- und Badestadt am 25. des Knospenmonats im Jahre des Herrn 1922“. Benyamin fand in seinen Kartons ein 39 Seiten langes, in einen blauen Aktendeckel fadengebundenes und handgeschriebenes Dokument dieses Klubs. Anlass der Gründung war der 40ste Geburtstag Hans Mosbachers. Bei diesem liebevoll gestalteten Buch handelt es sich wohl um ein Geschenk der Freunde an Hans Mosbacher zu diesem runden Geburtstag. Es dokumentiert die ersichtliche Freude, die Mosbachers und ihre Bekannten, Freunde und Familie am Feiern hatten, ebenso wie die Kultiviertheit, mit der Feste gestaltet wurden und die Kreativität, mit der man diese Feste ausschmückte. Nicht alles ist leicht zu entziffern. Das ganze Dokument ist mit kleinen zarten Federzeichnungen versehen, die die Texte illustrieren und den Eindruck eines alten Folianten wiedergeben. Das kleine Buch beginnt mit der Ehrenbürgerurkunde für Johannes Mosbacher, die ihm der Magistrat der Stadt Mosbach ausstellt:


Ehrenbürgerurkunde
Wir, der hochwohlweise Rat der freien Stadt Mosbach, ernennen hiermit den Johannes Mosbach, wohlanständigen Bürger unserer Vaterstadt, zum Ehrenbürger und erteilen eben demselben huldvollst die Genehmigung den Namen Hans Mosbacher führen zu dürfen, [drei Worte unlesbar] in gesteigertem Maße um das Wohl der Stadt verdient gemacht hat.
Der Magistrat der freien Stadt Mosbach


Unterzeichnet von acht Namen. Weiter enthält diese kleine Schrift eine Einladung zum:


40. Frühlingsfest im Mosbach
gefeiert am 22. April abends 8 ½ Uhr pünktlich


Das Festprogramm begann mit einem „Einmaligen Gastspiel der Theatertruppe des willhöhen Klubs Mosbach“ und führte „Erzählungen aus Mosbach“ auf.


Eine musikalische-deklamatorische Fantasie in zwei Akten, einem vor und einem Nachspiel, frei nach Volksliedern, Johannes Brahms, Eduard Künnecke, Leo Sachs, Johann Strauss, Albert Lortzing, Victor Nessler und Jacques Offenbach, zusammengestellt und in Szene gesetzt von Jacob Maria.


Anschließend werden der Ort der Handlung „Land Mosbach“, die Zeit der Handlung „Gegenwärtigste Gegenwart“ und die Spieldauer „Bis zum Erbrechen“ genannt. Die Preise der Plätze sind leckere Speisen. Sperrsitz: „Eine Portion Spargel mit brauner Butter“. Kinderplätze kosten überall Milchkaffee mit Zwieback. Weiterhin werden alle Schauspieler und Verantwortlichen namentlich aufgeführt bis schließlich der Wortlaut der Vorstellung, illustriert durch feine Federzeichnungen, folgt.

Die Satzung des „willhöher Clubs“ und eine kleine Abhandlung über Cassel/Kassel beschließen das Büchlein. Aus der Satzung:


§1
Der willhöhe Klub Kassel ist die freie und ungarnierte Vereinigung von Nasenbrillenbesitzern zwecks Feierns zu Geburtstagen, die durch 10 teilbar sind. (...)
§7
Der Marschgruß des Klubs lautet: Ich lade gern mir Gäste ein. (...)
§17
Ausländer oder Deutsche, die auswandern, müssen jedem Mitglied des willhöher Klubs testamentarisch die 10-fache Einheit der Goldwährung ihres Landes vermachen.


Ein fröhlicher, fast alberner Scherz, in der Sprache der Behörden und Verwaltung. Viel Zeit und Muße verwendete das wohlhabende Bürgertum in den 20er Jahren auf gepflegtes Beisammensein, auf Amüsement und Witz. Liest man dies, so kann man verstehen, warum der Sohn, 60 Jahre später, noch sagen kann, dass Geldverdienen für seinen Vater eine lästige Pflicht gewesen sei und das Leben erst nach der Arbeit begann.6 

Aus dem kleinen Aufsatz „Kassel“7 lohnt es, einige Stellen zu zitieren.


Nachfolgende Zeilen über unsere heißgeliebte Vaterstadt haben unsern geehrten Mitarbeiter Hans von Rittenbach veranlasst, seinen Wohnsitz von Kassel nach Mosbach zu verlegen. Wir geben die kleine Abhandlung nachfolgend wieder, ohne uns mit Inhalt derselben in allen Zeilen zu identifizieren.
Cassel ist das Gegenteil eines Chaplin-Films. Offiziell wird es mit C geschrieben. Ebenso offiziell wird es mit K geschrieben. Es ist einerlei.
Die Einwohner der Stadt nennen sich keineswegs Kasseler, sondern Kasseläner ... Es sind brave Leutchen. Entschieden ein bissel gar zu brav. Die ganze Stadt ist bieder und artig. (Mit Ausnahme der Geschäftsleute. Anmerkung der Geschäftsstelle).
 Und schlecht gelüftet. Hier sitzt noch der Muff der wilhelminischen Epoche. Eine Atmosphäre wie in den Korridoren eines – brrr! Generalkommandos. In den Straßen, in den Gebäuden, in den Menschen.
In dieser seriösen Stadt kann man zum Alkoholiker werden. Man muss nicht unbedingt. Aber es empfiehlt sich. Es ist ja ein Bahnhof da, der die Flucht ermöglicht. Er schlägt in Langweiligkeit den Münchner Hauptbahnhof und das will etwas heißen.... Ich schlage hiermit die Schreibweise „Zassel“ vor.
In Zassel weiß niemand etwas von der Existenz einer Akademie. Dreißig vertrauenswürdig und gebildet aussehende Leute habe ich nach der Akademie gefragt. Immer eine falsche oder gar keine Auskunft. Lediglich die Abortfrau vom Druselturm, die ich interviewte, kannte sich aus.
In diesem Zassel stinkt es. Mein Gott, wie lange ist hier nicht gelüftet worden! In der Hauptpost bekommt man Erstickungsanfälle. Alles ist auf Zuwachs berechnet und von Kahlheit erfüllt. Das Staatstheater ist dreimal zu groß. Das Rathaus knallt vor sinnloser Monumentalität. Einst lagen zwei Infanterie-Regimenter in der Stadt, ein Husaren-Regiment, ein Artillerie-Regiment und ein TrainBataillon. Die Soldaten sind nicht mehr da. ... Zwei Drittel der Bevölkerung sind Beamte. Das dritte Drittel arbeitet in Henschel’s (sic) Fabrik.
Dass Scheidemann Oberbürgermeister ist, nimmt einen wunder. Zassel ist alles andere als rot. Im Gegenteil. Es ist schwarz-weiß bis auf die Knochen. ...
Auch die Altstadt – prima! Zwar hat man sich seit 66 bemüht, das alte Cassel systematisch zu verhunzen, – hat nichts genützt. Wildemannsgasse, Zeughausstraße, Müllergasse, Druselgasse, Judenbrunnen würden mancher Stadt zur Ehre genügen.
Ich habe diesen Aufsatz ohne Luft geschrieben. In Zassel hat man zu nichts Luft. Ich bin froh wenn ich wieder fortziehe.


Ein überraschend kritischer Text über die Vaterstadt, von der Hans Mosbacher und die Freunde so begeistert waren. Aber warum diese Kritik gegenüber der „heiß geliebten Vaterstadt“? Vielleicht um die Vorteile des fiktiven Ortes „Mosbach“ hervorzuheben – weil es in Kassel/Cassel/Zassel so langweilig bieder, luftlos ist, zieht man einfach hoch nach „Mosbach“ und Mosbach liegt in der Kölnischen Straße 92. Die Konstruktion ist eine solche, dass Mosbach die positiven Seiten Kassels enthält, in anderen Worten: „Mosbach“ ist das Beste von Kassel. Es ist ein Spiel mit Orten/Namen und unterstreicht den Grad der Identifizierung jüdischer Bürger Kassels mit ihrer Heimatstadt.


ANMERKUNGEN



1 Die Familie Gotthelft lebte seit dem 18. Jahrhundert in Kassel. Mittelgasse 31 gilt als Stammhaus der Familie; die Familie Plaut wohnte in der Prinzenstraße 14 (heute Pestalozzistraße); die Familie Hallo lebte seit 1731 in Kassel, bekannt vor allem durch die Firma „Gebrüder Hallo – Maler Weißbinder“ in der Spohrstraße 1/2. Rudolf Hallo, Kurator am Hessischen Landesmuseum in Kassel, hat Wesentliches zur Kunstgeschichte in Kassel beigetragen. Sein Sohn William Hallo war Rosenzweig-Gastprofessor im Jahr 1991; Wohnstatt waren die Thoméestr. 5, zuletzt die Kölnische Straße 51.

2 Franz Wallach, 1898 in Kassel geboren und 1997 in Haifa gestorben, war verheiratet mit Gertrud Hallo, einer direkten Nichte Hans Mosbachers, 1901 in Kassel geboren und 1999 in Haifa gestorben; sie war die Tochter seiner Schwester Lotte aus erster Ehe mit Ludwig Hallo.

3 Dieser Verein vertrat die Interessen der Gemeindemitglieder gegenüber den Gemeindeältesten und dem Vorsteher der Gemeinde.

4 Der Israelitische Krankenpflegeverein war einer der ältesten aller jüdischen Vereine. Gegründet am 3. März 1773 wurde er eingerichtet, um „die Pflege der Kranken und die Bestattung der Toten zu gewährleisten. Bedürftige Kranke wurden auch finanziell unterstützt. Siehe: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Kassel 1933–1945, Bd. 2, hrsg. von Wilhelm Frenz, Jörg Kammler und Dietfrid Krause-Vilmar, Kassel 1987, S. 155.

5 Am 21. November 1802 gründete Lucius Liffmann (1772–1803), der erste jüdische praktische Arzt Kassels, die Gesellschaft. Laut Satzung war der Zweck des Vereins die gegenseitige Unterstützung der Mitglieder in Krankheitsfällen und bei finanzieller Not sowie als Wohltätigkeit gegenüber Dritten.

6 Eine Frage stellt sich jedoch bei diesem fröhlichen, politikvergessenden Feierkult: Was meint die Satzung, wenn sie von „Ausländern oder Deutschen, die auswandern“ spricht? Gab es schon Freunde, die in den 20er-Jahren an Auswanderung gedacht haben? Gab es darüber Diskussionen? Hat man überhaupt die politische Entwicklung diskutiert? Oder war man überzeugt „im für Juden sichersten Land Europas“ zu leben und meinte nur den Umzug von Wilhelmshöhe in die Stadt herunter?

7 Dieser kleine Aufsatz stammt ebenfalls aus dem fadengebundenen und handgeschriebenen Dokument zum 40sten Geburtstag Hans Mosbachers.


Die Autorin

EVA M. SCHULZ-JANDER



Dr. phil., wurde in Breslau geboren und immigrierte mit ihren Eltern in die USA. In Houston, Montpellier und Berkeley studierte sie Romanistik, Germanistik und Philosophie und promovierte 1965 über Paul Valéry. Seit 1967 lebt sie in Deutschland.

Sie ist Geschäftsführerin der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Kassel und Mitglied im Präsidium des Deutschen Koordinierungsrats (DKR) sowie Dozentin an der Volkshochschule Region Kassel.




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