Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 81

Oktober 2008

Mit dem 50. Todestag von Papst Pius XII. (1939-1958) am 9. Oktober setzte eine neue Debatte über dessen Rolle während des Zweiten Weltkriegs ein. Klarer als je zuvor widersprach etwa Papst Benedikt XVI. der These, sein Vorgänger habe nicht alle Möglichkeiten zur Rettung von Juden vor der NS-Verfolgung genutzt (siehe Compass 19.09.08). Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußerte sich der Jesuit Peter Gumpel (84), Relator im laufenden Seligsprechungsverfahren, äußerst positiv über die historische Leistung des Pacelli-Papstes und berichtete von neuer Unterstützung von jüdischer Seite, die eine Neubewertung seines Pontifikats und speziell seines Einsatzes für die verfolgten Juden während des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nahe lege. Das zeigte sich auch auf einer dreitägigen Historikerkonferenz in Rom, die von der amerikanisch-jüdischen „Pave the Way-Foundation“ veranstaltet wurde. (Siehe Compass 26.09.2008). Gleichwohl gab es in den letzten Tagen und Wochen zwischen Israel und dem Vatikan weiterhin Differenzen über diese Neubewertung der Rolle von Papst Pius XII. Israels Minister Jizchak Herzog etwa sagte, eine Selig- und Heiligsprechung von Pius XII. sei nicht hinnehmbar. Es gebe keinen Nachweis, dass der Papst etwas gegen die Judenvernichtung unternommen habe. (Siehe Compass 27.10.2008).

Im vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 81 meldet sich nun der israelische Schriftsteller Chaim Noll in dieser Sache zu Wort. Er setzt sich u.a. insbesondere mit der fragwürdigen Wirkung auseinander, die Rolf Hochhuts Theaterstück „Der Stellvertreter“ für das Bild Pius XII. hatte, greift die dementgegen wenig bekannte Untersuchung des Religionsphilosophen Pinchas Lapide zur Rolle des Papstes auf und geht auf die jüngsten Entwicklungen in der Diskussion ein.

Nolls vorliegender Beitrag erschien dieser Tage in gedruckter Fassung in der Zeitschrift "Die Neue Ordnung" (Heft 5/2008). COMPASS dankt dem Autor zur Genehmigung der Online-Wiedergabe seines Essays an dieser Stelle!



© 2008 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 81


Papst am Pranger.
Zum 50. Todestag von Pius XII.

CHAIM NOLL

Eugenio Pacelli, Papst Pius XII, dessen Tod sich in diesem Jahr zum fünfzigsten Male jährt, gilt als eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte. In sein Pontifikat fielen der spätere Teil der NS-Herrschaft, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust. Allein wegen dieser Zeitgenossenschaft war Pius XII. schon zu Lebzeiten Verdächtigungen  ausgesetzt, vor allem durch sowjetische und osteuropäische Propaganda. Doch erst die 1963 erschienene literarische Arbeit eines westdeutschen Intellektuellen, Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“, fügte Pius’ Ruf den schweren Schaden zu, der seinen Namen bis heute diskreditiert. 

In Hochhuths Darstellung erschien Pius XII. als kalter Rechner, als ein Mann, zu opportunistisch, zu eng, zu eigensüchtig, um den Nationalsozialisten und der von ihnen betriebenen Massenvernichtung der europäischen Juden entgegenzutreten. Die Darstellung richtete sich gezielt gegen die Person Pius, aber – wie der ironische Titel des Stückes suggerierte – auch gegen alles, wofür der Pontifex stand: Gott, Kirche und  christliche Religion. Das Stück fällte ein vernichtendes Urteil. „Ein Stellvertreter Christi“, lässt Hochhuth eine seiner Figuren sagen, „der das vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson... ist ein Verbrecher.“

Die publizistische Aburteilung eines Papstes hatte damals, in den Sechzigern, für viele etwas Aufregendes und Begeisterndes. Man war am Anfang der anti-autoritären Bewegung, es galt als kühn, eine mächtige Person oder Instanz durch ungeheuerliche Anschuldigungen in Misskredit zu bringen, möglichst mit der Nebenwirkung, dass etablierte Strukturen der Gesellschaft dadurch Schaden nahmen. Ereignisse wie Hochhuths Stück wurden zum bejubelten Beweis der Macht, die Intellektuelle, besonders Medienleute über die öffentliche Meinung erlangen können. Was Hochhuth über Pius XII. schrieb, beschädigte nachhaltig dessen Bild in der Öffentlichkeit, verringerte das Ansehen der Kirche und des Christentums in Europa, strafte alle diejenigen Lügen, darunter auch viele Juden, die bis dahin in Pius einen integren, sogar tapferen Mann gesehen hatten.

Denn Pius galt vielen, ehe Hochhuths Stück erschien, als „der Papst, der half“. Zeugen erinnerten daran, dass er im besetzten Rom Klöster, Seminare und kirchliche Institutionen für verfolgte Juden öffnen liess, dass durch seine Vermittlung über die päpstlichen Nuntiaturen in verschiedenen Ländern die Deportation Tausender Juden verhindert und vielen von ihnen zur Flucht verholfen wurde, dass er grosse Geldsummen zur Verfügung stellte, um das Entkommen und Verstecken von Juden möglich zu machen.  Ein überlebender Jude, der römische Rabbiner Elio Toaff, erklärte 1958: „Mehr als sonst jemand hatten wir Gelegenheit, die mitleidende Güte und Grossherzigkeit des Papstes während der Jahre der Verfolgung und des Terrors zu erfahren, da es schien, als ob es keine Hoffnung mehr für uns gäbe.“

Pius XII. hatte seine Abneigung gegen die Nazis und ihre Politik seit Beginn seines Pontifikats offen bekannt. Seine öffentlichen Erklärungen veranlassten Albert Einstein 1940 zu der Feststellung: „Nur die katholische Kirche protestierte gegen den Angriff Hitlers auf die Freiheit. Bis dahin war ich nicht an der Kirche interessiert, doch heute empfinde ich grosse Bewunderung für die Kirche, die als einzige den Mut hatte, für geistige Wahrheit (...) zu kämpfen.“ Anlässlich von Pius’ Tod telegrafierte die israelische Aussenministerin Golda Meir an den Vatikan: „Als in den Jahrzehnten des nationalsozialistischen Terrors unser Volk ein schreckliches Martyrium überkam, hat sich die Stimme des Papstes für die Opfer erhoben.“ Der jüdische Komponist Leonard Bernstein legte zu Beginn eines Konzerts mit den New Yorker Philharmonikern eine Schweigeminute ein, „für das Hinscheiden eines sehr grossen Mannes, des Papstes Pius XII.“



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Die bewegenden Erlebnisse von zwei deutschen Schriftstellern, die nach Israel ausgewandert sind und dort eine neue Heimat fanden. Lea Fleischmann und Chaim Noll symbolisieren auf außergewöhnlich Art das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Israel: Sie leben in Israel und schreiben auf Deutsch.

In ihrem neuen Buch setzten sich auf ebenso einfühlsame wie kritische Weise mit ihrer Vergangenheit in Deutschland und der Gegenwart in Israel auseinander. Sie wanderten aus indas Land, in dem Milch und Honig fließen. Doch in Israel fanden sie nicht nur eine neue spirituelle Heimat. Lea Fleischmann und Chaim Noll erleben ihr Land jeden Tag in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, und beziehen leidenschaftlich Stellung. Trotzdem sind sie ihrer alten Heimat verbunden, dem Land, in dem ihre Sprache wohnt. Ihre Erinnerungen sind auch die Erinnerung an zwei deutsche Staaten: Lea Fleischmann wuchs in der BRD auf, Chaim Noll in der DDR. Sie sehen Deutschland und Israel mit kritischer Anteilnahme und schonungsloser Offenheit. Ein einzigartiges Zeitdokument und gleichzeitig Literatur von hohem Rang.



Kann dieser Mann, dem so viel Respekt von jüdischer Seite gilt, derselbe sein, den Hochhuth wegen seines angeblichen „Schweigens zum Holocaust“ zum „Verbrecher“ erklärt? Wie authentisch ist das sensationelle Stück mitsamt den Recherchen, auf die sich Hochhuth beruft? Die historischen Fakten, die gegen Hochhuths Darstellung stehen, waren damals und sind bis heute bekannt. Der jüdische Religionsphilosoph Pinchas Lapide hat sie in den neunziger Jahren veröffentlicht, in seinem Buch Rom und die Juden, einer materialreichen Studie zur Haltung der katholischen Kirche im Holocaust, die den Papst vom Vorwurf des „Schweigens“ freispricht, jedoch – anders als Hochhuths Sensations-Stück – nur geringe Verbreitung erfuhr. Ohne die Schwäche der Kirche zu beschönigen oder die judenfeindlichen Traditionen des europäischen Christentums ausser Acht zu lassen, wies Lapide in seinem Buch nach, dass zahllose Katholiken, darunter der Papst und hohe Kirchenfürsten, grosse Anstrengungen unternommen hatten, um bedrängten Juden beizustehen.

Offenbar fand gerade in diesen Jahren, angesichts eines bis dahin beispiellosen Massenverbrechens, bei vielen Christen ein Erwachen statt, ein Bewusstwerden der Fragwürdigkeit gewisser tradierter Haltungen gegenüber den Juden. Ein Umdenken begann, das sich wenig später in einem neuen Verhältnis der Kirchen zum Judentum niederschlagen sollte, in der 1965 veröffentlichten Konzilserklärung Nostra Aetate und zahlreichen anderen Dokumenten, darunter wesentlichen Änderungen im Glaubenskatechismus. Welche Absurdität: genau in jenen Tagen, in denen Hochhuths Stück erschien, das Papst und Kirche als stillschweigende Dulder des Holocaust brandmarkte, arbeiteten christliche Theologen in Rom an den Grundsatzpapieren, die dem christlichen Antisemitismus ein Ende bereiten sollten.

Insofern war und ist Hochhuths Stück für das Verhältnis zwischen Kirche und Juden – damit auch für die Stellung der Juden in einer christlich geprägten Gesellschaft – kontraproduktiv. Das Stück weist auf ein Versagen der Kirche hin, das heute von der Kirche selbst eingestanden wird, doch es leugnet einen nachweisbaren historischen Prozess, die positive Besinnung der katholischen Kirche während der Schreckenszeit. Diese Besinnung war tiefgreifend, ad fontes, folgenreich, wie sich schon damals nicht nur in Worten, sondern in Taten zeigte: in zahllosen Akten christlich-jüdischer Solidarität. Lapide schätzt die Zahl der europäischen Juden, die mit Hilfe katholischer Institutionen und Einzelpersonen gerettet wurden, auf etwa 800 000. Angesichts dieser enormen Zahl wäre die Kirche – ganz im Gegensatz zu Hochhuths Darstellung – eine der grossen Retterinnen der Juden gewesen.

Aus den Berichten Überlebender wissen wir vom Aufwand und der Mühe, die sich hinter dieser Zahl verbirgt: wie viele Menschen nötig waren, um einen Einzelnen zu retten, wie oft die Verstecke gewechselt werden mussten, wie viele Helfer sich fanden. Wenn 800 000 europäische Juden von Katholiken gerettet wurden, muss die Zahl der christlichen Helfer in die Millionen gegangen sein, beginnend mit dem Papst selbst, mit Kardinälen, Bischöfen, päpstliche Nuntien – darunter der spätere Papst Johannes XXIII., damals Nuntius in der Türkei – bis zu den ungezählten Namenlosen, Geistlichen wie Laien, die durch persönlichen Einsatz Hunderttausende Juden das Leben retteten. Der Papst gewährte Tausenden Unterkunft und Versorgung auf dem Gelände des Vatikan, in Klöstern und Seminaren, sogar in der Jesuitenuniversität Gregoriana und im Keller des Päpstlichen Bibelinstituts, dessen Rektor damals der Deutsche Augustin Bea war, der spätere Kardinal und Lehrer des heutigen Papstes Benedikt XVI. Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Rom, so der polnische Historiker Oskar Halecki in seinem Buch Pius XII. Pope of Peace, „schmuggelten in der ganzen Stadt Priester, Nonnen und andere Fromme unter grosser persönlicher Gefahr Juden in Kirchen, Klöster und andere Verstecke (...) Uber 180 Zufluchtsstätten wurden in Rom zur Verfügung gestellt, und während der nationalsozialistischen Besatzung Roms mehr als 5000 Flüchtlingen geheimes Asyl gewährt.“  

Unweigerlich muss Hochhuth bei seinen „Recherchen“ auf die selben Dokumente gestossen sein wie die Historiker, die sein Stereotyp vom „Schweigen des Papstes“ widerlegen. Er müsste wissen, was alle wissen: dass Pius XII. keineswegs geschwiegen, sondern sich wiederholt gegen Hitlers Regime und Politik gewandt hat. Bereits sein Vorgänger Pius XI. war offen gegen den Nationalsozialismus aufgetreten und hatte insgesamt 48 Erklärungen gegen Hitlers Regime veröffentlicht, darunter die berühmte Enzyklika Mit brennender Sorge von 1937. Von ihm übernahm Pius XII. nicht nur symbolisch den Namen, sondern auch die Haltung gegenüber den Nazis. Schon 1939, im Jahr seines Amtsantritts, schrieb er in diesem Sinn in der Enzyklika Summi Pontificatus: „Unser Vaterherz bangt in tiefer Betrübnis, wenn wir ahnend vorausschauen, was alles aus der Drachensaat der Gewalt und des Hasses hervorwachsen mag (...) Vor allem liegt die eigentliche Wurzel der Übel, die in der modernen Gesellschaft zu beklagen sind, in der Leugnung und Ablehnung eines allgemeinen Sittengesetzes für das Leben der Einzelnen (...) wie für die Beziehungen der Staaten untereinander (...) Müssen wir versichern, dass unser Vaterherz all seinen Kindern mitleidend in Liebe nahe ist, besonders den Bedrängten, Unterdrückten und Verfolgten?“

Die Enzyklika durfte in Hitler-Deutschland nur in verstümmelter Form erscheinen; Priester, die versuchten, sie in vollem Wortlaut von der Kanzel zu verlesen, wurden verhaftet. Bereits hier zeigte sich eins der Probleme päpstlicher Proteste gegen die Nazis: dass sie für jene, denen sie Hilfe sein sollten, unter Umständen nachteilige Folgen hatten. Ein geheimer Lagebericht des Hitlerschen Sicherheitsdienstes SD weist auf die spürbare Wirkung von Pius’ Enzyklika hin: „Aus verschiedenen Meldungen (...) geht hervor, dass in mehreren Fällen Teile des katholischen Klerus erklärten, sie würden es begrüssen, wenn Deutschland den Krieg verlieren würde.“ Im selben Bericht wird der Vatikan direkter Einflussnahme gegen das Regime bezichtigt: „Die Haltung der Priester in verschiedenen Teilen des Reiches zeigt dabei eine so starke Übereinstimmung, dass zentrale Weisungen vorliegen müssen.“ 



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Auch Pius’ Weihnachtsbotschaften seit 1940 wandten sich gegen den Nationalsozialismus und die Juden-Verfolgungen. Am Weihnachtstag 1941 beklagte er „die Schändung menschlicher Würde, Freiheit und des Lebens, die nach Vergeltung rufen“. Die Botschaft wurde in Deutschland, Holland, Belgien und anderen besetzten Ländern beschlagnahmt. In der Weihnachtsbotschaft 1942 erinnerte der Papst wiederum an jene, „die – persönlich schuldlos – um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind“ – der Vertrieb dieses Dokuments wurde nicht nur im gesamten Hitlerschen Reich verboten, sondern auch bestraft, etwa durch Schliessung aller Druckereien, die Pius’ Rede vervielfältigten. 1943 rief er in der Enzyklika Mystici Corporis alle Gläubigen zum Schutz der Juden auf. Gottes Liebe, heisst es dort, sei so gross, dass sie alle Menschen einbeziehe, auch jene, die zwar anderen Glaubens sind, aber „als Christi Brüder dem Fleische nach (...) zu demselben ewigen Heil berufen“ wie die Christen.

Waren diese Worte deutlich genug? „Christi Brüder dem Fleische nach“ – gab es jemanden in Europa, der das nicht verstand? Hätte der Papst politischere Worte wählen müssen oder sie mit drastischen Massnahmen verbinden, etwa der, Hitler und andere Nazi-Führer katholischer Herkunft zu exkommunizieren? „Leider hält die Annahme, dass weltliche Herrscher der modernen Zeit den Päpsten jemals gehorcht hätten, auch der flüchtigsten Nachprüfung nicht stand“, schreibt Lapide in Rom und die Juden. Exkommunikation oder Bann ist die stärkste Waffe, über die ein Papst verfügt, doch sie erwies sich, wie aus mehreren Fällen in der Geschichte bekannt, als politisch unwirksam oder gar schädlich. Lapide zitiert einen Artikel des früheren Generalsekretärs des jüdischen Weltkongresses Kubovy, erschienen 1966 im israelischen Yad Vashem Verlag, der an die letzte päpstliche Exkommunikation – die von Napoleon Bonaparte – und ihre eher kontraproduktive Wirkung erinnert: bekanntlich liess Napoleon den Papst einfach in Haft nehmen und aus Rom deportieren. Im Fall des geborenen Katholiken Hitler hätte überdies, so Kubovy, die Gefahr bestanden, dass dieser „als Reaktion auf die Androhung einer Exkommunikation die grösstmögliche Zahl von Juden töten lassen“ würde.

Um Pius XII. gerecht zu werden, muss man ferner die vergleichsweise ineffizienten Mittel damaliger Nachrichten-Übermittlung und Meinungs-Verbreitung in Rechnung stellen. Es gab keine elektronischen Medien (das Radio nur in seinen kruden Anfängen), und die Bekanntmachung  päpstlicher Proteste war ausschliesslich durch kirchliche Druckschriften möglich – eine Art der Übermittlung, die sich relativ leicht unterbinden liess. Der Papst verfügte nur über schwache politische und keinerlei militärische Machtmittel. Als Hitlers Armeen Rom besetzten, war sein einziger Schutz die Schweizer Garde, eine bekanntermaßen altmodisch ausgerüstete, nur symbolisch bewaffnete Truppe. 

Dennoch übertönt Hochhuths theatralische Parole vom „Schweigen des Papstes“ seit Jahrzehnten alle differenzierten Betrachtungen. Sie erweist sich als erfolgreich in einer vergesslichen, auf Tages-Sensationen fixierten Gesellschaft, die glamouröse Auftritte liebt, nicht komplizierte Wahrheiten. Hat sich niemand von denen, die Hochhuth glaubten, die einfache Frage gestellt, was Pius XII. eigentlich gegen Hitler hätte unternehmen können, ausser Enzykliken zu erlassen und so vielen Menschen wie möglich zu helfen? Hat sich niemand die beschränkten Möglichkeiten dieses Papstes vor Augen geführt, der belagert im Vatikan sass, umringt von Krieg führenden Armeen, und den Josef Stalin, der andere grosse Massenmörder jener Jahre, mit der zynischen Frage abtat: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“

Der Berliner Historiker Michael Feldkamp belegte in seinem im Jahre 2000 erschienenen Buch Pius XII. und Deutschland Zusammenhänge zwischen Hochhuths Stück und der sowjetischen Propaganda jener Jahre, die gezielt gegen Pius und die Institution des Papsttums gerichtet war, da man von der Kirche Einflüsse auf die unterworfenen Völker Osteuropas befürchtete. Die sowjetische Partei-Zeitung Prawda bezeichnete den Papst, wie Feldkamp zitiert, bereits 1945 als „Faschisten“ und „Verbündeten Hitlers“. Schon seit diesen Tagen geistert die These vom Paktieren des Vatikan mit Nazi-Deutschland durch europäische Medien. Die im Januar 2007 in der amerikanischen Zeitschrift National Review veröffentlichten Erinnerungen eines ehemaligen rumänischen Securitate-Generals Pacepa (unter dem Titel Moskaus Anschlag auf den Vatikan) behaupten sogar, der sowjetische Geheimdienst hätte eine gezielte Zersetzungs-Kampagne gegen Pius koordiniert, mit dem Ziel, „die moralische Autorität des Vatikan in Westeuropa zu untergraben“. Die Veröffentlichung sorgte weltweit für Aufsehen, mit Ausnahme des Landes, in dem 1963 Hochhuths Stück erschienen war. In der Wiener Tageszeitung Die Presse konstatierte Anne-Cathrin Simon am 21.Februar 2008 ein neues Schweigen: keins des Papstes, sondern der deutschen Medien. „Das deutsche Feuilleton, sonst so debattenfreudig, griff die Frage nicht auf.“

Letztlich ist es unerheblich, ob Hochhuths Stück mit einer Kampagne des sowjetischen Propaganda-Apparats koinzidierte, womöglich – wie einige Autoren mutmaßen – mit ihr abgestimmt war. Auch wenn man Hochhuth diesen Verdacht erspart, kann man ihn von anderen Vorwürfen nicht freisprechen: von dem des leichtfertigen Umgangs mit der Wahrheit, des Ignorierens historischer Tatsachen und der willkürlichen, manipulativen Darstellung. Wenn grosse Teile der europäischen Kirchen versagt hatten, als es um Solidarität mit den Juden ging, blieb die Schuldzuweisung an den gerade amtierenden Papst, den Mann Eugen Pacelli, dennoch ein höchst fragwürdiges Mittel, weniger der historischen Wahrheit geschuldet als dem spektakulären Effekt.



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"Die Neue Ordnung"
begründet von Laurentius Siemer OP
und Eberhard Welty OP
herausgegeben vom
Insitut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V.




Heft Nr. 5/2008 Oktober



Editorial
 Wolfgang Ockenfels, Noch einmal davongekommen?
 Lothar Roos, Wahre und falsche Hoffnung. Zur Enzyklika "Spe salvi"
Anton Rauscher, Anmerkungen zum Naturrecht
 Peter Schallenberg, Zukunft ohne Menschenbild? Das Gute und die Tugend
 Konrad Löw, Katholische "Vergangenheitsbewältigung" 
 Chaim Noll, Papst am Pranger. Zum 50. Todestag von Pius XII.

Bericht und Gespräch
Hans-Peter Raddatz, Minarett, Moschee und Scharia (Teil 2)
Johannes Schwarte, Zum "Wächteramt" des Staates. Erziehungsrecht und Kindeswohl
Frank Geldmacher / Andreas Rauch, Linkspopulismus in Europa


Der Autor

CHAIM NOLL

ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller.

(Foto: © Fred Viebahn)

Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.

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Betreff: Noll Einladung


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