Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 47

März 2007

Nachfolgender Beitrag erschien in gedruckter Fassung erstmals im Deutschen Pfarrerblatt (3/2005).

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Online-Extra Nr. 47


Antisemitismus und Nahost-Konflikt.

Ein Versuch, Begriffe zu klären: von was reden wir, wenn wir reden von …


ANDREAS GOETZE

Vielfach werden die Begriffe im jüdisch-christlich-muslimischen Dialog verwandt, wobei nicht immer deutlich ist, was im einzelnen gemeint ist. Auf diese Weise entstehen Missverständnisse und Unschärfen, wenn über das Verhältnis zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Antijudaismus gesprochen wird. Daher ist es wichtig, darzulegen von was wir reden, wenn wir bestimmte Begriffe nutzen und dabei zwischen dem europäischen und dem arabischen Kontext zu unterscheiden.


I. Im europäischen Kontext

1. Antijudaismus: religiös – heilsgeschichtliche Judenfeindschaft

Antijudaismus als eine grundsätzlich ablehnende  Gesinnung und Haltung gegenüber den Juden als Juden ist um Jahrhunderte älter als das Christentum. Feindliche Reaktionen gegen die Juden gab es in der „heidnischen“ Umwelt aus verschiedenen Gründen: Juden konnten und wollten neben dem einen Gott keine anderen Gottheiten verehren oder anbeten. Die Reinheits- und Speisegebote unterschieden die Juden nicht nur von anderen Völkern, sondern trennten sie. Auch das Bilderverbot war für den antiken Menschen befremdend. Die Darstellung der jüdischen Heilsgeschichte wirkte auf andere Kulturvölker beleidigend (z.B. der Exodus-Erzählkreis auf die Ägypter; der Erwählungsgedanke). Judenfeindschaft als eine Form von Fremdenfeindlichkeit hatte im Altertum eine lange Tradition. Dies hat auch die christliche Kirche in ihrer Entstehungszeit beeinflusst und dazu geführt, neutestamentliche Stellen zunehmend judenfeindlich auszulegen.

Der christliche Antijudaismus hat seine Wurzeln im Neuen Testament. Dabei ist aber zu unterscheiden zwischen früheren und späteren Schriften sowie zwischen den Aussagen und ihren späteren Deutungen. Die Auseinandersetzung Jesu mit einigen Führern des Judentums (Schriftgelehrte, teilweise möglicherweise auch Pharisäer) kann noch als ein innerjüdischer Konflikt betrachtet werden. Die späteren Schriften des Neuen Testamentes sind zum Teil beeinflusst durch einen wachsenden gegenseitigen Entfremdungsprozess. Die zunehmende Verwerfung „der Juden“ ging Hand in Hand mit der nicht minder radikalen Verwerfung „der Nazarener“ seitens der Synagoge.  Das traditionelle Judentum wies die kleine, doch rasch wachsende Christengemeinde als eine apokalyptisch-messianische Sekte ab. Die junge Kirche umgekehrt wendete sich gegen die Synagoge als eine von Jesus überholte Tempel- und Gesetzesreligion (jeder suchte seine Identität durch Abgrenzung zu sichern).

So kam es zu zwei konkurrierenden Schriftinterpretationen: die christologische Auslegung der Hebräischen Bibel (unseres Alten Testamentes) zog eine antijüdische Auslegung nach sich (Legitimationszwang: Kirche als „neues Israel“; Entlastung der Römer auf Kosten der Juden beim Prozess gegen Jesus u.a.).

2. Antisemitismus: biologistisch-rassistisch begründeter Judenhass

Das Wort „semitisch“ hatte noch im 19. Jahrhundert die ganze Sprachgruppe der Semiten abgedeckt (also auch die Araber). 1879 schuf der deutsche Autor Wilhelm Mahr das Wort „antisemitisch“, um dem Judenhass einen „wissenschaftlichen“ Namen zu geben und verband ihn mit einer Rassentheorie (Rassenkampf statt Klassenkampf). 

Mit dem europäischen Nationalismus wuchs ein Antisemitismus heran, der ganz im Sinne de sozial-darwinistischen Zeitgeistes (Selektionsprinzip: das „Überleben des Tüchtigsten“) rassistsich-biologistisch begründet war und nicht mehr biblisch-religiös. Dabei verstand sich speziell der deutsche Nationalismus – anders als der französische - nicht als Willenseinheit, sondern romantisch als einheitliche „Volksindividualität“ mit einem besonderen „Volksgeist“ und „Volkscharakter“. Hier braute sich nun Ende des 19. Jahrhunderts ein explosives Gemisch aus Nationalismus und Rassismus zusammen („völkische Schwärmerei“), dessen Brisanz weithin unterschätzt wurde, weil es scheinbar nur die altbekannte Judenfeindschaft war. Der Kampf der (germanischen) „Herren-Rasse“ um die Weltherrschaft gegen das „internationale Weltjudentum“ hatten zwei Ziele: Lebensraumeroberung (hier gründet der Weltkrieg) und Judenvernichtung gegen die „jüdische Weltverschwörung“ (hier gründet der Holocaust).

Die über Jahrhunderte gezeichneten Zerrbilder hatten sich verselbständigt: Juden waren zu einer „Metapher des Bösen“ geworden, die nicht einmal mehr einer realen Erscheinung bedürfen, um Wirkung zu haben: „Die Juden als Gottesmörder“; sie sind „reiche und ausbeuterische Händler, Bänker und Geldverleiher“ (besonders seit dem frühen Mittelalter , als die Juden die Nischen besetzten, die Christen verschmähten); „die Juden sind als vom Rest der Menschheit getrenntes Volk listig und im Besitz unheimlicher Macht“, „die jüdische Rasse  der eigentliche Feind der Humanität“, die „gesellschaftlich zersetzend wirken“.

Der Antisemitismus hat bis heute eine starke psycho-soziale Funktion: Eine Bevölkerung, konfrontiert mit Schwierigkeiten mannigfacher Art, bedarf nach wie vor des „Sündenbocks“, um sich abzureagieren, so dass sich aufgestaute Neid- , Hass- und Frustationsgefühle entladen können. Begriffe wie „Jude“ oder „Judentum“ können sich so verselbständigen und zur Metapher des Bösen werden (besonders dann, wenn im kollektiven Gedächtnis eines Volkes die Abneigung tief verwurzelt ist und einen Beitrag zur Legitimierung und Absicherung des eigenen Selbstverständnis darstellt).

3. Philosemitismus: unkritische, projüdisch-israelische Haltung

 Ausgangspunkt ist die (als notwendig erkannte) freundlich-freundschaftliche Haltung gegenüber den Juden und dem Staat Israel aufgrund des tiefen Erschreckens über das grausame menschliche Fehlverhalten. Man erkannte, dass man das Judentum näher kennen lernen und bewerten muss. Die antijudaistische Tradition soll durch ein intensives Kennenlernen des Judentums inklusive einer nicht christologischen Lesart der Hebräischen Bibel abgebaut werden.

Die Hauptperspektive der Mehrzahl der Christen in der westlichen Welt orientiert sich an dem Wunsch, den christlichen Antijudaismus und Antisemitismus der Vergangenheit zu kompensieren. Daher unterstützen sie die Existenz eines jüdischen Staates Israel als Wiedergutmachung für die erlittene Verfolgung der Juden in Europa. Das mehrheitliche Schweigen gegenüber der Notlage der Palästinenser besonders seitens der westlichen Christen ist Ausdruck für die Überzeugung, aufgrund des jahrhundertelangen antijudaistischen Erbes hätten die Christen das moralische Recht verwirkt, den Staat Israel und seine Politik zu kritisieren. Sie erkennen durchaus das Unrecht, das in den besetzten Gebieten durch den Staat Israel geschieht, glauben aber, dass die Aufgabe der Reue und der Wiedergutmachung die Herausstellung dieses Sachverhaltes verwehrt.

Philosemitismus wie der Antisemitismus hat seinen Ausgangspunkt weniger an konkreten Erfahrungen und Begegnungen mit jüdischen Menschen. Er ist daher noch schärfer als eine Haltung zu beschreiben, die wie der Antisemitismus nicht an konkreten Begegnungen mit Juden interessiert ist (also an echtem Aufarbeiten und Kennenlernen), sondern vermittelt auf seine Art ebenso Vorurteile und Unkenntnisse: so werden die Israelis/ die Juden wieder einmal nicht als normale Mitmenschen, sondern als eine Art „Über-Mensch“ (statt wie im Antisemitismus als „Unter-Mensch“) anerkannt, die nicht fehlbar sein können und daher auch für menschenrechtsverletzende Politik nicht kritisiert werden können Eine Spielart dieses Philosemitismus ist der christliche Zionismus (s. Pkt. 4).

4. Christlicher Zionismus: apokalyptisch-endzeitlich geprägte unkritische projüdisch-israelische Haltung

Auf dem Hintergrund der Scham und Reue  aufgrund der fatalen Folgen von Antijudaismus und Antisemitismus kann in der westlichen Welt die größte und einflussreichste christliche Bewegung relativ ungehindert und fernab aller Infragestellung ihre Grundüberzeugungen vertreten: die Vielzahl der Gruppierungen, die man als so genannten „christliche Zionisten“ bezeichnen kann. Für sie kann der Staat Israel nichts Unrechtes tun, weil er in ihren Augen in ununterbrochener Kontinuität zum alten Israel der Bibel steht. Sie interpretieren 1. Mose 12, 3 im Sinne von: „Wenn du Israel kritisierst, dann kritisierst du Gott“. Sie sehen in der Staatsgründung Israels und der Rückkehr der Juden im Jahr 1967 nach Jerusalem und nach „Judäa und Samaria“ (völkerrechtlich: die besetzten Gebiete) entscheidende apokalyptische Zeichen für den Beginn der Endzeit und das zweite Kommen Christi.

Auf internationaler Ebene haben die „christlichen Zionisten“ 1980 die „Internationale Christliche Botschaft“ in Jerusalem als ein „Glaubenswerk“ gegründet, um dem Staat Israel „vorbehaltlose Liebesbeweise aufgrund seiner göttlichen Zweckbestimmung“ zukommen zu lassen. Politisch steht die „Botschaft“ hinter den Forderungen des LIKUD-Blocks und unterstützt die Siedlungstätigkeiten in „ganz Palästina“. Die Politik Israels und die Handlungsweisen in den besetzten Gebieten werden durchweg gerechtfertigt. (Die Politik des derzeitigen amerikanischen Präsidenten G.W. Bush ist von diesem Denken wesentlich geprägt – ebenso wie es der ehemalige britische Außenminister Balfour gewesen war, nach dem die „Balfour-Erklärung“ von 1917 benannt ist: diese „Balfour-Erklärung“ versprach den Juden eine „nationale Heimstätte“ in Palästina).

Die Grundüberzeugungen der „christlichen Zionisten“ lassen sich wie folgt zusammenfassen:


1. Gott gab den Juden das ganze Land Palästina als ein verheißenes Land in biblischen Zeiten. Diese göttliche Schenkung des Landes gibt Juden heutzutage ein fortdauerndes und bedingungsloses Recht, dieses Land zu besetzen, ohne Rücksicht auf andere Menschen, die historisch dort gelebt haben.
2. Als Vorbereitung für die letzte Phase der Endzeit, bei der Jesus als Messias wiederkommt, müssen alle Juden ins Land zurückkehren, es in vollem Umfang wiederbesiedeln und den Tempel wieder aufbauen.
3. Die Gründung des Staates Israel und die jüdische Besiedlung des Landes sind Erfüllung biblischer Prophetie, die in die letzten Tage des Gerichts und der Erlösung hineinführen werden. Dies wird vollendet werden, wenn sich alle Juden zum Christentum bekehrt haben.
4. Dann wird die Schlacht von Harmageddon stattfinden, in der die Feinde Gottes (Ungläubige, Kommunisten, Muslime) getötet werden. Die Heiligen (einschließlich der bekehrten erwählten Juden) werden zum Himmel entrückt werden, während Gott die Erde von den Feinden Gottes säubern wird. Anschließend werden diese Heiligen zu einer gereinigten Erde herabsteigen, um die Wohltaten des dann anbrechenden „Tausendjährigen Reiches“ zu genießen.


5. Politischer Zionismus: moderne jüdische Nationalbewegung

Biblisch ist mit der Rückkehr nach Zion der Beginn der messianischen Zeit verknüpft. Die zionistische Bewegung wurzelt in der Erinnerung der Diaspora-Juden an das verloren gegangene historische Land Israel und in der Hoffnung darauf, eines Tages dorthin zurückzukehren. Der politische Zionismus entstand im säkularen Klima der Aufklärung, dem Anwachsen des europäischen Nationalismus und dem fortdauernden Antisemitismus in Mittel- und Osteuropa. In der Erkenntnis, dass die Assimilationsversuche (die Anpassung an die europäische Kultur und Gesellschaft und das Verständnis von Judentum als eine an kein bestimmtes Land gebundene Religion) immer mehr scheiterten, wurde das Fehlen eines eigenen Landes und die Verbundenheit mit dem „Land der Väter“ vielen Juden bewusst (Programmatische Schrift: Theodor Herzl: „Der Judenstaat“, 1896). Das Selbstverständnis der religiösen Juden mit ihrer Deutung von „Erez Israel“ lag dabei mehrheitlich nicht in Übereinstimmung mit dem politischen Zionismus.

Das Ziel des Zionismus war es, das Judentum zu modernisieren, indem er es politisierte, nationalisierte und das jüdische Volk in die jüdische Nation verwandelte, um den Juden zur  Selbstachtung als eigenständiges Volk zu verhelfen und die Achtung der Nichtjuden zu gewinnen. Eine völkerrechtlich abgesicherte „Heimstätte“ der Juden im Land Israel sollte dies ermöglichen. Dabei bildeten sich auch beim Zionismus verschiedene Strömungen heraus, die sich entweder mehr am Sozialismus, am Liberalismus oder an orthodoxen Glaubensinhalten (weitergeführt in der national-religiösen Bewegung) orientierten.

Prägten die messianischen Implikationen („Heimkehr nach Zion“, „Aufbau einer gerechten Gesellschaft“, „Bearbeitung des Bodens als Gottesdienst“: vgl Kibbuzbewegung) die politische Willensbildung bis 1967 eher unterschwellig, rückte ein verstärkt national-religiöses Selbstverständnis nach der Eroberung des „biblischen Kernlandes Judäa und Samaria“ in den Mittelpunkt der israelischen Politik und bestimmt sie bis heute (bes. durch den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten).

6. Antizionismus: kritische Haltung zum Staat Israel bis hin zur Ablehnung desselben

Wesentlich für das Selbstverständnis des Zionismus war der Gedanke, nach der alle jüdischen Gemeinden überall in der Welt als Bestandteil einer heimatlosen Nation anzusehen seien. Daraus folgte notwendigerweise die Ablehnung der „Diaspora-Existenz“ des Judentums („Leben in der Diaspora verkennt die wahre Bestimmung des Judentums“).

 So gab es bereits innerjüdische Kritik, die sich wenn nicht antizionistisch, so doch bewusst nichtzionistisch verstand: Zum einen aus religiösen Gründen („säkulare, menschliche Einflussnahme für die Schaffung des messianischen Reiches ist gotteslästerlich“), zum anderen aus pragmatisch-politischen Gründen (neues Selbstverständnis der „Diaspora“, die sich dem Rechtfertigungsdruck entzieht, indem sie jüdisches Leben nicht identifiziert mit Leben im jüdischen Staat).

Von Seiten der arabischen Nachbarn meinte Antizionismus vom Ursprung her: Die Nichtanerkennung des Staates Israel und damit die Bestreitung seines Existenzrechtes überhaupt (insofern war das Oslo-Abkommen 1993 zwischen dem Staat Israel und der PLO historisch zu nennen, weil hier zum ersten Mal die Anerkennung des Existenzrechtes gegenseitig ausgesagt worden ist).

Schließlich wird Antizionismus im westlichen Kontext gebraucht für die Kritik an der israelischen Politik. Dabei wird besonders der Staat Israel als stärkste Militärmacht des Nahen Ostens und als unterdrückende Macht beschrieben entgegen denjenigen, die im Staat Israel vor allem ein bedrängtes und gefährdetes Land sehen).

Damit ist Antizionismus zunächst keine Spielart des Antisemitismus, weil er sich nicht gegen Juden bzw. das jüdische Volk allgemein richtet, sondern konkret die politischen Verhältnisse im Blick hat. Ausgangspunkt ist die berechtigte Kritik der jüdisch-israelischen Siedlungspolitik seit der Staatsgründung und der Art, wie israelische Regierungen mit der einheimischen Bevölkerung umgehen: Vertreibung, Unterdrückungsmaßnahmen, Menschenrechts-Verletzungen, Unterwerfung eines Volkes, Beherrschung des Landes und insbesondere der Wasserreserven.

Antizionismus meint in diesem Zusammenhang auch die Kritik an der zionistischen Struktur des Staates Israel, in dem Nichtjuden  rechtlich und sozialpolitisch „Bürger 2. Klasse“ sind. Dahinter steht die seit der Staatsgründung offene (Verfassungs-) Frage, inwiefern der Staat Israel ein „Jüdischer Staat“ und damit keine (!) Demokratie ist oder eine Demokratie wird mit den gleichen Rechten und Pflichten für alle (!) seine Bürger.

Antizionismus ist nicht einfach mit Antisemitismus gleichzusetzen: Nicht alle Juden sind Zionisten. Die meisten Juden leben nicht im Staat Israel und wollen das auch nicht. Nicht alle Zionisten sind Juden (siehe Pkt. 4). Und nicht alle Israelis sind Juden.

Antizionismus nähert sich allerdings dem Antisemitismus (d.h. muss nicht identisch damit sein!), wenn bei der Kritik an der Politik des Staates Israel der historische Hintergrund ausgeblendet wird (Staatsgründung als Reaktion auf den Antisemitismus) und die Geschichte der Juden einfach allgemein in die Geschichte des europäischen Imperialismus eingeordnet wird und wenn dabei leichtfertig von „jüdischer Macht“ und „jüdischem Einfluss“ gesprochen wird.

Erschwerend bei der Beurteilung kommt hinzu, dass sich der Antisemitismus des Antizionismus bedienen kann, um die eigene antisemitische Haltung  zu verschleiern. So kann sich Antisemitismus hinter der Fassade legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel verstecken.



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II. Im arabischen Kontext

1. Wahrnehmung des jeweiligen Kontextes als unerlässliche Voraussetzung


Zunächst muss festgehalten werden: Das Verhältnis Juden-Araber hat seine eigenen historischen Verflechtungen. D.h.: wir müssen uns freimachen von den spezifisch deutschen Vorstellungen und dem damit einhergehenden Interpretationsmustern. Wir müssen vorsichtig sein, unsere Wahrnehmungen auf den Vorderen Orient zu übertragen. Es gibt bei uns eine etwas „atemlose Aufgeregtheit“, dass andere die Vergangenheit bewältigen sollen, die sie gar nicht zu bewältigen brauchen, weil sie sie so nicht haben.

a. Entgegen der verkürzten westlichen Darstellungsweise geht es nicht um einen Konflikt Muslime – Juden, sondern Araber – Juden (vgl. die vielfach antijüdische Theologie christlicher Araber oder die Stellungnahme vom koptischen Papst Shenuda III, der seinen Gläubigen Pilgerfahrten nach Jerusalem untersagt, solange die Besatzung andauert).

b. Im arabischen Kontext waren die Juden nur eine Minderheit unter vielen, d.h. die Aufmerksamkeit konzentrierte sich nicht wie in Europa nur auf sie. Historisch gesehen ist der mittelalterliche Orient viel stärker durch ethnische (und religiöse) Vielfalt gekennzeichnet als der mittelalterliche Okzident. Der Islam entwickelte daher kein besonderes Gesetz für die Juden im Unterschied zum Christentum. Es mangelte der nordeuropäischen Christenheit an ethnischer Ausdifferenzierung, was die antijüdischen Ressentiments verschärfte (Juden als „Bedrohung und Schwächung der Gesellschaft“).

c. Juden und (orientalische) Christen profitierten in der Welt des Islam von der rechtlichen Duldung als „geschütztes Volk“ (arabisch: „ahl al-dhimma“). Den Juden kam so keine Sonderbehandlung zu. „Toleranz“ meint hierbei nicht die Gewährung gleicher Rechte, sondern „Nichtverfolgung“. (Nebenbemerkung: Der Mythos des „goldenen Zeitalters mit gleichen Rechten“ war ein Ergebnis der jüdischen Sympathie mit dem Islam und entwickelte sich besonders durch Juden im Europa des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die Verfolgung durch das „christliche Abendland“ seit dem Mittelalter: Angesichts der antijüdischen Gewalt im Christentum erschien das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen im Nahen Osten als „tolerant“).

d. Die Juden in Nordeuropa besetzten überwiegend jene ökonomischen Nischen, die von den Christen verschmäht wurden (Bankgeschäfte, Kreditwesen). Währenddessen waren die Juden in das wirtschaftliche Leben der arabischen Gesellschaft gut integriert und waren gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell eingebettet – im Gegensatz zu Nordeuropa (profitables Wirtschaften war mit dem islamischen Gesetz und der Theologie vereinbar).

e. Das Verhältnis von Muslimen zu Nichtmuslimen wurde in der islamischen Welt  mehr pragmatisch unter dem Gesichtspunkt der Machtverhältnisse und des Nutzens interpretiert. Das Gesetz der dhimma wies bestimmte Restriktionen auf, die ursprünglich wohl eher die Aufgabe hatten, die zerbrechliche Identität der muslimischen Eroberer zu schützen als die  Nichtmuslime zu unterdrücken (zu den Vorschriften gehört u.a.: Keine Errichtung neuer Gotteshäuser, keine ehrenden Beinamen, keine öffentlichen Ämter). Außer der Kopfsteuer wurden seit der Frühzeit des Islam diese restriktiven Gesetze nur unregelmäßig und sporadisch durchgesetzt.

f. Im nordeuropäischen Kontext waren die Juden eine marginalisierte, schwache Minderheit, die wenig konfliktfähig war. Die geschichtliche Situation im Nahen Osten ist eine völlig andere. Zum einen zerbrach mit dem Ende des osmanischen Reiches und den Einflüssen der Kolonialmächte das stabilisierende Dhimmi-System. Zum anderen entstand der Staat Israel, der im arabischen Kontext als übermächtiger Gegner wahrgenommen wird.

2. Elemente arabischen (!) Antisemitismus – Versuch einer geschichtliche Einordnung

Anknüpfend an die Liturgie der griechisch-orthodoxen Kirche (der größten Kirche im Vorderen Orient) und ihre judenfeindlichen Passagen („Kirche als neues Israel“, „Juden als Gottesmörder“, „das –kommende - Gericht über die Juden“) haben die christlichen Araber (und die Missionsgesellschaften) den Antisemitismus europäischer Ausprägung im 19. Jahrhundert im Nahen Osten verbreitet. Deshalb ist es notwendig, nicht nur von einem „islamischen Antisemitismus“ zu reden, sondern von „arabischem Antisemitismus“.

Arabische  anti-jüdisch-israelische Propaganda (in diesen weiten Kontext ist die Problematik m.E. zu stellen) schließt drei wichtige Elemente mit ein: die judenfeindlichen Aussagen in der islamischen Tradition (a.), die aus Europa und dem westlich-christlichen Kontext stammenden antisemitischen Stereotypen (b.) und die Verschiebung der Machtverhältnisse mit den daraus resultierenden Ohnmachtserfahrungen (c.- f.).

a. Die islamische Tradition kennt eine religiös-heilsgeschichtliche Judenfeindschaft aus der Zeit Mohammeds. Die jüdischen Stämme Medinas weigerten sich, Mohammed als Propheten anzuerkennen und unterschrieben nicht die vorgelegte Gemeindeordnung. Der Konflikt mit dem Judentum verschärfte sich: aus einer theologischen Auseinandersetzung entwickelte sich ein kriegerischer Konflikt. Die Juden waren aus der Gemeinschaft des Islam ausgeschlossen, sie wurden vertrieben oder vernichtet. Die durch die Erfahrung Mohammeds hervorgerufenen Aussagen des Korans über die Juden (und in ihrem Gefolge über die Christen) wurden durch das Dogma, der Koran offenbare letztgültig den Willen Gottes, zu einer höheren, absoluten Dimension erhoben.

So wurde aus einer zeit- und ortsgebundenen Auseinandersetzung mit einem winzigen Teil des Judentums durch das Dogma vom ungeschaffenen, ewigen Koran eine wahre und immer gültige Offenbarung, die für das muslimische Selbstverständnis bis zum heutigen Tag prägend ist. Diese Vorurteile gegenüber Juden wurden aber im Allgemeinen dadurch aufgehoben, dass die Juden (wie andere Minderheiten) unter islamischen Regimes immer einen geschützten Status hatten.

b. Antisemitische Stereotype aus Europa finden Eingang in den arabischen Antisemitismus, der die Juden selbst dämonisiert, was durch den Nah-Ost-Konflikt (mit der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik, der Ohnmacht der UNO u.a.) entsprechend verstärkt wird. Im Lichte der erfahrenen Ohnmacht werden juden- bzw- christenkritische Koranpassagen neu gelesen und für antisemitische Ausführungen bzw. für feindselige Handlungen instrumentalisiert.

c. Das Gefühl, durch „den Westen“ in der eigenen kulturellen und religiösen Identität bedroht zu sein, beginnt erst im 19. Jahrhundert durch die Erfahrung der militanten Aggressivität und durch den kulturellen und wirtschaftlichen Expansionsdrang des Westens seit der ägyptischen Expedition Napoleons.

d. Der Kampf gegen die ausländische Präsenz auf genuin „islamischem Boden“ (unveräußerliches Stiftungsgut: Waqf) wurde bereits für die Muslimbrüder unter Sayyid Qutb in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts zur wichtigen Pflicht des Dschihad. Unter der islamischen Widerstandsbewegung HAMAS wird Ende der 80er Jahre der nationale Befreiungskampf für Palästina unter spezifisch islamischen Vorzeichen revitalisiert und das Palästinaproblem auf die universelle Ebene der „islamischen umma“ gehoben (inklusive territoriale Kompromisslosigkeit).

e. Die dadurch erfahrene  Verunsicherung im eigenen Selbstverständnis („Islam als überlegene Religion“) sucht sich eine entsprechende Entlastungstheorie. Die These von einer „westlichen Verschwörung“ nimmt in der Folge sowohl bei Islamisten als auch bei den arabischen Nationalisten einen breiten Raum ein. In diesem Zusammenhang spielen die „Protokolle der Weisen von Zion“ (einer zaristischen Hetzschrift gegen die Juden aus dem 19. jahrhundert) eine besondere Rolle: auch im Wissen um die Fälschung werden sie in arabischen Medien immer wieder zitiert und verbreitet als wären sie historische Zeugnisse: „It does not matter, whether they are fact or fiction: their ‚predications’ have largely come true“.

f. Die nordeuropäischen Mächte hatten zudem mit ihrer kirchenpolitischen Konkurrenz im 19. Jahrhundert um symbolische Präsenz in Palästina mit den Grund dafür gelegt, dass das „Heilige Land“ zum zentralen Symbol bei den religiös-politischen Interessenkonflikten geworden ist (bis dahin spielte z.B. Jerusalem als „Heilige Stadt“ im Islam nur eine untergeordnete Rolle: das änderte sich noch mehr nach der Staatsgründung Israels und dem erklärten Anspruch, Jerusalem „sei auf ewig ein Teil Israels und damit jüdisch“).

III. Einige Problemanzeigen

Sicher gibt es in der aktuellen Auseinandersetzung noch mehr Problemfelder als die folgenden. Die Diskussion der nachfolgenden Fragen erscheint mir jedoch als besonders dringend geboten:

a. Der arabische Antizionismus hat vielfach die Funktion, durch die Beschwörung des gemeinsamen Feindes die inneren Differenzen zu überspielen und damit einen Beitrag zur eigenen Legitimation der Regime zu sein. Wie kann es zu einer offeneren und damit selbstkritischeren Gesellschaft kommen? Es gilt: „wer schweigt, stimmt zu“: Wie können islamische Gruppierungen in Europa und einzelne Muslime unterstützt werden, zum Islamismus und zu den islamischen Staaten und deren Politik kritisch Stellung zu beziehen?

b. Die unausgesprochene Grundlage des christlich-jüdischen Dialogs über Jahrzehnte war (und ist) die Gleichung Judentum = Zionismus = Staat Israel. Unter dieser Voraussetzung ist jede Kritik an der Politik des Staates Israel antizionistisch und damit antijüdisch bzw. sogar antisemitisch. Unter der Voraussetzung, dass der Zionismus eine Form des Gegensatzes zum Antisemitismus darstellt, scheint daraus zu folgen, dass ein Antizionist ein Antisemit sein muss. Damit wird aber unterstellt, dass der jüdische Staat mit dem jüdischen Volk identifiziert werden kann (was wohl dem zionistischen Selbstverständnis entspricht, nicht aber dem Selbstverständnis der Juden weltweit: s.o. zum Diaspora-Verständnis). Wie bestimmen wir das Verhältnis von „Israel nach der Schrift“ und Israel als Staat“?

c. Jüdisch-israelisches Selbstverständnis (und auch christlich-zionistisches) sieht in der Kritik an der israelischen Politik oft eine Spielart des Antisemitismus. Das ist zum einen die Kehrseite eines entsprechenden arabischen Verschwörungsmythos (die Rede von der „jüdischen Weltverschwörung“). Auch dabei sind mehrheitlich nicht reale, sondern ideologische Bilder leitend. Zum anderen immunisiert man sich durch den Vorwurf, Kritik an der Politik des Staates Israel sei tendenziell antisemitisch, von berechtigter Kritik, die die Einhaltung von internationalem Völkerrecht anmahnt, und begibt sich damit außerhalb der internationalen Gemeinschaft. Auch hier gilt: „wer schweigt, stimmt zu“: Wie können jüdische Organisationen und Individuen unterstützt werden, sich öffentlich von unrechtmäßigen und unmenschlichen politischen Taten der israelischen Regierung zu distanzieren?

d. Antisemitismus in den arabischen Ländern ist eine reale Gefahr, wenn antijüdische theologische Gefühle und der „Kriegsrassismus“ gegen den Staat Israel zusammenkommen. Stellen die antijüdischen Handlungen und Worte besonders arabischer Jugendlicher eine Form von „Kriegsrassismus“ dar, der durch den anhaltenden israelisch-palästinensischen Konflikt erst entstanden und dann verschärft wird? (Dass sich die anderen arabischen Jugendlichen mit den palästinensischen Jugendlichen identifizieren und die Juden mit der israelischen Armee gleichsetzen: dann wäre diese Art von „Kriegsrassismus“ nicht mit einer Kultur verbunden, die den Juden zurückweist, weil er Jude ist und man müsste ihn vom westlichen Antisemitismus unterscheiden, selbst wenn er sich Stereotypen daraus bedient).



LITERATURHINWEISE

Literatur, die den Gedanken zugrunde liegt und benutzt wurde:

· Bouman, Johan: Der Koran und die Juden: Die Geschichte einer Tragödie (Darmstadt 1990)

· Busse, Heribert: Die theologischen Beziehungen des Islam zu Judentum und Christentum (Darmstadt 1991)

· Deutsch-Israelischer-Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten e.V. (DIAK) (Hrsg.): Antisemitismus und Nahostkonflikt (wochenschau-Verlag Heft Nr. 3/ 2004) (zu bestellen über:
info@diak.org)

· Elias, Adel S.: Macht und Ohnmacht. Der Westen im Bewusstsein der arabischen Öffentlichkeit, in: Michael Lüders (Hrsg.), Der Islam im Aufbruch?, S.63-75 (München 1993)

· Goetze, Andreas: Mein Nachbar – mein Feind: religiös-politische Hintergründe zum israelisch-palästinensischen Konflikt, 3 Teile (in: Aufschlüsse – Zeitschrift für spirituelle Impulse, Hannover, Nr. 11, 12 und 13) (zu bestellen über:
Gruppe153@t-online.de

· Halm, Heinz: Fundamentalismus – ein leeres Etikett, in: Die Welten des Islam – 29 Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen, S. 211-218 (Frankfurt a.M. 1993)

· Jaecker, Tobias: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September, Hamburg 2004

· Kriener, Tobias/ Sterzing, Christian: Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (Wochenschau-Verlag, hrsg. vom DIAK- Deutsch-Israelischen-Arbeitskreis für Frieden in Nah-Ost e.V.)

· Küng, Hans: Das Judentum (München1991), bes. S. 210-218, 347-376, 627-682

· Lewis, Bernard: Die politische Sprache des Islam (Berlin 1991)

· Meier, Andreas: Der politische Auftrag des Islam – Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen: Originalstimmen aus der islamischen Welt (Wuppertal 1994)

· Rotter, Gernot: Wurzeln der Angst – das Feindbild der anderen Seite, in: Die Welten des Islam – 29 Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen, S. 219-222 (Frankfurt a.M. 1993)

· VelkD (Hrsg.), Was jeder vom Islam wissen muss (Gütersloh 1990)

· VelkD (Hrsg.), Was jeder vom Judentum wissen muss (Gütersloh 1985)


Der Autor

ANDREAS GOETZE

Jhg. 1964, ist Pfarrer in Rodgau-Jügesheim, Vertrauenspfarrer des Jerusalemsvereins (Partner der Evang-lutherischen Kirche in Jordanien und Palästina und ihrer Schulen, z.B. TALITA KUMI), Mitarbeit im Islam-Arbeitskreis der EKHN und im christlich-jüdischen Dialog.