Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 45

Januar 2007

Der nachfolgend wiedergegebene, am Schoah-Gedenktag vom 25. April 2006
in der Universität Tel-Aviv gehaltene Vortrag des Kustos vom Heiligen Land zur Mitverantwortung und Schuld der Christen am Holocaust hat in der israelischen Öffentlichkeit seinerzeit ein großes Echo gefunden. Pater Pierpattista Pizzaballa ist als Kustos neben dem Apostolischen Nuntius und dem lateinischen Patriarchen zu Jerusalem der ranghöchste Vertreter des Vatikans im Heiligen Land. Auf einer akademischen Konferenz zum Thema „Christentum und Holocaust“ in Tel Aviv zum Abschluss des Holocaust-Tages in Israel hatte Pizzaballa in seinem in Hebräisch vorgetragenen Referat indirekt Papst Pius XII. kritisiert, etwas, was zuvor noch von keinem hohen Vertreter des Vatikans zu hören gewesen war.

Wörtlich hatte der Kustos Kirchenführer in der Zeit des Holocaust kritisiert, „einschließlich solcher auf der obersten Ebene, die nicht die mutige Haltung aufbrachten, im Geist des Evangeliums im Angesicht des Naziregimes“ zu wi-dersprechen. Pizzaballa verwies darauf, dass er in Bergamo geboren sei, in der Stadt, aus der auch Papst Johannes XXIII. stamme, der Initiator des 2. Va-tikanischen Konzils, das das Verhältnis der Kirche zu den Juden auf eine neue Plattform gestellt habe.

Im Kommentar der Zeitung Ha’aretz (28.4.2006) zu diesen Aussagen wurde daraufhin der Hoffnung auf ein deutlicheres Schuldbekenntnis der Katholischen Kirche zu ihrem Schweigen während der Zeit des Holocaust und zur Mitschuld der Kirche, den Weg zum Vernichtungsversuch mitgebahnt zu haben, Ausdruck gegeben.

Der Vortrag von Pizzaballa wurde erstmals in deutscher Übersetzung in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift "Kirche und Israel" (siehe weiter unten) abgedruckt und erscheint heute online exklusiv als ONLINE-EXTRA von COMPASS-Infodienst.


COMPASS dankt Redaktion und Verlag von "Kirche und Israel" für die Genehmigung zur exklusiven Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2007 Copyright bei Autor und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 45


Die Kirchen und die Schoah

Ansprache zum Schoah-Gedenktag am 25. April 2006
in der Universität Tel-Aviv

PIERBATTISTA PIZZABALLA



1965 wurde ich in der Stadt Bergamo in Norditalien geboren. Ich beginne mit diesen persönlichen Daten, da ich mich positionieren möchte angesichts eines so wichtigen wie schmerzlichen Themas, das weiterhin im Zentrum der Begegnung von Juden und Christen steht. Diese Tatsachen verorten mich in der Nachkriegs-Generation sowie in einer neuen Epoche in der Katholischen Kirche. Dies möchte ich gern erläutern:

1. Ich war weder ein direkter noch indirekter Zeuge der fürchterlichen Ereignisse, die in Europa in der Zeit der Schoah stattfanden und zur Ermordung (Vernichtung) von sechs Millionen Juden führten. Ich wurde genau zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach der Befreiung der Überlebenden aus den Konzentrationslagern auf dem europäischen Kontinent geboren, der mit seiner Vergangenheit rang im Versuch, sich mit dieser schwerwiegenden Vergangenheit – die die Schoah einschließt – auseinanderzusetzen. Meine Generation muss sich mit dem Erbe unserer Eltern auseinandersetzen, einem Erbe, das auch weiterhin unsere Identität bestimmt.

2. Als gläubiger Christ und als Mann der Kirche ist mir diese Auseinandersetzung nicht nur eine kulturelle, politische, soziale und pädagogische, sondern auch eine spirituelle und eine theologische. Die Herausforderungen, denen die Kirche sich gegenübergestellt sieht, erfordern eine Beschäftigung mit einer Vielfalt von Dilemmata – theologischen, geistigen und gemeindlichen. Mir ist bewusst, Mitglied einer Kirche zu sein, die sich bereits seit einigen Jahrzehnten hinsichtlich ihrer eigenen Vergangenheit wie ihrer Zukunft im Lichte des Krieges befragt. Wie können wir begreifen, was geschehen ist, und wie können wir unsere Kinder erziehen, um eine bessere Zukunft zu sichern? Das Jahr meiner Geburt markiert eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Katholischen Kirche in der Neuzeit. In ebendiesem Jahr – 1965 – endete das Zweite Vatikanische Konzil. Diese Versammlung von Tausenden katholischer Bischöfe – den geistigen Anführern der Kirche – aus aller Welt veränderte das Gesicht der Kirche grundlegend. Diese Veränderungen – jedenfalls ein Teil von ihnen – sind eine Reaktion auf die tiefe Krise, die der Zweite Weltkrieg hervorrief. So könnte man sagen, dass ich in eine Kirche hineingeboren wurde, die sich nicht nur neu in der modernen Welt positionieren wollte, sondern die sich auch zu erneuern suchte.

Auf Grund der weitreichenden Veränderungen in der Katholischen Kirche in den 60er und 70er Jahre atmete ich einen neuen Geist, der sich deutlich von dem meiner Vorgänger unterschied, und fand mich in einer Kirche, die sich sehr von jener unterschied, die meine Eltern in ihrer Kindheit erlebten. Zu den weitreichenden Veränderungen gehören jene in der Liturgie (Gebete wurden beispielsweise nicht länger auf Latein gesprochen). Zu diesen Veränderungen im Denken der Kirche gehörte auch die positive Haltung der Welt insgesamt gegenüber, die nicht länger als Bedrohung wahrgenommen wurde, sondern eher als Ort, an dem wir unseren Glauben entwickeln und vertiefen. Eine der wichtigsten Transformationen im Denken der Kirche war ihr Zugang zu anderen Kirchen und Religionen. Nach dem Konzil investierte die Katholische Kirche große Anstrengung und Interesse in Begegnungen mit Vertretern anderer Kirchen, anderer Religionen und sogar mit Nichtgläubigen. Es heißt, dass das Konzil die Fenster der Kirche öffnete.

Zweifellos war eine der wichtigsten Wenden in der Zeit des Konzils jene dem Jüdischen Volk gegenüber. Seit jeher hatte die „jüdische Frage“ einen zentralen Platz im christlichen Denken eingenommen. Die herkömmliche christliche Ambivalenz bewegt sich zwischen zwei Polen: Einerseits sind sie Gottes auserwähltes Volk, das Volk der Patriarchen, der Priester, der Könige, der Weisen und der Propheten, das Volk Jesu von Nazareth und seiner Anhänger. Auf der anderen Seite sind sie das Volk, gegen das die Propheten zürnten, das Volk, das – gemäß langjähriger christlicher Exegese – gegen Gott rebellierte, sich widersetzte und sich weigerte, die Herrschaft Gottes anzunehmen, was schlussendlich zu ihrer Ablehnung seines Messias führte. Dieser Vorstellung nach sind die Juden das Volk, das für die Kreuzigung des Messias verantwortlich sei, bedingt durch ihre Blindheit. Gott gab ihnen seine Offenbarung, die Torah, und sie waren außerstande, die Erfüllung seiner Zusagen in seinem Sohn, Jesus, dem Juden aus Nazareth, der zuerst und vor allem zu ihnen gesandt worden war, zu erkennen. Bedauerlicherweise bedurfte es Hunderter von Jahren und des fürchterlichen Ereignisses der Schoah, um die Gläubigen in der Kirche dazu zu bringen, ihre Meinung über das Jüdische Volk neu zu bedenken und ihre Haltung grundlegend zu ändern.

Ganz ehrlich, in meiner Jugend habe ich kaum etwas über Juden gehört. In der Gegend, in der meine Familie lebt, gibt es keine jüdische Gemeinde. Einst lebten dort Juden, die vermutlich aus Venedig kamen, der Stadt, die diese Region beherrschte. Sie kamen im 15. Jahrhundert, wurden jedoch zu Beginn der judenfeindlichen Predigten des Franziskaner-Paters Bernadino de Feltre vertrieben. Als ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich zum ersten Mal etwas über Juden gehört habe, erinnerte ich mich, dass ich in meiner Kindheit gelegentlich das Wort „Juden“ gehört habe. Menschen, die nicht regelmäßig am Sonntag in die Kirche gingen, hießen „diese Juden“. Natürlich waren diese Menschen keine Juden, sondern eher nicht religiöse Menschen, die die Traditionen unserer Vorväter nicht einhielten und deshalb den Verdacht der Ältesten der Gemeinde weckten. Jemanden als „Jude“ zu bezeichnen, war für sie eine Beleidigung, ohne je einen leibhaftigen Juden gesehen zu haben. Dies scheint ein Ergebnis einer pervertierten Lesart der Heiligen Schriften und wahrscheinlich dadurch entstellender Predigten zu sein.

In der Schule erfuhren wir etwas über die Opfer des faschistischen Regimes in Italien in der Zeit des Krieges. Wir wussten, dass unter den Opfern des Krieges und der Nazi-Besatzung auch Juden waren, die – zusammen mit den Gegnern des Regimes – in die Vernichtungslager geschickt wurden. Der erhobene Zeigefinger unserer Lehrer richtete sich gegen die Faschisten, die mit den Nazi-Besatzern kollaborierten. Wir haben diese Faschisten nie als Christen wahrgenommen, sondern eher als Feinde der Kirche. In diesen Zeiten haben wir die wichtige Frage nach der christlichen Verantwortung für die Kultur des Antisemitismus in Europa immer noch nicht gestellt. Wir sprachen ausdrücklich über Juden nur im Kontext des Krieges.

In meiner Kindheit habe ich keine Juden persönlich gekannt. Erst viel später, während meines Theologiestudiums, wurde mir bewusst, dass ich eigentlich immer schon viele Juden gekannt habe, kluge und mutige Juden, Juden, die mir Vorbilder waren. Ich kannte sie nicht als Menschen aus Fleisch und Blut, doch waren sie mir vertraut durch die biblischen Geschichten. Eine lange Zeit verging, bis ich die Gestalten, die in den Lesungen vorkommen und über die ich im Gottesdienst hörte und die ich seit meiner Kindheit mit großem Interesse studiert habe, mit diesem Jüdischen Volk verband.

Ich kam in dieses Land als ein junger Mönch und war – anders als meine Vorgänger vor dem Vatikanischen Konzil – der israelischen Gesellschaft und dem jüdischen Volk ausgesetzt. Dies geschah zunächst im Ulpan1, wo ich modernes Hebräisch lernte, und später, als ich meine Studien in der Abteilung für „Altes“ Testament an der Hebräischen Universität fortsetzte. Es war dieser Zeitpunkt, als ich begriff, wie wenig ich über die Geschichte Europas, wie sie sich aus jüdischer Sicht ergibt, wusste. Erst da begriff ich, dass religiöse Differenzen lediglich ein Element sind, das Juden und Christen trennt. (Es ist interessant, an dieser Stelle zu betonen, dass religiöse Differenzen keinen Einfluss auf die Beziehungen zwischen meinen israelischen Freunden und mir hatten.) Vielmehr begründen die Unterschiede in der Art, wie wir Geschichte lernen und interpretieren, im Besonderen die Geschichte, die Juden und Christen teilen, die Kluft zwischen uns. Ich habe erfahren, dass jüdische Lesart der Geschichte das Leiden des Jüdischen Volkes ins Zentrum stellt, während wir Christen häufig die Rolle der Verfolger spielen.


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Im Folgenden, so glaube ich, spreche ich nicht allein in meinem eigenen Namen – als gläubiger Christ, der zwei Dekaden nach der Schoah geboren wurde –, sondern gebe eine weitgehend akzeptierte katholische Position wieder. Zwei zentrale Fragen stehen vor uns, wenn wir als Christen versuchen, uns mit der schweren Last der Geschichte unserer Kirche in der Zeit der Schoah auseinanderzusetzen.

1. Die erste Frage betrifft die Vergangenheit. Wie konnte die Schoah in einer Welt geschehen, die seit Generationen christlich war? Wie scheiterte die Kirche in Europa an der Aufgabe, das Gewissen der Gläubigen so zu gestalten, dass sie sich absolut geweigert hätten, mit Bewegungen und Parteien zu kollaborieren, die die Werte verbreiteten, die jenen von Jesus von Nazareth und den Evangelien vollkommen entgegengesetzt sind? Wie kam es, dass einige Christen mit der Nazi-Vernichtungsmaschinerie zusammenarbeiteten und eine Mehrheit der Christen einfach zuschaute, als die Nazis und ihre Helfer versuchten, das jüdische Volk zu vernichten?

2. Die zweite Frage betrifft die Zukunft und stellt die erzieherische und gesellschaftliche Herausforderung ins Zentrum: Wie können wir eine Widerholung der Schoah verhindern? Wie können wir zu Errichtung einer Kultur beitragen, die auf den Werten des Lebens, Friedens, der Gerechtigkeit und Entwicklung gründet? Meiner Meinung nach müssen wir zusammenarbeiten, denn es ist unmöglich, eine neue Welt zu errichten ohne gemeinsame Anstrengung.

In der mir verbleibenden Zeit will ich Ihnen kurz und so notwendigerweise unvollständig und selektiv das katholische Ringen mit den beiden eben erwähnten Fragen vorstellen.

Zunächst: Wie können wir uns mit der Frage der Vergangenheit auseinandersetzen? Die Kirche wirkt in vier Richtungen, um eine grundlegende Änderung im Verhalten der katholischen Gläubigen gegenüber der Vergangenheit zu erreichen.

(a) Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil betont die Kirche in Erziehung wie Predigt die jüdische Identität Jesu und der frühen Kirche. Die zentrale Gestalt im Glaubensleben eines jeden Christen ist Jesus Christus, den wir als Messias, Retter und Sohn Gottes anerkennen. Es ist unmöglich, Jesus kennenzulernen, ohne die Bedeutung seiner Zugehörigkeit zum Jüdischen Volk zu unterstreichen. Vor bald zehn Jahren hat der verstorbene Papst Johannes Paul II. (möge er in Frieden ruhen) einen Vortrag vor der Vollversammlung der Päpstlichen Bibelkommission gehalten und hinterließ bei uns ein eindrucksvolles Bild von Jesus dem Juden. Seine Worte spiegeln die Veränderung in der Wahrnehmung von Jesus von Nazareth wider und ich zitiere ihn:


Die menschliche Identität Jesu wird von seiner Bindung an das Volk Israel her bestimmt, war er doch aus dem Geschlecht Davids und ein Nachkomme Abrahams, und es handelt sich dabei nicht nur um eine physische Zugehörigkeit. Jesus nahm an den synagogalen Zeremonien teil, bei denen die Texte des Alten Testaments gelesen und kommentiert wurden, und so nahm er auch auf menschliche Weise Kenntnis von jenen Texten. Er nährte damit Geist und Herz, indem er sich ihrer dann in seinen Gebeten bediente; auch sein Verhalten war ganz von ihnen durchdrungen. So wurde er ein echter Sohn Israels, tief verwurzelt in der langen Geschichte seines Volkes. Als er zu predigen und zu lehren begann, schöpfte er reichlich aus dem Schatz der Schriften.2 


Im Kontext unseres Diskurses hier kann ich nicht umhin, den beängstigenden Gedanken zuzulassen, dass, wenn Jesus in der Zeit der Schoah gelebt hätte, sein Schicksal dem eines jeden Juden geglichen hätte. Diese Zugehörigkeit zum Jüdischen Volk ist jedoch nicht allein auf Jesus beschränkt. Ebenso seine Mutter, seine Familie, alle, die ihm nahestanden, seine Jünger, sie alle waren Juden. Jüdische und christliche Gelehrte an Universitäten hier und im Ausland erforschen heute die Schriften des Neuen Testaments, die von jüdischen Anhängern Jesu geschrieben wurden, und sie erkennen diese Literatur als Teil der jüdischen Literatur der Zeit des Zweiten Tempels und der ihr folgenden Zeit an.

Die Hervorhebung der jüdischen Identität Jesu, seiner Jünger und der frühen Kirche widerspricht natürlich diametral den weit verbreiteten und lang vorherrschenden negativen Beschreibungen der Rolle der Juden in den biblischen Erzählungen. Das Alte Testament kritisiert die Verfehlungen des Volkes sehr hart, doch neigt der christliche Leser dazu zu vergessen, dass dies Teil der Größe Israels ist – ein Volk, das in der Lage ist, scharfe Selbstkritik zu äußern, seine eigenen Verfehlungen aufzuzeigen und Gott wie die Menschheit um Vergebung zu bitten. Sogar die Beschuldigung, die Juden hätten Jesus gekreuzigt, ignoriert die wichtigere Tatsache, dass Jesus selbst Jude war. Der christliche Leser verfälscht die Schrift, wenn er aus den Schriften Israels (dem Alten Testament) und aus den Schriften der jüdischen Autoren, die an Jesus glaubten (dem Neuen Testament), Gründe ableitet, um die Juden zu beschuldigen. Nein! Das Lesen dieser Schriften soll dem christlichen Leser helfen, sich mit Israel zu identifizieren und in Israels Humanismus die positiven und negativen Aspekte seiner eigenen Humanität zu finden.

(b) Wenn ein Christ Jesus betrachtet und deutlich versteht, dass dieser Mann ein Sohn des Volkes Israel ist, muss er oder sie auch der jüdischen Tradition Jesu Rechnung tragen, die die gemeinsame Tradition, die Juden und Christen teilen, begründet. Die Wurzeln des Christentums sind im Judentum zu finden. Ich selbst lernte und lehre auch immer, dass das Neue Testament außerhalb seiner Einheit mit dem Alten Testament nicht verstehbar ist. In der christlichen Tradition wird das, was Juden TaNaCh nennen, das Alte Testament genannt – ein Be-griff, der die Beziehung zwischen beiden Teilen der christlichen Bibel darstellt. Das Problem ist, dass Christen dazu neigen, dem Wort „alt“ eine materialistische Interpretation zu verleihen. Sie dachten, dass „alt“ etwa so verstanden werden könnte wie alte Schuhe oder alter Computer – also alt im Sinne von überflüssig, nicht zeitgemäß oder sogar falsch und außer Gebrauch. Heute müssen wir Christen dazu bringen zu verstehen, dass „alt“ im Begriff „Altes Testament“ das Gegenteil einer materialistischen Bedeutung ist. „Alt“ bedeutet Wurzeln, Tiefe, Erfahrung, Weisheit. Es bildet den essentiellen Rahmen, um das „Neue“  zu verstehen. „Alt“ berichtet uns von einer treuen Liebe über Generationen hinweg, ohne die es keine Möglichkeit für Neues gibt. Im Grunde kam Jesus – so das Neue Testament – nur, um das „Alte“ zu erfüllen und so können wir sehen, dass das „Neue“  eine Erläuterung des „Alten“ ist – und nicht seine Abschaffung. Jesus ist für Christen ein Mann der Torah par excellence. Abgeschnitten von der Torah, die sein Leben und all seine Schritte bestimmte, ist er tatsächlich nicht verstehbar. Sein Gebet zu Gott am Ende seines Lebens konkretisiert dies in perfekter Weise: „Nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36).

Ein Teil des Problems in der Haltung dem Alten Testament gegenüber liegt im Gegensatz zwischen dem Gottesbild im Alten Testament und jenem im Neuen Testament, den einige zu betonen suchten. Die gegensätzlichen Karikaturen eines „zornigen und rächenden Gottes“ im Alten Testament und eines „liebenden und gnädigen“ im Neuen Testament treffen nicht die Wirklichkeit der beiden Teile der christlichen Bibel. Sie beweisen vielmehr eine Unkenntnis des Inhaltes der Bibel selbst. Papst Benedikt XVI. hat dies gut in seiner ersten Enzyklika „Gott ist Liebe“, die vor wenigen Monaten veröffentlicht wurde, den katholischen Gläubigen erklärt. Das, was wirklich neu ist im Neuen Testament, findet sich auf den Seiten des Alten Testaments und liegt in die Tatsache, dass Gott sein Volk Israel liebt und durch diese Liebe auch seine Liebe zu allen Nationen ausdrückt.

(c) Die Tatsache, dass wir heute vor der Herausforderung der Rückkehr zu den Wurzeln stehen, um auf diese Weise Jesus korrekt zu verstehen und um unsere Bibel korrekt auszulegen, weist auf einen weiteren Aspekt unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – nach der Schoah – hin. Dieses Element betrifft den kritischen Zugang zu einigen wichtigen Punkten in der christlichen Tradition, wie sie bei den Kirchenvätern Ausdruck finden, den Gelehrten, die  die Schriften in der frühen Epoche der Kirche auslegten und zeitgleich mit den Rabbinen der talmudischen Zeit wirkten. Hier können wir viel vom Volk Israel in biblischer Zeit lernen und von deren Propheten, die nicht zögerten, Verfehlungen im Herzen des Volkes anzuprangern. Christliche Prediger und Ausleger halfen über Jahrhunderte den Gläubigen, ihren Glauben zu verstehen. Nicht immer taten sie dies jedoch in verantwortlicher Weise und im Einklang mit der Vision von Jesus, den Evangelien und den christlichen Werten. Auf Grund vielschichtiger historischer Gründe und einer gewissen beschämenden Kurzsichtigkeit neigten sogar die größten unter den christlichen Lehrern in der Geschichte dazu, Juden als Verfluchte zu beschreiben. Die judenfeindliche Lesart – nicht nur des Neuen Testamentes, sondern auch des Alten Testamentes – stellte die Juden als ein halsstarriges Volk dar, dessen Verstocktheit an der Kreuzigung Jesu schuld sei. Heute wissen wir, dass das Neue Testament alle für den Tod Jesu verantwortlich macht – nicht nur das jüdische religiöse Establishment, sondern auch die römischen politischen Behörden und weit wichtiger, die Jünger Jesu selbst, die ihn geleugnet und verlassen haben und flohen. Die frühen christlichen biblischen Ausleger neigten zu schnell dazu, die Universalität der Schuld zu vergessen und sich nur auf die Beschuldigung der Juden zu konzentrieren. Die Besessenheit, mit der man sich auf die jüdische Schuld konzentrierte, stammt vielleicht aus der Schwierigkeit, zu verstehen, warum die Juden sich weigerten, den christlichen Glauben anzunehmen. Tatsächlich vergaßen wir, dass in dieser Geschichte beinahe jeder jüdisch ist – die Guten wie die Bösen.


KIRCHE UND ISRAEL

Neukirchener Theologische Zeitschrift



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Kirche und Israel
Neukirchener Theologische Zeitschrift

Herausgegeben von
Edna Brocke, Hans Hermann Henrix, Rolf Rendtorff, Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann
unter Mitarbeit von Gerhard Langer (für Österreich) und Gabriele Oberhänsli-Widmer (für die Schweiz) sowie namhafter Fachgelehrter


Erscheinungsweise: 2 Hefte pro Jahr
Umfang: pro Heft ca. 96 S.
Preis: Euro 24,90 / sFR 44,50 im Abonnement (einschl. Versandkosten)

Bestellungen und Verlag:
Neukirchener Vlg. des Erziehungsvereins GmbH; Postfach 10 12 65
47497 Neukirchen-Vluyn



In unserer Lesart ist der Begriff „Jude“ den bösen vorbehalten. Plötzlich wurden Jesus, Petrus, Paulus, Maria, Johannes der Täufer und alle anderen „Helden“ zu Christen. Nur das jüdisch-religiöse Establishment, die obersten Priester, die Schriftgelehrten, die Pharisäer und Judas Ischariot sind – natürlich – Juden. Darüber hinaus wurde nicht nur das jüdisch-religiöse Establishment als schuldig angesehen, sondern das gesamte Volk, und dies nicht nur an einem Ort, zu einer Zeit, sondern überall und immer.

Die Genese des Prozesses zur Verteufelung der Juden findet sich in den polemischen Schriften der Kirchenväter und der Rabbinen in der Zeit, als die Grenzen zwischen Judentum und Christen allmählich entstanden – in der Zeit des Talmuds und danach. Die Juden wurden als Kinder des Satans bezeichnet. Nicht nur hätten sie Jesus, Sohn Gottes, gekreuzigt und seien so zu Gottesmördern geworden, sondern sie setzen ihre Ablehnung der klaren Wahrheit ihrer eigenen Schriften fort,  die nach christlicher allegorischer Lesart auf jeder Seite eine Vorhersage des Kommens von Jesus als Messias Israels machte. Deshalb müsse dieses blinde Volk, das Zeuge der Wahrheit des christlichen Glaubens sei, obwohl es die Schriften anders liest, von Ort zu Ort wandern, ohne Heimat bleiben, um so die Schriften zu verbreiten und den Weg für den christlichen Gläubigen zu bahnen. Es sollte erwähnt werden, dass es, wie Augustin es formulierte, nicht gestattet war, sie umzubringen, sondern sie sollten in dem Zustand der Erniedrigung gehalten werden als ewige Zeugen für die Wahrheit des Christentums.

Das Versagen weiter Abschnitte der christlichen Tradition, positiv mit Juden und dem Judentum umzugehen, bereitete den Weg für die Entwicklung und das Aufblühen des modernen Antisemitismus. Der französische Historiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, Jules Isaac, definierte die christliche Haltung zu Juden als „Lehre der Verachtung“. Das in den Dokumenten des Vatikanischen Konzils formulierte große Projekt weist diese Lehre der Verachtung zurück und ersetzt sie durch eine Lehre des Respekts.

(d) Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ringt die Katholische Kirche mit der Frage der Verantwortung für das, was in der Zeit der Schoah geschah. Hat die Kirche Anteil an dieser Verantwortung? Es gibt keinen Zweifel darüber, dass zahlreiche führende ebenso wie gewöhnliche Katholiken sich nicht den Werten der Evangelien entsprechend verhielten und keine mutige Position gegenüber dem Naziregime einnahmen. Ich frage mich, weshalb es so wenige Helden gab, die bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um Juden zu retten. Es trifft sicherlich auch zu, dass in der Zeit vor und während des Krieges einige Kleriker stärker über den Kommunismus als über die Nazi-Bewegung besorgt waren.

In den Nachkriegsjahren versuchten lokale katholische Kirchen ihre Positionen zu diesen Fragen zu formulieren. Viel kann gelernt werden von den Erklärungen der Bischöfe aus Deutschland, Frankreich, Polen u.a. Diese Erklärungen bringen tiefes Bedauern zum Ausdruck und versuchen darüber hinaus, einen allgemeinen Entwurf für neue Beziehungen zum Jüdischen Volk aufzuzeigen. Die meisten dieser Erklärungen kritisieren die Christen und ihre Anführer, die nur Zuschauer waren in den dunklen Zeiten, als Juden um Hilfe riefen. Nach der Schoah wurde diese Frage noch bedrängender. 1998 veröffentlichte die Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Jüdischen Volk eine Erklärung zur Schoah unter dem Titel „Wir erinnern“. Im Zentrum der Auseinandersetzung vor und nach der Veröffentlichung stand die komplexe Frage nach der Übernahme von Verantwortung. Das Dokument hat eine große Debatte ausgelöst, auf die ich hier nicht tiefer eingehen möchte. Ich möchte aus diesem Dokument gleichwohl zitieren, weil es für Katholiken ein sehr wichtiges war, vor allem für jene, die nie zuvor die Frage nach Verantwortung gestellt hatten. Das Dokument stellt ausdrücklich fest:


... Aber man muß sich fragen, ob die Verfolgung der Juden durch die Nazis aufgrund der antijüdischen Vorurteile, die in den Köpfen und Herzen einiger Christen bestanden, nicht leichter gemacht wurde. Machten ihre Ressentiments gegen die Juden die Christen weniger sensibel oder gar gleichgültig gegenüber den Judenverfolgungen durch die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung?


Diese Erklärung endet mit dem Ruf, die furchtbare Erfahrung der Schoah zu erinnern, so dass


... der giftige Samen des Antijudaismus und Antisemitismus ... niemals im Herzen der Menschen Wurzeln schlagen (darf). 


Ich möchte meine Ansprache mit der Frage nach der Zukunft abschließen: Wie können wir die Wiederholung eines Geschehens wie die Schoah verhindern? Wie können wir Katholiken unseren Beitrag für eine Kultur leisten, die auf den Werten des Lebens, Friedens, der Gerechtigkeit, des Respekt und der Entwicklung gründet? Wie ich zu Beginn bereits angedeutet habe, meine ich, dass wir zusammenarbeiten müssen, weil es ohne gemeinsame Anstrengung unmöglich ist, eine andere Welt zu gestalten. 

In Anbetracht der Entwicklungen in der Katholischen Kirche nach dem Konzil der 60er Jahre möchte ich vier Elemente in einer Vision für die Zukunft unterstreichen:

1. Heutzutage sucht die Katholische Kirche den Dialog mit der Welt insgesamt. In den 60er Jahren entdeckten wir, wie wichtig dieser Dialog ist. Die Konzilsväter beschlossen, die Fenster zu öffnen, und zwar ohne Animosität, sondern mit Interesse und Zuneigung hinaus in die Welt zu schauen und zu fragen, ob es nicht etwas gibt, das wir von der Welt lernen können. Wenigstens ein Teil der Schwäche der Katholischen Kirche in der Zeit der Schoah mag der Isolation, ja sogar dem Misstrauen gewisser Gruppen in der Kirche gegenüber der Welt im Ganzen geschuldet sein. Diese Isolation führte zu einer gewissermaßen naiven Haltung, ja zur Ignoranz. Die Ermutigung zu einer Kultur des Dialogs war eine der großen Veränderungen in der Lehre der Kirche. Die Kirche hat begriffen, dass sie Partner im „tikkun olam“ (der Reparatur/Heilung der Welt) hat. Darüber hinaus glaubt die Kirche, dass religiöse Führung die Verläufe in der Welt beeinflussen kann zum Guten wie zum Bösen. Wir müssen Allianzen mit anderen Glaubenden und mit Nichtglaubenden bilden, um die negative Ausbeutung von Religion zu verhindern.


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2. Es besteht kein Zweifel daran, dass innerhalb der Kultur des Dialogs jener mit der jüdischen Welt zentral ist. Die Katholische Kirche ist sich ihrer einzigartigen Bindung an das Jüdische Volk bewusst. Wir haben den Dialog erst begonnen und wir befinden uns immer noch in der Phase des Wegräumens der Hindernisse. Wir müssen weiterkommen und die nächste Stufe erreichen, eine Gesellschaft zu errichten, die auf den Werten, die wir teilen, gründet. Papst Benedikt XVI. sprach davon bei seinem Besuch in der Kölner Synagoge vor einem Jahr:


Vieles bleibt freilich noch zu tun. Wir müssen uns noch viel mehr und viel besser gegenseitig kennenlernen. Deshalb ermutige ich zu einem aufrichtigen und vertrauensvollen Dialog zwischen Juden und Christen. Nur so wird es möglich sein, zu einer beiderseits akzeptierten Interpretation noch strittiger historischer Fragen zu gelangen und vor allem Fortschritte in der theologischen Einschätzung der Beziehung zwischen Judentum und Christentum zu machen. In diesem Dialog kann es ehrlicherweise nicht darum gehen, die bestehenden Unterschiede zu übergehen oder zu verharmlosen: Auch und gerade in dem, was uns aufgrund unserer tiefsten Glaubensüberzeugung voneinander unterscheidet, müssen wir uns gegenseitig respektieren.


Schließlich sollte unser Blick nicht nur zurück in die Geschichte gehen, er sollte ebenso vorwärts auf die heutigen und morgigen Aufgaben gerichtet sein. Unser reiches gemeinsames Erbe und unsere an wachsendem Vertrauen orientierten geschwisterlichen Beziehungen verpflichten uns, gemeinsam ein noch einhelligeres Zeugnis zu geben und praktisch zusammenzuarbeiten in der Verteidigung und Förderung der Menschenrechte und der Heiligkeit des menschlichen Lebens, für die Werte der Familie, für soziale Gerechtigkeit und für den Frieden in der Welt.4 


3. Es ist kein Zufall, dass der Papst von Menschenrechten sprach. Das Zweite Vatikanische Konzil betont die katholische Verpflichtung den Menschenrechten ebenso wie der individuellen Freiheit gegenüber. Die Position der Kirche stimmte nicht immer mit diesen Werten überein und so ist auch hier eine gewisse Wiedergutmachung angesagt. Heute jedoch hat die Kirche eine in den Menschenrechten gründende Haltung eingenommen. Dies kann in der Tat Teil eines gemeinsam von Juden und Christen geteilten Erbes sein, das in jeder menschlichen Person das Abbild und Ebenbild Gottes sieht. Somit haben wir eine klare theologische Grundlage für eine Ordnung, aufgebaut auf gegenseitigem Respekt, trotz Unterschieden und auch in Konflikten.

4. Abschließend muss ich unterstreichen, dass die Kirche die Werte von Gerechtigkeit und Frieden in unserer Welt besonders betont. Sie sieht im jüdischen Volk einen besonderen Bündnispartner im Versuch, entlang dieser Linien Einfluss zu nehmen. Noch einmal: Wir haben viel aus der Geschichte gelernt und müssen zugeben, dass wir nicht immer auf dieses Ziel hin gewirkt haben. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. hatte großen Einfluss auf mich persönlich, und ich möchte seine Botschaft am Friedenstag 20025 hier zitieren:

Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung: Das will ich in dieser Botschaft Glaubenden und Nichtglaubenden, den Männern und Frauen guten Willens verkünden, denen das Wohl der Menschheitsfamilie und ihre Zukunft am Herzen liegt.

Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung: Daran will ich alle erinnern, die das Geschick der menschlichen Gemeinschaften in Händen haben, damit sie sich in ihren schweren und schwierigen Entscheidungen immer vom Licht des wahren Wohls des Menschen im Hinblick auf das Gemeinwohl leiten lassen.

Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung: Ich werde nicht müde, diese Mahnung an alle zu wiederholen, die aus dem einen oder anderen Grund Hass, Rachsucht und Zerstörungswut in sich hegen.

Ich möchte meine Ansprache gern wieder mit einer eher persönlichen Note abschließen. Wenn ich mit der Schoah konfrontiert bin, frage ich mich: Wie hätte ich selbst gehandelt? Hätte ich die Rufe der Juden gehört? Hätte ich den Mut gefunden, ihnen beizustehen und mein Leben zu riskieren?

Ich habe zwei Persönlichkeiten aus der Zeit des Krieges als Leitbilder angenommen und beide sind mit meiner persönlichen Geschichte verbunden, weil sich unsere Geschichten kreuzten. Diese beiden Persönlichkeiten symbolisieren für mich die prophetische Haltung der Katholischen Kirche in Zeiten der Schoah, weil diese beiden Männer bereit waren, ihr Leben und die Kirche durch ihre Positionen und Handlungen zu riskieren, um Juden zu retten.

Der erste ist jener Mann, der später, 1958, Papst wurde und die Kirche auf den Weg der Reformen des Konzils führte. Sein Name ist Johannes XXIII. Er wurde in Bergamo geboren, in meiner Heimatstadt, und sein Name war Giuseppe Roncalli. Er war ein Mann mit einem großen Herzen. Ich weiß, dass Prof. Dinah Porat Ihnen morgen seine Arbeit in der Zeit vorstellen wird, als er vatikanischer Botschafter in der Türkei war. Dieser Mann symbolisiert für mich die Möglichkeit, Einstellungen zu verändern und Traditionen zu korrigieren. Ich bin stolz, seinem Stamm anzugehören.

Die zweite Persönlichkeit ist der Franziskaner Pater Ruffini Niccaci. Er war ein Mönch, der während der Nazibesatzung von Assisi, der Stadt von Franziskus, dem Begründer des Franziskanerordens, eine Untergrundorganisation leitete, die Tausende Juden rettete. Ich bin stolz, dem gleichen Franziskanerorden anzugehören, dem er angehörte, einem Orden jedoch, der nicht immer zu den Juden stand.

Diese beiden repräsentieren ein Leitbild dessen, was für mich ein Mann der Kirche bedeuten kann. Der Kirche Jesu Christi und ihrer Tradition vollkommen treu, fürchteten sie sich nicht, sich gegen den Strom zu stellen. Ihr Mut zog viele andere an, und sie hatten einen guten Einfluss. Sie öffneten für uns eine Tür im Versuch, uns selbst zu korrigieren. Sie halfen uns bei der Suche nach unseren jüdischen Brüdern und Schwestern im Nachgang der dunklen Zeiten. Sie halfen uns, ins Tageslicht hinauszugehen, zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern aller Religionen und Nationen, und nach einem gemeinsamen Weg für eine bessere Welt zu suchen.


(Aus dem Hebräischen von Edna Brocke
und dem Englischen von Edna Brocke und Peter Schwiderowski)



ANMERKUNGEN



1 Ulpan ist der Name der Sprachschule für Neueinwanderer, Gaststudenten und andere Bürger, die Hebräisch lernen möchten.

2 Johannes Paul II., Ansprache an die Vollversammlung der Päpstlichen Bibelkommission vom 11. April 1997, zitiert nach Hans Hermann Henrix/Wolfgang Kraus (Hg.), Die Kirchen und das Ju-dentum. Band II. Dokumente von 1986-2000, Paderborn/Gütersloh 2001, 102-105, hier 103f.

3 Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach: http://www.jcrelations.net/de/?item=1060

4 Benedikt XVI., Grußwort in der Synagoge zu Köln am 19. August 2005 nach: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2005/august/documents/hf_ben-xvi_spe_20050819_cologne-synagogue_ge.html. 

5 Johannes Paul II.., Botschaft  zur Feier des Weltfriedenstages, 1. Januar 2002, Kein Friede oh-ne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung. Zitiert nach: http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/messages/peace/documents/hf_jp-ii_mes_20011211_xxxv-world-day-for-peace_ge.html 


Der Autor

PIERBATTISTA PIZZABALLA

1965 in Cologno al Serio (Bergamo) geboren, studierte Theologie sowie hebräische und arabische Sprachen in Rom und Jerusalem. Er ist Superior der Franziskaner im Nahen Osten und seit 2004 "Kustos (Wächter) im Heiligen Land" und damit - neben dem Apostolischen Nuntius und dem lateinischen Patriarchen zu Jerusalem - der ranghöchste Vertreter des Vatikans im Heiligen Land. In seiner Funktion als Kustos ist er im Namen des Heiligen Stuhls für die heiligen Stätten und Schreine verantwortlich, also etwa für Nazareth und Bethlehem. Außerdem ist er von katholischer Seite aus für den Status Quo verantwortlich, also die durch das gleichnamige Abkommen geregelten Beziehungen mit den anderen christlichen Kirchen in Bezug auf die Heiligen Stätten.