Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 43

Dezember 2006

Nachfolgender Text gibt den Vortrag von Rabbiner Walter Homolka wieder, den er anlässlich einer Veranstaltung zum 50. Todestag von Leo Baeck
am 1. November 2006 in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung
in Berlin hielt.


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2006 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 43


Leo Baeck (1873 – 1956):
Jüdisches Denken mit Perspektiven für heute

RABBINER WALTER HOMOLKA



1956 arbeitete Leo Baeck am zweiten Band von „Dieses Volk – Jüdische Existenz“. Es war ein Wettlauf mit der tödlichen Krankheit, der er am 2. November 1956 zum Opfer fiel. Am 28. Oktober fiel er ins Koma. Zwei Stunden zuvor, um die Mittagszeit,  hatte er die letzten Manuskriptseiten des Buches abgezeichnet. Dort schreibt er über die „Zaddikim“ und unsere „alte Zuversicht, dass es diesem Volke niemals ganz an diesen ‚Gerechten’ fehlen werde“.  Sehr wenige werden sie vielleicht nur sein oder sogar „sechsunddreißig“, wie eine alte Legende zu dichten wagte. Durch sie werde dem Volk seine Lebenskraft erhalten bleiben. Das Leben dieser Gerechten sei lebensspendend für das ganze jüdische Volk und gebe ihm Zusammenhalt als immer neue Wiedergeburt.

Leo Baeck hinterlässt uns damit den Gedanken, dass unsere Existenz und Kontinuität als Jüdisches Volk auf Heiligen beruht, die wir nicht zu erkennen vermögen. Vielleicht kann man Leo Baeck zu diesen „Zaddikim“ zählen. Denn er verkörperte die Tugenden des Judentums wie kein anderer: unseren Glauben, an dem wir eigensinnig festhalten.

1873 als siebtes von 11 Kindern in Lissa in der Provinz Posen geboren, besuchte er ab 1891 das Jüdisch-theologische Seminar in Breslau und von 1894 an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Schon in Breslau hatte Baeck neben Philosophie, Theologie und Geschichte auch orientalische und alte Sprachen belegt. Er war noch nicht ganz 22, als er in Berlin mit einer Dissertation über "Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland" promovierte. Im Jahr 1897 trat Baeck seine erste Rabbinerstelle im oberschlesischen Oppeln an. Dort verheiratete er sich mit Natalie Hamburger. In Oppeln wurde auch das einzige Kind des Paares, Ruth, geboren. 1907 ging Baeck als Rabbiner nach Düsseldorf, und 1912 siedelte er nach Berlin über, wo er neben seiner Funktion als Rabbiner Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums hielt. Bei der Schließung des Institutes dreißig Jahre später im Sommer 1942 sollte Leo Baeck der letzte noch verbliebene Lehrer sein; er unterrichtete nur noch drei Studenten.

Baeck hielt in Berlin Seminare und Vorlesungen über alte exegetische Schriften (Midrasch), Homiletik, jüdische Mystik, den historischen Hintergrund der Offenbarung des Johannes, Religionsgeschichte und vergleichende Religionswissenschaft. Bei seinen Hörern hinterließ die trotz ihrer leichten Heiserkeit wohltönende Stimme des Vortragenden und seine engagierte Vortragsweise einen unauslöschlichen Eindruck. Das traf auch auf seine Predigten zu: "Wenn Leo Baeck predigte, wandte er sich nicht von oben herab an den Zuhörer. Er wählte sorgsam jedes Wort, er formte jeden Satz nach Gewicht und Klang, sprach etwas monoton mit einer sonderbar vibrierenden, hoch liegenden Stimme, hie und da einen Satz mit einer Bewegung seiner sensitiven Hände hervorhebend, öfter aber die Wichtigkeit eines Gedankens durch die größere Schärfe seines Blickes enthüllend; er schien die Antwort auf seine Worte nicht aus der Gemeinde, sondern von irgendwoher weit darüber hinaus zu erwarten. Baecks Predigten ... hatten immer eine Art privaten Charakters. Ein frommer Gelehrter stellte Fragen an die Bibel, ein höchst gebildeter Mann besprach sich mit Geschichte und Literatur. Er sprach mit ihnen, nicht über sie. Doch trotz ihrer vollendeten Form waren seine Predigten meistens ohne endgültige Schlußfolgerung; sie zeigten einen Menschen auf der Suche nach der Wahrheit."1 Viele Studenten Baecks erzählen von der Freude und dem tiefen Ernst, mit dem er seinen Dienst als Rabbiner versah.

Während des Ersten Weltkrieges war Baeck jüdischer Feldprediger an der West- und auch an der Ostfront. Nach dem Krieg wurde er zum Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbandes ernannt und galt als wichtiger Repräsentant des Judentums. Er wurde schnell zum anerkannten und respektierten Sprecher des Judentums aller unterschiedlichen religiösen und politischen Strömungen in Deutschland. Daneben war Baeck Vorstandmitglied des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", der für die deutsch-nationale Integration der Juden bei gleichzeitiger Bewahrung der traditionellen religiösen Werte eintrat. Anders als viele Rabbiner unterstützte Baeck nie den Protest gegen die nationalen Bestrebungen des Zionismus. Für ihn war die Mitarbeit in jüdischen Organisationen verpflichtend, in denen Nicht-Zionisten und Zionisten gemeinsam eine Heimat in Palästina für all jene Juden zu schaffen versuchten, die sich aus Überzeugung oder durch äußere Umstände gezwungen im "Gelobten Land" niederlassen wollten. Baecks Rat galt in Regierungskreisen viel. So war er Sachverständiger des Preußischen Unterrichtsministeriums für jüdische Angelegenheiten und fungierte von 1924 an sowohl als Großmeister des deutschen Distrikts der B'nai Brith-Logen als auch als Präsident der "Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden". Neben seiner herausragenden religiösen und gesellschaftspolitischen Position war Leo Baeck zu einem der führenden jüdischen Gelehrten geworden.

Die Ereignisse von 1933 trafen Leo Baeck nicht völlig unvorbereitet. Dennoch dürfte er das heraufdämmernde Grauen nicht in seinem ganzen Ausmaß vorhergesehen haben. Wer besaß schon die Vorstellungskraft, die Ungeheuerlichkeit der künftigen Verbrechen zu erahnen. Anfangs bestärkte Baeck die deutschen Juden noch in ihrer Hoffnung, dass auch mit dem nationalsozialistischen Regime nicht jeder Funke von Zivilisation verlöschen würde. Als dann jedoch das Ziel der Verfolgung - die völlige Ausrottung der Juden - nicht länger zu leugnen war, versuchte er, wenigstens so viele Opfer wie möglich zu retten. Die Schaffung eines zentralen Organs zum Schutz der Grundrechte jüdischer Bürger war allzu lang hinausgeschoben worden; erst 1933 wurde die "Reichsvertretung der deutschen Juden" unter der Führung von Leo Baeck gegründet. Dort verhandelte man täglich mit staatlichen Stellen, vor allem mit der Gestapo. Man kämpfte um Auswanderungsgenehmigungen, intervenierte zugunsten besonders gefährdeter Personen und versuchte, das Schlimmste zu verhüten oder zumindest abzumildern. Daneben bot die Reichsvertretung psychologische und praktische Hilfe durch ihre Wohlfahrtseinrichtungen und Schulen.

Baeck wurde in diesen Jahren fünfmal verhaftet, jedes Mal allerdings nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Er ließ sich jedoch nicht einschüchtern oder zum Schweigen bringen. Nach dem Erlass der "Nürnberger Gesetze" von 1935 verfasste er das folgende Gebet, das auf seinen Wunsch hin an Jom Kippur in allen Synagogen verlesen werden sollte2: "In dieser Stunde steht ganz Israel vor seinem Gotte, dem richtenden und vergebenden. Mit derselben Kraft, mit der wir unsere Sünden bekennen, die Sünden des einzelnen und die der Gesamtheit, sprechen wir mit dem Gefühl des Abscheus aus, daß wir die Lüge, die sich gegen uns wendet, die Verleumdung, die sich gegen unsere Religion und ihre Zeugnisse kehrt, tief unter unseren Füßen sehen. Wir bekennen uns zu unserem Glauben und zu unserer Zukunft. Allen Schmähungen stellen wir die Hoheit unserer Religion entgegen, allen Kränkungen unser stetes Bemühen, in den Wegen unseres Judentums zu gehen, seinen Geboten nachzukommen. Laßt euch nicht niederdrücken und laßt euch nicht verbittern. Vertraut auf den, dem die Zeiten gehören."

Es ist bemerkenswert, dass Baeck selbst in dieser stürmischen Zeit seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzte, Bücher schrieb und auch veröffentlichen konnte. Sein bekanntestes Werk war das 1905 erschienene "Wesen des Judentums" -  die Antwort auf die Vorlesungsreihe des protestantischen Theologen Adolf von Harnack über das "Wesen des Christentums". Bezeichnenderweise setzte sich Baeck gerade in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft eingehender als je zuvor mit dem Christentum auseinander, um - als Jude - einen Beitrag zum Verständnis dieser Religion zu leisten. Damit legte er das Fundament für den heutigen "jüdisch-christlichen Dialog". Von 1933 bis 1939 entwarf Baeck drei Übersetzungen derjenigen Teile des neuen Testaments, die er für die überlieferungsgeschichtlich ältesten hielt, aus dem griechischen Urtext ins Hebräische, um sie auf diese Weise die ältesten Textstücke von späteren griechischen Elementen zu reinigen. 1938 erschien sein Buch "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte", in dem Baeck die historischen Berichte sowie die Jesusworte und die Gleichnisse der vier Evangelien untersuchte. Im Vorwort machte er seine Intention deutlich: "das Evangelium als ein Stück jüdischer Geschichte, und kein geringes, als ein Zeugnis jüdischen Glaubens"3 zu würdigen.

Nach den Pogromen im November 1938 wurde die "Reichsvertretung" umbenannt und unter die Oberaufsicht der Gestapo gestellt. Die wachsamen Augen von Heydrich und Eichmann machten eigenständiges Handeln immer gefährlicher. Trotz der immer größer werdenden Schwierigkeiten harrte Baeck in seiner Stellung als Kopf der Organisation aus und lehnte alle Hilfsangebote aus dem Ausland ab. Seine persönliche Sicherheit war ihm nie besonders wichtig. Im Sommer 1939 reiste er zu einem Besuch nach London, wo seine Tochter mit ihrer Familie lebte, um über Auswanderungsmöglichkeiten für deutsche Juden zu verhandeln. Er selbst ließ sich aber auch vor dem Hintergrund der akuten Kriegsgefahr nicht von der Rückkehr nach Deutschland abhalten. "Solange in Deutschland auch nur noch ein einziger Jude lebt, gehöre ich hinüber und werde das Land nicht verlassen."4

Nun begann die schwerste Zeit; für Baeck war es eine Zeit bis an die äußersten Grenzen gehender persönlicher Herausforderung, in der die Zahl seiner Aufgaben ständig zunahm. Später enthüllte er überraschende Einzelheiten über seine Aktivitäten während des Krieges: "Ich war mit den Männern des Widerstandes in ständigem Kontakt. Mein Mittelsmann war ein Direktor der Bosch-Werke in Stuttgart ... Dieser Herr stand sowohl mit Goerdeler wie auch mit dem Militär in Verbindung ... Es sollte ein Aufruf an das deutsche Volk verfaßt werden, und ich war u. a. ebenfalls um den Entwurf eines solchen Aufrufes ersucht worden. Mein Mittelsmann teilte mir mit, daß meine Fassung für den "Tag danach" gewählt worden sei. Man war sich aber darüber klar, daß die freien Zeitungen, die nach der Niederringung des Regimes erscheinen würden, Stoff für drei Monate haben müssten, und so wurden Zeitungsartikel und politische Literatur vorbereitet. Es sollte auch ein Buch über die Entwicklung der Stellung der Juden in Europa vorbereitet werden, und ich habe von 1938 bis 1941 an diesem Buch gearbeitet." Als Leo Baeck am 28. Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, nahm er das Manuskript zu diesem Buch sowie das Einleitungskapitel des ersten Bandes von "Dieses Volk" mit, das im Konzentrationslager vollendet wurde. Baeck war damals fast siebzig Jahre alt. Rasch wurde er im Lager zum Vorsitzenden des Ältestenrates gewählt. Weit wichtiger aber noch waren die Wirkung seiner Persönlichkeit, seine Integrität und sein aktives Eintreten für die anderen Gefangenen, denen er ein wahrer Freund war. Sein Wirken in diesem Konzentrationslager ließ ihn zu einem Glaubenszeugen der Judentums werden. : „In Theresienstadt kamen die Menschen zu Leo Baeck, und er kam zu ihnen. Sieben- bis achthundert Menschen drängten sich in einen kleinen Kasernenraum, um seinen Vorträgen über Platon und Kant zuzuhören. Aber es gab auch viele private Begegnungen, in denen er sich seinen Mithäftlingen widmete, ihnen als Rabbiner und Tröster diente.“

H. G. Adler hat eindrücklich geschildert, was Baeck in Theresienstadt bewirkte: "Schon bald nach Leo Baecks Ankunft am 28. Januar 1943 sprach es sich nicht nur unter den Juden aus Deutschland, die ja meist schon von ihm wußten, sondern auch weitgehend unter den übrigen Gefangenen herum, daß hier ein besonderer Mann gekommen sei, jemand, der sich nicht damit begnügte, daß man ihm die zweifelhaften Ehren einer leitenden Stellung in der gefesselten "Selbstverwaltung" übertragen hatte, sondern ein Mann, der seine Aufgabe ganz anders übernahm als die meisten seiner Mitarbeiter, ohne jedoch je Träger eines Widerstands zu werden, wie wir ihn nach dem ehrwürdigen Beispiel Warschaus und anderer Lager im Osten verstehen. Gewiss hätte er sich auch einer politischen Widerstandsbewegung nicht versagt, aber die kam bei der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Gefangenen von Theresienstadt gar nicht in Frage. Hingegen begriff sich Leo Baeck, er hat es selbst ausgesprochen, als Mittelpunkt eines sittlichen Widerstandes. Er praktizierte und lehrte ihn, d. h. er verhielt sich so, wie sich seinen Begriffen nach ein Mensch immer und überall und unter allen noch so widrigen Umständen zu verhalten hat, gütig, wahrhaftig und wohlwollend."

Leo Baeck, Häftling Nr. 187 894 im Lager Theresienstadt, Gefangener des „Führers“, Zugtier für den Müllwagen und bereit für jede andere Aufgabe, die ihm die Schergen zuwiesen. Aber sie konnten ihn nicht daran hindern, er selbst zu sein, ein Rabbiner, ein Lehrer, einer der großen Gelehrten seiner Generation. Nach der Befreiung 1945 geht Baeck nach London und wird Präsident der World Union for Progressive Judaism. 1948 wird er nach Cincinnati als Professor für Religionsgeschichte am Hebrew Union College berufen. Er stirbt 1956.


Bücher von
WALTER HOMOLKA


          





Schon seine ersten Veröffentlichungen schienen Baeck als Anhänger eines liberalen Judentums auszuweisen. Die tiefe Einsicht in die Unvollkommenheit jeder Religion brachte ihn in die Nähe dieser Strömung. Und doch betonte er wiederholt, dass er sich selbst keiner Bewegung zurechnete und dass Frömmigkeit, wie er sie verstand, auf dem inneren Fortschritt beruhte, der nicht an der Oberfläche blieb, sondern sich als "progressus" vollzog, als eine historische Entwicklung, die Baeck theologisch als "eine Geschichte von Begegnungen mit Gott" fasste. Für Baeck war religiöser Liberalismus - nicht zu verwechseln mit bloßer Toleranz - gleichzusetzen mit liberalem Konservativismus: dem Bemühen um Bewahrung und Erinnerung, die offen ist für das Neue. Diese Spannung von Kontinuität und Wandel bringt Baeck am Schluss seines Spätwerkes "Dieses Volk" zum Ausdruck: " Verantwortung, in der sich Freiheit als Freiheit wendet, ist so viel schwerer."

Obwohl Leo Baeck der Systematiker moderner jüdischer Theologie gewesen ist, kann man ihn unmöglich in ein System zwingen. Über sechzig Jahre hinweg und über vierhundert Artikel hindurch zieht sich und entwickelt sich sein Denken. Dazu kommen seine beiden grundlegenden Werke „Das Wesen des Judentums“ von 1905 und - ein halbes Jahrhundert später - „Dieses Volk - Jüdische Existenz“. Betrachtet man dieses Lebenswerk als Gesamtheit, so gewinnt es dennoch Struktur. Im Mittelpunkt steht der Begriff „Schöpfung“. Sie ist die Offenbarung.6 Der Mensch entdeckt sich als ein Geschaffener, der sich auf den Urgrund seiner Existenz bezogen fühlt: das Bewusstsein des Geheimnisses Gottes. Gott ist zugleich fern und nah. Und das Gefühl dieses dunklen Geheimnisses trägt in sich das Gefühl völliger Geborgenheit: der Mensch weiß sich vom Grund seines Seins getragen und entdeckt den Sinn des Lebens, wenn er den einen Gott als seinen Gott erkennt. „Zwischen Gott und dem Menschen und zwischen Gott und der Welt ist der Bund; die Welt ist wie der Mensch in die Religion hineingestellt“.7 In der Realität, im Sein dieser Welt, begegnet Gott dem Menschen. Dieses Denken Leo Baecks ist ein Denken in Paradoxie. Gedanken gleicher Notwendigkeit stehen in einem Widerspruch zueinander, und die philosophische Logik kann ihn nicht lösen. Im Glauben aber wird daraus eine geschlossene Einheit.8

Die erste große Paradoxie des Lebens ist die Konfrontation zwischen dem Nahen und dem Fernen, der Transzendenz und der Immanenz, dem Diesseits und dem Jenseits.9 Die zweite große Paradoxie ist die Paradoxie Gottes, der unendliche Liebe und eifervolle Gerechtigkeit in sich vereint. Unser Leben, das durch Gottes Schöpfung bereits einen ewigen Wert erhalten hat, muss doch um der göttlichen Gerechtigkeit willen durch unser Tun erst den Wert entfalten, den es in sich birgt.  Weil der Mensch von Gott geschaffen ist, ist er Mensch. Aber nur insofern er das Gebot einhält, und in eben dem Maße, ist er wahrer Mensch.10 Daraus  ergibt sich die dritte Paradoxie: der Mensch als Produkt der Schöpfung und zugleich selbst Schaffender, abhängig und trotzdem frei.11 Und all das lebt aus der Spannung zwischen „Geheimnis“ und „Gebot“. Diese beiden seelischen Erfahrungen machen den Sinn des Lebens aus und sind im Judentum vereint.12 Im Geheimnis wird dem Menschen die tiefere Wirklichkeit offenbar, die unter der bloßen Oberfläche seines Lebens verborgen ist. „Er erfährt, daß er geworden ist, er erfährt um das Verborgene und Bergende seines Daseins, um das, was ihn und alles umfaßt und umfängt“.13 Während das Geheimnis nach der Bedeutung des Lebens fragt, fragt das Gebot nach seinem Ziel. Das Gebot ist die unbedingte Forderung, die den Menschen ganz ergreift.14 Drängend, besiegend, absolut und unabhängig weist es von Geschlecht zu Geschlecht in die Zukunft.15 Es ist im Ewigen, Seienden und Unerforschlichen begründet und erweist sich für den Menschen als segnend, als zeugend und fruchtbar.16 „Das Reich des Gebotes ist ein Reich der Offenbarung und ist als dieses ein Reich der Gnade“.17  Beides - Geheimnis und Gebot - kommt aus dem einen Gott, und keines kann ohne das andere sein. Ohne die Gewissheit um das Geheimnis kann es zwar ein Moralgefüge aus Lehren der Klugheit und Räten der Vernunft geben, aber das Unwandelbare und Kategorische des Gebots würde für den Menschen unfassbar bleiben.18 Das Geheimnis, das Glaubenserlebnis und Mysterium,  ist das Gebärende in der Religion. Aber er macht die Religion doch nicht aus, ebenso wenig wie die Geburt schon das ganze Leben ist.19 Ein solches Verhältnis von Mystik und Ethik ist kein Gegeneinander, sondern ein notwendiges Miteinander auf Gott hin. Ziel des Lebens ist die Gerechtigkeit vor Gott: durch Schaffen und Vollbringen, durch Pflichterfüllung und Ringen um das Gesetz. Die Religion soll kein gutes Gewissen schaffen, sondern es ständig beunruhigen. Nur dann ist sie auch wahrhaft Religion. Sie muss fähig und entschlossen sein, jeder geschöpflichen Macht Widerstand anzusagen und zu leisten, wenn es gilt, das Ewige zu verteidigen.20

Der Glaube wendet sich nicht von der Welt ab. Er erwartet nicht Erlösung von ihr und ihren Tagen. Sondern es ist der Glaube an die  Welt und die Gewissheit, dass sich alle denkbaren Gegensätze versöhnen werden. Es ist nicht die Erlösung von der Welt, sondern in der Welt. Diese Welt soll geheiligt und damit das Gottesreich aufgerichtet werden. „Heilig“ und „profan“ sind damit untrennbar miteinander verbunden.

Angesichts der lutherischen Staat-Kirchen-Allianz stellt Leo Baeck die für ihn oberste Wahrheits- und Freiheitsfrage: verhilft die Religion zu einem „guten Gewissen“, dadurch dass sie um des Tages willen mit jeder - auch widergöttlichen - Macht paktiert? Oder ist sie fähig und entschlossen, um des Ewigen Willen Widerstand zu leisten.21 Baeck greift die Rede von den zwei Reichen auf und meint, es gehe nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Ineinander: „das eine Reich soll das andere durchdringen, beeinflussen und bestimmen“.22 Der Weg zu dieser höheren Welt muss aber von Einzelnen selbst geschaffen werden, und zwar an dem Ort, an den er gerade hingestellt ist. Alles Handeln soll seinen Urgrund in Gottes Willen und nicht in dem des Staates haben. Die völlige Unabhängigkeit der Religion vom Staat ist von entscheidender Bedeutung.

Deshalb auch Leo Baecks Kritik am Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland. Über viele Jahrhunderte hinweg, bis zum Ende der monarchischen Regierungsform 1918, herrschte in Deutschland die Idee vom „christlichen Staat“.  Und auch danach lösten sich die Kirchen nur langsam und halbherzig von diesem Modell der Koexistenz von Staat und Religion.

Leo Baecks Warnung mag uns da in den Ohren klingen: Religion steht nicht an der Seite des Staates, sondern ihm gegenüber: um ihn zu kontrollieren und zu kritisieren. Gleichzeitig hat sich der Staat aus den religiösen Vollzügen seiner Bürger herauszuhalten und darf auch nicht indirekt Einfluss auf die Verfasstheit der Religionsgemeinschaften nehmen.

Wie aus den biographischen Anmerkungen zum Leben Leo Baecks deutlich wurde, setzte das Hitlerregime seiner literarischen Arbeit zwischen 1941 und 1945 eine schreckliche Zäsur. Doch noch im Konzentrationslager Theresienstadt, wo er von 1943 bis 1945 interniert war, arbeitete Baeck weiter. Das Ergebnis dieser Zeit waren zwei Bände mit dem Titel "Dieses Volk: Jüdische Existenz".23  In "Dieses Volk" wird das Konzept des "Wesens" aufgegeben und durch das der "Existenz" ersetzt. Die religiöse Tradition des Judentums erscheint nicht länger als bloßes geistesgeschichtliches Phänomen, sondern als Ausdruck der Einzigartigkeit des jüdischen Volkes. Hatte Baeck zuvor die Einzigartigkeit des ethischen Monotheismus als einer revolutionären Kraft, die mit einer "Offenbarung" in die Welt einbrach, hervorgehoben, so beschreibt er nun das historische Auftreten seines Volkes als außergewöhnliches Ereignis, "ein Einmaliges". Die partikularistische Tendenz sticht ins Auge: Einzig und allein das jüdische Volk, so führt Baeck aus, besitzt die besondere Gabe, "Geheimnis" und "Gebot" in seiner Religion zu vereinen. Das Metaphysische wird im Judentum als "das gebietende Geheimnis" erfahren. Von diesem Standpunkt her ist die jüdische Mystik ein Ausdruck der erneuernden Kraft Israels und gerade nicht, wie früher behauptet, ein Element, das diesen Erneuerungsprozess blockiert.

Die Erfahrung des Holocaust hatte Baecks Sicht verändert. Insofern ist sein Werk ein Zeugnis der Entwicklung, die die jüdische Theologie im 20. Jahrhundert durchmachte: Von der Unterbewertung der Einzigartigkeit und wesensmäßigen Andersheit des Jüdischen hin zu einer erneuten Bekräftigung der jüdischen Einzigartigkeit in metaphysischem Sinn. Die den Theologen bewegende Frage war eine andere geworden: Es ging nicht mehr um das "Wesen", sondern um die "Existenz" des Judentums.

Was bleibt von Baecks Theologie? Sicherlich sein ethischer Ansatz, der den Menschen und seine autonome schöpferische Kraft ins Zentrum stellt. Aber auch die Bewahrung und neuentdeckte Wertschätzung der emotionalen und mystischen Kräfte, die im Judentum trotz aller Vernachlässigung im Zeitalter der Aufklärung wirksam sind. Und schließlich die Hinwendung zu einem moralischen Universalismus, ein "messianisches" Anliegen, das den Menschen auf der ganzen Welt gilt.24  Zugegeben, die Probleme haben sich seit der Zeit, in der Baeck schrieb, gewandelt. Der Holocaust hat die Rivalität zwischen den beiden Schwestern, Kirche und Synagoge, aufgehoben und größeres Verständnis und gegenseitige Wertschätzung wachsen lassen. Auf internationaler Ebene trug das zu einer noch engeren Verbindung zwischen der modernen jüdischen Theologie und anderen geistigen Strömungen bei. Baeck steht am Ende einer Zeit der Suche nach den wesentlichen Elementen des jüdischen Glaubens, einer Zeit, deren Einfluss auf das religiöse Leben des Judentums in unserem Jahrhundert kaum zu überschätzen ist. Baeck verdanken wir den Brückenschlag zwischen den mystischen und den rationalen Elementen der jüdischen Tradition. Die Brücke, die er gebaut hat, hat es späteren Generationen ermöglicht, zurückgehen und erneut zu erfahren, was ihre Vorfahren wussten: Das menschliche Sein bietet eine Möglichkeit der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis, die alle künstlichen Systeme, die auf der institutionellen Seite des Glaubens entwickelt wurden, transzendiert. So gleicht die Aufgabe der modernen jüdischen Religionsphilosophen und Rabbiner der ihrer Vorgänger im 19. Jahrhundert: Sie müssen ein Gleichgewicht zwischen Kontinuität und Wandel finden, in dem die Authentizität des jüdischen religiösen Lebens bewahrt und zugleich die Erkenntnis ernst genommen wird, dass Gott sein Volk auf eine Reise mitnimmt, auf der es möglicherweise mit neuen Eindrücken über die Beziehung zu seinem Gott konfrontiert wird.

Auch bei Baecks Auseinandersetzung mit Harnack über das „Wesen des Judentums“ war es ihm vor allem darum gegangen, die Legitimität und den Eigenwert jüdischer Existenz aufzuzeigen, um Juden daran zu hindern, ihrer Religion den Rücken zu kehren und ins christliche Lager überzulaufen. Die gesellschaftlichen Veränderungen, denen die jüdische Gemeinschaft seit der Emanzipation unterworfen war, machte eine Neuinterpretation jüdischer Religiosität notwendig. Dennoch wurde stets die Möglichkeit einer Verständigung mit dem Christentum offengelassen, ja eine solche Verständigung wurde stets angestrebt.

Alles, was an religiöser Neuinterpretation geleistet wurde, musste gleichzeitig zeitgemäß und doch so nahe an der jüdischen Tradition sein, dass es nach wie vor die Bezeichnung "jüdisch" verdiente. Über den eigenen Standpunkt, den Ort des liberalen Juden in der Welt, sagt Baeck 1940: „Vielleicht hat mancher in vergangenen Jahren gemeint, die Bahn des liberalen, progressiven Judentums verliere sich, seine Zeit sei vorbei. Wenn wir den Wandel der Tage hineinblicken, sehen wir, dass nun, wenn es nur aus der Geschichte gelernt hat, seine eigentliche, wichtige Zeit erst beginnen will. Es darf jetzt vor einem bedeutungsvollen Wege stehen“.25  „Das liberale Judentum sollte das lebendige Gewissen des Judentums sein. Aber… Tradition darf nicht zum bloßen Worte werden, denn sie steht auf einem heiligen Boden. Verständnis und Ehrfurcht sollen das Wesen des Liberalen Judentums ausmachen. Jüdisches Lernen und das Wissen um den Bund zwischen Israel und seinem Gott sind die beiden Aufgaben, die dem Judentum unserer Tage gestellt sind.“26

Sein Ringen um das Eigene ist bis heute auch Einladung zum Gespräch innerhalb der jüdischen Strömungen – und dazu, auf christlicher Seite selbstkritisch über die eigene Theologie zu reflektieren. Baeck geht es dabei das religiöse Selbstbewusstsein des einzelnen Juden, das Raum schafft für die existentiellen Suche nach der eigenen Identität als Voraussetzung für das Gespräch mit Anhängern eines anderen Glaubens.

Fazit:

Leo Baeck hat mit seinem Werk einiges bewirkt. Besonders wichtig ist, dass er es Juden ermöglicht hat, sich ihrer selbst sicherer den Weg in die Moderne zu wagen: durch eine kritische Betrachtung ihrer Tradition im Licht zeitgenössischen Denkens. Diese Spannung von Kontinuität und Wandel bringt Baeck am Schluss seines Werkes "Dieses Volk" zum Ausdruck: "Erbe lässt sich nicht herstellen, geschweige denn erzwingen, nur eine Freiheit, die aufzubauen vermag, kann es wahrhaft übernehmen".27

Zweitens er hat die Grenzen zu anderen Religionen, speziell zum Christentum, aufgezeigt. So eigenartig es klingen mag. Beide Komponenten sind unabdingbare Garanten für einen Dialog. Denn nur, wer sich selbst kennt und sich seiner Identität sicher ist, kann auf den Anderen zugehen und mit ihm ins Gespräch kommen. Dabei hat Leo Baeck große Unterschiede zwischen Judentum und Christentum herausgearbeitet: im Verständnis der biblischen Texte, die uns eben nur scheinbar gemeinsam sind. In der Wahrnehmung vom Menschen und seinen Möglichkeiten, im Wesen der Beziehung Gottes mit den Menschen. Diese erheblichen Unterschiede sollten uns nicht entmutigen, sondern gerade neugierig aufeinander machen. Insofern steht Leo Baeck am Beginn eines sinnvollen Austauschs zwischen den Religionen.

Leo Baeck hat in seiner wegweisenden Rede von 22. April 1956 „Judentum, Christentum und Islam“ die Moslems in dieses Gespräch einbezogen und das gemeinsame Erbe benannt. Seine Vision, genau fünfzig Jahre alt, vom gemeinsamen Weg der drei monotheistischen Religionen ist messianisch zu nennen: „Menschen und Gemeinschaften, Völker und Religionen sollen einander verstehen. Sie sollen nicht gleich werden, und sie können nicht gleich werden. Sie sollen aber einander verstehen. Verstehen bedeutet zugleich, voreinander Respekt zu haben, und vor dem anderen kann nur der Respekt haben, der vor sich selber Respekt hat. Auf jüdischer Seite hängt viel, vielleicht alles davon ab, dass wir es lernen, in dem Besten, das wir suchen, vor uns selber Respekt zu hegen. Dann werden wir lernen, vor den anderen echten Respekt zu haben, vor dem, was im anderen groß ist. … Dann werden gute Tage kommen. Menschen und Völker und Bekenntnisse werden geschieden bleiben, werden in ihrer Besonderheit weiter leben, aber sie werden wissen, dass sie zusammen gehören, Teil der einen Menschheit sind, zusammenleben sollen auf dieser unserer Erde, einander sehen und einander verstehend, und, wenn es Not tut, einander helfend."28

Lernen mit Leo Baeck, das ist diese Hinwendung zum Nächsten. In diesem Optimismus steckt die besondere Kraft seiner Botschaft. Uns bleibt Baecks Verständnis vom ethischen Monotheismus als gesellschaftlicher Auftrag für die Gegenwart.



ANMERKUNGEN



1 FRITZ BAMBERGER, Leo Baeck: Der Mensch und die Idee, in: Eva G. Reichmann (Hg)., Worte des Gedenkens für Leo Baeck, Heidelberg 1959, 76.

2 FRITZ BAMBERGER, Leo Baeck: Der Mensch und die Idee, in: a.a.O. 80.

3 LEO BAECK, Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin, 1938, 5.

4 HANS G. ADLER, Rechenschaft in dunkler Zeit: Leo Baeck und sein Werk, in: Werner Licharz (Hg.), Leo Baeck: Lehrer und Helfer in schwerer Zeit. Arnoldshainer Texte 20, Ffm 1983, 70.

5 ALBERT H. FRIEDLANDER: Leo Baeck – Leben und Lehre.- Gütersloh 1990, S. 59

6 BAECK, Leo: Das Wesen des Judentums. - Frankfurt am Main 1926, S. 105

7 BAECK, Leo: Wesen, 1926 S. 106

8 BAECK, Leo: Wege im Judentum. - Berlin 1933, S. 275 („Zwischen Wittenberg und Rom“).

9 BAECK, Leo: Wesen, 1926. S. 107

10 BAECK, Leo: Wesen, 1926. S. 155

11 BAECK, Leo: Wesen, 1926. S. 131 f.

12 BAECK, Leo: Wege im Judentum...(„Geheimnis und Gebot“) 

13 BAECK; Leo: Wege... S. 33

14 BAECK, Leo: Wege... S. 280

15   ders. Wege... S. 42

16   ders. Wege... S. 41

17 BAECK, Leo: Dieses Volk - Jüdische Existenz.- Bd 1, Frankfurt am Main 1955, S. 103

18 BAECK, Leo: Wege... S. 280

19 BAECK, Leo: Aus drei Jahrtausenden. - Tübingen 1958. S. 58

20 BAECK, Leo: Wege ... S. 287

21 BAECK, Leo Wege ... S. 287

22 BAECK, Leo: Epochen jüdischer Geschichte. - Stuttgart u.a. 974, S. 119 ff.

23 Dieses Volk: Jüdische Existenz, Bd. I, Frankfurt am Main 1955, Bd. 2, Frankfurt am Main 1957.

24 BAECK, Leo, World Religion und National Religion, in: Mordecai M. Kaplan Jubilee Volume, New York 1953.

25  Leo Baeck Werke, Bd. 6, S. 516 f. 

26  zitiert nach Ernst Ludwig Ehrlich: Leo Baeck, der Mensch und sein Werk, in: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, hrsg. v. Evangelisch-Lutherischen Zentralverein für Begegnung von Christen und Juden, Nr. 1, 2001

27  Leo Baeck Werke, Bd. 2, S. 365.

28  Leo Baeck Werke, Bd. 5, S. 488 f., Judentum, Christentum und Islam: Rede gehalten von Ehren-Großpräsident Dr. Leo Baeck anläßlich der Studientagung der Distrikts-Groß-Loge Kontinental-Europa XIX in Brüssel am 22. April 1956.


Der Autor

WALTER HOMOLKA

Rabbiner Dr. Walter Homolka (Jg. 1964) studierte u.a. am Leo Baeck College und King's College in London. Seit 2002 ist er Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam, des ersten Rabbinerseminars in Deutschland seit dem Holocaust.

Er ist zudem Vorstandsmitglied der World Union for Progressive Judaism Jerusalem, Chairman der Leo Baeck Foundation sowie Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

Homepage:
Walter Homolka