Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

Online-Extra Nr. 10

April 2005


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Online-Extra Nr. 10



Mutter-, Schwester- oder Tochterrreligion?

Religionswissenschaftliche Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis von Judentum und Christentum.


MATTHIAS MORGENSTERN



Die Frage, was früher oder später gewesen sei, wird schon im Alltag selten ohne deutende Interessen gestellt. Dies gilt um so mehr, wo die historische Einordnung von geistigen und gesellschaftlichen Bewegungen, Zivilisationen, gar Weltreligionen auf dem Spiel steht. Welche Dynamik eine Prioritätsvermutung entfalten kann, zeigt die abendländische Tradition, in der wir seit der Reformation gewohnt sind, zu den Quellen zurückzugehen. Die Renaissance lehrte uns, nach den Ursprüngen von Kräften zu fragen, die in der Geschichte wirksam wurden. Die Romantik suggerierte, daß die „Anfänge“ jeweils das Wahre und Echte gewesen seien, das dann im Laufe der Geschichte meist abgeschwächt oder gar verfälscht wurde, während die Aufklärung umgekehrt gegen das „Alte“ Front machte und für das „Neue“ Position bezog. Dieses widersprüchliche Spannungsfeld zwischen gegensätzlichen Bewertungen von Alt und Neu ist auch in zeitgenössischen religions- und kulturpolitischen Debatten über das Verhältnis von Judentum und Christentum – etwa über Mel Gibsons Passionsfilm oder in der kürzlich auf Arte zu sehenden Dokumentation über die Ursprünge des Christentums – meist unterschwellig präsent.

In der jüdischen Tradition sind entsprechende Argumentationen seit alter Zeit bekannt – etwa im Streit des rabbinischen Judentums mit den Karäern, jener Gruppierung, die in der Tradition des babylonisch-jüdischen Gelehrten Anan ben David (etwa 760 n. Chr.) die Autorität des Talmud ablehnte. Die Karäer wurden von den orthodox-rabbinischen Juden, um ihr Ketzertum zu erweisen, einerseits als „sadduzäisch“ (also als längst widerlegte Sekte), andererseits aber auch als neuerem häretisch-islamischem Einfluß unterliegend gebrandmarkt. In ähnlich schwieriger Logik insistierten die Karäer andererseits auf dem nachträglich-artifiziellen Charakter des Talmuds, der mündlichen Tora der Rabbaniten, und warfen ihren Gegnern zugleich talmudische Spitzfindigkeit und Versteinerung, also Zurückgebliebenheit und Neuerungsfeindschaft vor. Bereits diesem Beispiel ist zu entnehmen, welche Konnotationen den Vorstellungen von Priorität oder Posteriorität jeweils anhaften können, je nach dem, ob man nach normativen Ursprüngen in der Geschichte sucht und Neuerungen eher abwehrt oder den Weg Gottes mit seinem Volk in der Geschichte optimistisch nachzeichnen will und deshalb Fortschritte bejaht.

In der Beschreibung des Verhältnisses von Juden- und Christentum haben solche unterschiedlichen Interessenlagen zur Beliebtheit des Bildes von der (jüdischen) Mutter- und der (christlichen) Tochterreligion beigetragen. Aber auch andere Wendungen wie die des „jüdischen Erbes“ oder des jüdischen „Mutterbodens“ des Evangeliums gehen von Prioritätsannahmen aus, die unterschiedliche Geltungsansprüche nach sich ziehen können. Der amerikanische Judaist Jacob Neusner hat das Dilemma solcher Geschichtskonstruktionen beschrieben, wie sie nach seiner Darstellung vor allem in der protestantischen Theologie beheimatet seien. Diese, am Paradigma der Reformation orientiert, habe das Modell des frühen 16. Jahrhunderts zu Unrecht in die Frühgeschichte von Christentum und Judentum zurückgetragen, wobei man sich weigere, zwischen dem rabbinischen und vorrabbbinischen Judentum zu unterscheiden. Man gelange so entweder zu einem Judentumsbild als Negativfolie, von dem sich Jesus und seine Nachfolger positiv abheben – das Judentum ist in diesem Fall ein störrisches Relikt, das allein von seinem Nein zu Jesus her erklärt werden muß – oder zur Wahrnehmung des Christentums als einer jüdischen Sekte, deren Entstehung nur unzureichend zu erklären sei. In diesem letzteren Sinne sprach der Jerusalemer Neutestamentler David Flusser in der Tat vom „Christentum als einer jüdischen Religion“ - für ihn Grund genug, den Christen nicht nur die Rückbesinnung auf ihre Ursprünge abzufordern, sondern das Christentum auch gegen Kritik von außen – etwa in der Diskussion über die christliche Mitverantwortung für den Holocaust – zu verteidigen und für seine Ehrenrettung einzutreten. Diese Denkfigur, die von christlichen Theologen meist eher als irritierend empfunden wurde, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Reklamierung des Christentums als „im Grunde jüdisch“ jeder christlich-jüdischen Dialogbemühung das Gegenüber nimmt und somit den Boden entzieht.


Eine andere Schlußfolgerung, die aus der stereotypen Erkenntnis von der „Herkunft des Christentums vom Judentum“ (Hans Küng) gezogen wird, lautet, daß Christen auf die Beschäftigung mit ihrem historischen Erbe angewiesen seien; sie müßten sich mit Israel beschäftigen. Juden hingegen kämen in ihrem Judensein ohne den Rekurs auf das Christentum aus. Im Kontext der Prioritätsthese, erscheint häufig – am eindrücklichsten in einem Papier der französischen Bischofskonferenz vom 16. April 1973 – das Theorem einer „permanence“ des jüdischen Volkes, seiner „bewundernswerten Kontinuität, Vitalität und Dynamik“ in einer „über dreitausendjährigen Geschichte“ (Küng). In bewußter Abkehr von als antijudaistisch erkannten Distinktionen der christlichen Theologie wird diese Kontinuität etwa in einer Formulierung der 3. EKD-Studie „Juden und Christen“ aus dem Jahre 2000 konfessorisch gefaßt und mit aktuellen zeitgeschichtlichen Ereignissen verbunden: „Die Existenz des Staates Israel, der in seiner Gründungsurkunde und mit seinem Namen ausdrücklich an biblische Traditionen anknüpft, macht es Christen unmöglich, von Israel so zu sprechen, als handle es sich dabei nur um eine Größe der Vergangenheit.“ Der Heidelberger Alttestamentler Rolf Rendtorff hat dementsprechend formuliert, es gehe darum, „angesichts des Weiterbestehens des biblischen Israel (!) die Kirche zu definieren, ohne dabei mit den biblisch begründeten, unverändert gültigen Aussagen über Israel in Konflikt zu kommen.“

Von der These der „Permanenz“ Israels ausgehend, wird bei einigen Autoren, etwa dem nordamerikanischen christlichen Theologen Paul van Buren, die Forderung erhoben, Jesus von Nazareth in den Kontext des jüdischen Volkes zu stellen, wie wir es heute kennen. Ihn von der jüdischen Tradition her zu deuten, von einer bis heute als im wesentlichen ungebrochen wahrgenommenen Tradition, hat in dieser Sicht Vorrang vor jedem historisch-kritischen oder systematisch-theologischen Zugang zur Person Jesu: Juden verstehen ihn besser als christliche Exegeten (Martin Buber).


Das Judentum – eine „nachchristliche Religion“?

Der israelische Religionsphilosoph Y. Leibowitz hat sich demgegenüber den Vorstellungen einer chronologischen Priorität und epochenübergreifenden Permanenz des Judentums entgegengestellt und darauf hingewiesen, daß das an den Ursprüngen („ad fontes“) orientierte Ideal keineswegs einer Religion und Kultur entspreche, in deren Zentrum das Religionsgesetz stehe. Denn rechtliche Normen, so auch der israelische Rechtshistoriker Menachem Elon, haben sich immer an der neuesten Auslegung zu orientieren: Die Halacha folgt demnach nicht dem historisch zu ermittelnden ursprünglichen Schriftsinn etwa der Bibel, sondern der von den jeweils zuständigen Auslegern festzustellenden geltenden, also neuesten Rechtslage. Sie geht dabei von der mündlichen Tora aus, der Mischna als einem gegen Ende des 2. nachchristlichen Jahrhunderts in Palästina entstandenen Dokument und ihren Fortschreibungen bis in die Gegenwart. Sofern es praktiziert wird, ist das Judentum daher grundsätzlich nicht an Prioritätsvorteilen interessiert.

In neueren, vornehmlich im Reformjudentum geführten Debatten haben jüdische Theologen die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen. In einem Dokument, das mehr als 170 Persönlichkeiten aus dem amerikanischen Judentum im September 2000 unter dem Titel „dabru emet“ (hebräisch: Redet Wahrheit!) als Gesprächsangebot an das Christentum veröffentlicht haben, heißt es: „Wir respektieren das Christentum als einen Glauben, der innerhalb des Judentums entstand.“ Dem setzt der durch seine Tätigkeit als Direktor des Frankfurter Fritz Bauer-Institutes bekannte jüdische Theologe Micha Brumlik entgegen: „Wir respektieren das Christentum als jene Ausformung des biblischen Glaubens, die das rabbinische Judentum in seiner heutigen Form provozierte und sehen in ihm ein älteres Geschwister...“ Unter Hinweis auf die mannigfachen christlichen Einflüsse auf das Judentum ist der an der Universität Manchester lehrende Rabbiner Michael Hilton in dieser Hinsicht gar so weit gegangen, das rabbinische Judentum expressis verbis als „Tochterreligion des Christentums“ zu definieren. Durch beide Wortmeldungen wird nicht nur die bisher gängige Chronologie in ihr Gegenteil verkehrt; es wird auch ein Kausalzusammenhang behauptet, der es - im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Konvention - nicht mehr erlaubt, das Judentum ohne das Christentum zu denken.

Zugespitzt steht das Judentum damit als diejenige Religion im Blickfeld, die bereits am Ausgang des Altertums auf eine Fehlentwicklung des Christentums reagiert habe und daher in der heutigen postchristlichen Situation wieder sinndeutend bereitstehe. Diese These mag im Sinne Brumliks – man denke etwa an das von der amerikanischen Ethnologin Ruth Ellen Gruber beschriebene Phänomen der „virtuellen Judaizität“, des steigenden Interesses am Judentum unter Nichtjuden - durch den kritischen Rückblick auf das 20. Jahrhundert Plausibilität gewinnen. Es handelt sich hier um Phänomene, die die christlichen Kirchen gegenwärtig als krisenartigen Relevanzverlust wahrnehmen, die in den vergangenen Jahren aber zugleich zu einer anderen Wahrnehmung des Jüdischen in unserer Gesellschaft geführt haben. Gemeint ist eine Art zivilreligiöse Funktion „des Jüdischen“ in der postchristlichen Gesellschaft, wie sie ein Kommentator kürzlich mit der Äußerung vor Augen hatte, mit dem Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland habe der Staat anerkannt, daß die jüdische Religion künftig zu den vorpositiven Grundlagen der gesamten Gesellschaft gehöre.


Die „Matrix“ des 4. Jahrhunderts

In welcher Hinsicht könnte nun die Rede von einem „postchristlichen“ Judentum auch historisch sinnvoll sein? Seine grundlegende Forschung, die es möglich macht, vom Judentum auch als einer Tochterreligion des Christentums zu sprechen, hat Jacob Neusner 1991 unter dem Titel „Judaism in the Matrix of Christianity“ vorgestellt. Hier entfaltet der Autor seine These vom 4. nachchristlichen Jahrhundert als der ersten Epoche einer wirklichen jüdisch-christlichen Begegnung – in dem Sinne, daß das zu politischer Relevanz gelangte Christentum von den Rabbinen erstmals als relevantes, freilich zugleich bedrohliches Phänomen ernstgenommen wurde. Diese Wahrnehmung hatte Konsequenzen für den weiteren Weg des Judentums in der bis etwa 600 n. Chr. reichenden formativen Periode des rabbinischen Judentums.

Zur davor liegenden Zeit bemerkt Neusner, daß das aus der Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. hervorgegangene Judentum in eine Welt hineinwuchs, in der die Christen noch keine entscheidende Rolle spielten. In den ersten schriftlichen Dokumenten der rabbinischen Weisen wurde es daher beispielsweise nicht für notwendig gehalten, eine Lehre von der Autorität der Heiligen Schrift zu entwickeln. Die etwa 200 n. Chr. in Palästina redigierte Mischna, der erste Teil des Talmud, erwähnt und zitiert die hebräische Bibel gelegentlich mit auffallend beiläufigem Ton und steht der biblischen Literatur sowohl inhaltlich als auch formal isoliert gegenüber. Die Mischna ist auch ein Text, in dem die Geschichte nicht den im alten Israel dominierenden Rahmen abgibt. In ihr spielt die Messiasfrage nicht nur keine beherrschende Rolle, sie wird überhaupt ganz an den Rand gedrängt. Dieses Gründungsdokument des rabbinischen Judentums enthält keinen Traktat über die Zerstörung Jerusalems durch die Römer, keine Informationen über den Aufstieg und Fall Bar Kochbas (132 - 135 n. Chr.), sie ist denkbar uninteressiert an biographischen Angaben zu den in ihr redenden rabbinischen Gestalten. Wichtig sind demgegenüber kultische und rituelle Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, die von den Autoren mit großer Sorgfalt zusammengestellt werden. Allen geschichtsphilosophischen Spekulationen gegenüber gibt sie sich gänzlich uninteressiert.

Erst das konstantinische Christentum mit seiner Christologie und seinem nun wahrnehmbaren eigenen Anspruch auf das Alte Testament, so Neusner, habe eine jüdische Antwort erforderlich gemacht und in der Lehre von der zweifachen, der schriftlichen und der mündlichen Tora (dem Talmud), auch gefunden. In dieser Situation war es die Aufgabe der nun einsetzenden Midraschim, den bisher fehlenden oder ungenügenden Konnex zur Hebräischen Bibel herzustellen. Nach einer etwa zweihundertjährigen Vernachlässigung der biblischen Stoffe im Judentum handelt es sich hier im 4. und 5. Jahrhundert um einen vollkommen neuen Typ von Kommentarliteratur, der sich vor allem dem Bemühen verdankte, der konkurrierenden christlichen Exegese eine eigene Schriftinterpretation entgegenzusetzen.

Das umstürzend Neue dieser Zeit nach dem Scheitern der Pläne zum Neubau des Jerusalemer Tempels unter dem römischen Kaiser Julianus „Apostata“ (361 - 363) ist gekennzeichnet durch die rapide Depaganisierung des römischen Reiches und die Majorisierung Palästinas durch das Christentum. Im babylonischen Talmut (Traktat Sanhedrin 97a) werden die Ereignisse zusammenfassend auf den Begriff gebracht: „Die Herrschaft (Malkhut) ist zur Häresie geworden (Minut).“ Zugleich wird die Stadt Rom in der talmudischen Literatur von einer bloßen Ortsbezeichnung zu einem konnotativ negativ aufgeladenen Begriff, zur heilsgeschichtlichen Konkurrentin, deren Anspruch auf das Erstgeburtsrecht abgewiesen werden muß. Dies geschieht durch die Einordnung „Roms“ in das genealogische Schema der biblischen Erzvätergeschichte, wonach die Linie des enterbten Sohnes Esau-Edom auf das Christentum zuläuft.


Die „inkarnierte Tora“

In der Reaktion auf die neue Situation im vierten Jahrhundert verwandelt sich der Terminus „Tora“ zugleich von einer Vokabel mit eindeutigem Objektbezug zum Symbol einer umfassenden Perspektive auf die Welt und einem dieser Perspektive entsprechenden Leben. „Tora“ ist - nach diesem Verständnis - nicht mehr nur ein Buch und dessen wie auch immer wichtiger und für die Juden konstitutiver Inhalt. „Tora“ wird zu einer Chiffre für alles, was das rabbinische Judentum bedeutet und was es enthält: göttliche Offenbarung und Inhalt menschlichen Tuns. „Tora“ bezeichnet auch eine bestimmte Qualität sozialer Beziehungen, „Tora“ steht für einen spezifischen rechtlichen Status und differenzierte juridische Normen. Alles was Israel in seinem Leben und seiner Geschichte ausmacht und für wichtig hält, läßt sich nunmehr in diesem Wort zusammenfassen, das in diesem Sinne auch für eine bestimmte Art von Menschen steht, eine distinkte soziale Gruppe: diejenigen, die sich mit der Überlieferung beschäftigen. Im Mittelpunkt des Interesses steht das Idealbild des Weisen. Womit er sich beschäftigt, das hat mit „Tora“ zu tun und gilt als evident – unabhängig davon, ob er Schriftworte zitiert und sich auf Biblisches stützen kann oder nicht. Daß es der Weise es ist, der ein Wort sagt, macht das Wort zu einem Wort der „Tora“. Zur Charakterisierung der jüdischen Reaktion auf die nun feindlicher werdende Umwelt spricht Neusner vom rabbinischen Weisen als „inkarnierter Tora“.

In ähnlicher Weise kehrt im Talmud nun auch die Überzeugung von der Zentralität des geschichtlichen Geschehens für das Volk Israel zurück. Worum es angesichts der neuen Situation geht, ist die Unterordnung der Juden unter den Willen Gottes, wie er in der Tora zum Ausdruck kommt. So erfüllt das Volk Israel nach dem Talmud seine Bestimmung. Es hält den Schlüssel zu seiner Erlösung selbst in der Hand, wenn es sich in sein Exilsschicksal fügt und auf jede Eigenmächtigkeit verzichtet. In der von Neusner nachgezeichneten Leidenstheologie, wie sie im 20. Jahrhundert erst vom säkularjüdischen Zionismus überwunden wurde, sind die Juden dazu bestimmt, jede Prätention aufzugeben, das Schicksal in eigene Hände zu nehmen. Im jüdischen Volk kommt zur Anschauung, so scheint der Talmud zu sagen, daß Schwäche die letzte Stärke ist. „Mit sich Geschehen-Lassen“ ist die letzte Selbstbestimmung, Freiheit heißt Gehorchen, Passion ist die ultimative Aktion. „Die Parallele“ und das historisch-theologische Gegenbild, auf das die rabbinischen Weisen antworten, so Neusner, „ist der gekreuzigte Christus“.

Die Schlußfolgerung für den amerikanischen Forscher und seine Schüler lautet, daß das rabbinische Judentum sich in seiner für Teile der Orthodoxie bis heute maßgeblichen Gestalt dem Sieg des Christentums verdankt, daß es in dieser Hinsicht zur Wirkungsgeschichte des Christentums gehört. Die kritische Auseinandersetzung mit dem so gedeuteten Erbe macht für Neusner den Reiz der neuen Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum aus. Angesichts der historischen Komplexität – an dieser Stelle konnte nicht umgekehrt auch von Beispielen jüdischen Einflusses auf das Christentum die Rede sein – mag es andererseits aber ratsam erscheinen, zur Beschreibung des Verhältnisses von Christentum und Judentum auf die gängige Familienmetaphorik lieber ganz zu verzichten.



Der Autor

MATTHIAS MORGENSTERN

Jahrgang 1959, unterrichtet seit 1999 Judaistik und Religionswissenschaft am Institutum Judaicum der Universität Tübingen.


Seminar Religionswissenschaft und Judaistik
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