Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 14

Mai 2005


COMPASS dankt dem Verlag für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

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ONLINE-EXTRA NR. 14


Das (nicht) angenommene Erbe
Über die Debatte zur deutsch-jüdischen Erinnerungskultur

JULIUS H. SCHOEPS


Im deutschen Judentum vor 1933 konnte man mit der Formel "deutsch-jüdisches Erbe" noch etwas anfangen. Die sich damals als deutsche Juden definierten, wussten es, beziehungsweise ahnten es zu mindestens, dass sie eine spezifische Identität besaßen, die sich zum einen aus der Zugehörigkeit zum Judentum ableitete, zum anderen aber stark von der Sprache und Kultur der Umgebungsgesellschaft geprägt war. Die Juden begriffen sich nicht als Juden in Deutschland sondern, was ein signifikanter Unterschied war, als deutsche Juden.


Wer im Deutschland vor 1933 sich für einen deutschen Juden hielt, hatte ganz bestimmte Vorstellungen von sich und eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was er als Zugehörigkeit verstanden wissen wollte. Ein deutscher Jude war man, um es kurz und bündig zu formulieren, wenn man sich zu seiner jüdischen Herkunft bekannte, wenn man sowohl deutsch sprach als auch deutsch dachte, und wenn man sich im Auftreten und in der äußeren Erscheinung von den Menschen der Umgebungsgesellschaft nicht wesentlich unterschied. Derjenige, der diese Bedingungen im Großen und Ganzen erfüllte, der war ein deutscher Jude.


Für die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung war die Formel vom "deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" das Ergebnis eines komplizierten innerjüdischen Findungsvorganges, der sich zunächst darum gedreht hatte, ob man von sich als einem "Juden in Deutschland" oder von einem "deutschen Juden" sprechen sollte. Mit der Schaffung des Deutschen Reiches, der Einführung des allgemeinen Stimmrechts, der Respektierung der Glaubensfreiheit und der Gleichberechtigung, setzte sich die Überzeugung durch, dass der jahrzehntelange Emanzipationsprozess zu einem endgültigem Abschluss gekommen und die Juden den Anspruch erworben hätten, wenn schon nicht als Deutsche so doch wenigstens als deutsche Bürger anerkannt zu werden.


Hätte man vor 1933 einen deutschen Juden oder eine deutsche Jüdin gefragt, wie sie für sich das deutsch-jüdische Erbe definieren würden, dann hätten sie vermutlich nur erstaunt den Kopf geschüttelt. Sie hatten kein Problem mit ihrem Selbstverständnis und zweifelten auch nicht an ihrem Deutschtum. Sie hätten sich im Gespräch auf Namen berufen wie den des Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, sie hätten die Namen der Schriftsteller Börne und Heine genannt aber auch diejenigen der Komponisten Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn Bartholdy.


Zu der deutsch-jüdischen Ahnengalerie wären allerdings nicht nur Philosophen, Schriftsteller und berühmte Komponisten hinzugerechnet worden, sondern auch Politiker wie Gabriel Riesser und Johann Jacoby, deren Bekenntnis zur Demokratie und deren Liebe zu Deutschland man als nachahmenswert empfand. Das Andenken an beide hielt man hoch in Ehren. Besonders gern zitierte man Gabriel Riessers berühmten Satz "Wir sind entweder Deutsche, oder wir sind heimatlos" und bekannte mit dem Zitieren dieses Satzes seine Zugehörigkeit zum deutschen Judentum.


I.


Nach der Erfahrung des organisierten Judenmordes sehen wir heute das deutsch-jüdische Beziehungsverhältnis in mancher Hinsicht differenzierter als frühere Generationen. Die berühmte Formel der deutsch-jüdischen Symbiose lässt sich heute nicht mehr in der Unbefangenheit benutzen, wie das vor 1933 noch geschah. Gershom Scholems Verdikt, in den sechziger Jahren formuliert, es hätte nie eine solche Symbiose gegeben, wird heute kaum noch bestritten. Nach all dem, was geschehen ist, und nach all dem, was wir heute wissen, ist es nur folgerichtig, wenn die einstige Politik der Anpassung als Irrweg der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte angesehen wird.


Das tat beispielsweise Rabbiner Leo Baeck, einer der führenden Vertreter des deutschen Vorkriegsjudentums, der wenige Monate nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt bemerkte: "Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wann immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. Unser Glaube war es, dass deutscher Geist und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei".


Die pessimistischen Prophezeiungen Leo Baecks haben sich nicht erfüllt, als sich trotz aller Warnungen und trotz aller gemachten Erfahrungen Juden im Nachkriegsdeutschland niederließen. Die es taten waren zumeist Überlebende der Lager, Remigranten und andere im Nachkriegsdeutschland Gestrandete, die anderswo weder wirtschaftlich noch kulturell hatten Fuß fassen können. Es waren Menschen, die sich selbst "Sche'erith Haplejta" ("Rest der Geretteten") nannten und nicht wussten, was aus ihnen werden würde. Sie blieben und ließen sich in Städten wie Frankfurt, München oder Berlin nieder, weil sie nicht wussten, wohin sie gehen sollten.


Das jüdische Leben im Nachkriegsdeutschland der ersten Jahre war denn auch mehr ein Leben auf Abruf. Wer sich zum Bleiben entschied, tat das häufig genug gegen besseres Wissen und Gewissen. Es kam hinzu, dass man sich in der jüdischen Welt damit zum Paria machte, zum Unberührbaren. In Palästina bzw. im neu gegründeten Staat Israel und insbesondere in den Vereinigten Staaten hat man in den 50er und 60er Jahren einen Wiederaufbau jüdischer Gemeindelebens in Deutschland vehement abgelehnt. Man konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass nach all dem, was geschehen war, Juden wieder im "Land der Mörder" eine Zukunft für sich sahen.


Was war das nun aber für ein Judentum, das im Nachkriegsdeutschland sich etablierte? War es ein Judentum, das noch in der Tradition des alten deutschen Judentums stand, also vom deutsch-jüdischen Erbe geprägt war? Oder war es ein Judentum, das überhaupt nichts mehr mit dem einstigen deutschen Judentum zu tun hatte? In den ersten Jahrzehnten nach 1945, als die Gemeinden neu gegründet oder wiederbegründet wurden, schien es zunächst nicht so, als ob das deutsche Judentum durch ein anderes Judentum abgelöst werden würde. Das kam erst später, und zwar in den frühen 70er Jahren, als sich die demographischen Faktoren signifikant veränderten und das osteuropäisches Judentum zunehmend in den Gemeinden Einfluss gewann.


Die Displaced Persons, die sogenannten DP's, und ihre Nachkommen rückten nun in die Gemeindeleitungen auf. Zumeist waren es Menschen, die aus anderen kulturellen Zusammenhängen kamen. Sie vertraten ein Judentum, das kaum noch etwas mit dem deutsch-jüdischen Leben von vor 1933 zu tun hatte. Sie hingen einem traditionell-orthodoxen Judentum osteuropäischer Prägung an und praktizierten eine entsprechende religiöse Ausrichtung, die mit der einstigen deutsch-jüdisch-liberalen Tradition wenig zu tun hatte. Das zeigte sich beispielsweise bei den Gottesdienstabläufen, die zunehmend durch osteuropäisch geprägte Liturgieformen ersetzt wurden. Die wenigen deutsche Juden, die es noch gab, fühlten sich zunehmend als Fremde in den eigenen Synagogen.


Zur Abwendung vom deutsch-jüdischen Kontext trugen allerdings auch die jüdischen Funktionäre im Nachkriegsdeutschland bei. Sie versahen ihr höchstes Leitungsgremium mit dem Namen "Zentralrat der Juden in Deutschland", womit sie die Distanz kenntlich machen wollten, die sie gegenüber dem Land hatten, in dem sie lebten. Hätten sie das Gremium "Zentralrat der deutschen Juden." genannt oder hätten sie angeknüpft an der Formel des Centralvereins (CV), dann hätte es nach 1945 "Zentralrat der Staatsbürger jüdischen Glaubens" heißen müssen, was eine stärkere programmatische Festlegung gewesen und als eine stärkere Bindung an das Nachkriegsjudentums an Deutschland verstanden worden wäre. Aber das war nicht gewollt.


Paradox ist der Sachverhalt, dass die deutsche Umgebungsgesellschaft in den Nachkriegsjahren diese Veränderungen und Brüche falsch eingeschätzt beziehungsweise überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Man tat so, als ob es sich bei den jüdischen Gesprächspartnern um Vertreter des einstigen deutschen Judentums handelte, nicht bemerkend oder nicht bemerkend wollend, dass das Nachkriegsjudentum mit dem deutschsprachigen Judentum von vor 1933 kaum mehr etwas zu tun hatte. Das musste geradezu Missverständnisse nach sich ziehen.


Was war geschehen? Was war der Grund, dass die Umgebungsgesellschaft diesen Sachverhalt so grundlegend verkannte. Zu erklären ist das vermutlich nur damit, dass man aus schlechtem Gewissen die in Deutschland nach 1945 lebenden Juden als deutsche Juden sehen wollte. Es waren Verdrängungsprozesse, hinter denen einen Reihe diffuser Schuldgefühle steckten – und möglicherweise noch stecken. Das kollektive Bewusstsein war dadurch geprägt. Das Bild, das man sich von den Juden machte, hatte zunehmend nichts mehr mit dem realen Judentum der Gegenwart zu tun. Die Bilder in den Köpfen waren Bilder einer idealisierten Vergangenheit, die in einem deutlichen Kontrast zu der Wirklichkeit der Nachkriegsjahre stand.


Das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen, das die Nachkriegsjahre prägte, war nachhaltig gestört. Politiker mieden es, wenn sie mit Juden zusammentrafen, diesen in die Augen zu sehen. Und Juden wiederum hatten Schwierigkeiten, sich mit Nichtjuden überhaupt an einen Tisch zu setzen. Bei bestimmten Ereignissen, meist Gedenkanlässen, zeigen sich diese Berührungsängste besonders deutlich. Beiden, Juden wie Nicht-Juden, fiel es schwer, eine gemeinsame Sprache zu finden. Redeten sie miteinander, dann redeten sie in der Regel aneinander vorbei.


So zum Beispiel bei den sich jährlich wiederholenden stark ritualisierten Veranstaltungen, mit denen in den Rathäusern deutscher Städte der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 gedacht wird, jener Nacht, in der in Deutschland die Synagogen in Brand gesetzt wurden. Juden wie Nichtjuden saßen und sitzen dann gemeinsam in einem Veranstaltungssaal, gedenken eines fernen Ereignisses, das für die Einen traumatisch, für die Anderen nur mehr oder weniger lästig ist. Die Juden trauern, während die Nichtjuden, die sich verpflichtet fühlen, an solchen Gedenkveranstaltungen teilzunehmen, häufig den Eindruck erwecken, als ob sie unter einem Phantomschmerz leiden.

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II.

Seit Anfang der 90er Jahre siedeln sich im vereinten Deutschland jährlich zwischen 15.000 und 20.000 sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge mit ihren Familien an. Der Mitgliederbestand der Jüdischen Gemeinden hat sich durch den Zuzug von zirka 200 000 Juden (wovon allerdings nur zirka 70 000 Mitglieder jüdischer Gemeinden geworden sind) mehr als verdreifacht, was zur Folge hat, dass die jüdische Gemeinschaft mehr als hundert Gemeinden in Deutschland zählt. Ein neues deutsches Judentum wird in Konturen am Horizont sichtbar.


Mit der 1991 getroffene Kontingent-Flüchtlingsregelung, ist ein entscheidender Schritt getan worden, um jüdischem Leben in Deutschland eine dauerhaftere Perspektive einzuräumen. Die Zeit der "gepackten Koffer", wie es lange Zeit hieß, um das Bleiben in Deutschland zu rechtfertigen, scheint endgültig vorbei zu sein. Ob die Politologin Diana Pinto allerdings mit ihrer These Recht behalten wird, dass sich mit dem russisch-jüdischen Zuzug nach Deutschland ein "jüdisches Europa in ganz neuer kultureller und historischer Dimension entwickeln" könnte, wird sich erst noch zeigen müssen.


Die jüdischen Gemeinden im vereinten Deutschland durchlaufen mit dem Zuzug russischer Juden gegenwärtig einen radikalen Umformungsprozess, der das Gemeindeleben von Berlin bis Köln, und von Hamburg bis München stark verändert. Die "Neuen" sind in den Gemeinden zahlenmäßig deutlich in der Mehrheit. Mit dem, was sie vorfinden, können sie allerdings wenig anfangen. Sie gestalten das Gemeindeleben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen, wobei sie keinen Anlass sehen, sich im Umgang mit alteingesessenen Gemeindemitgliedern allzu sehr zu arrangieren, beispielsweise in der Frage, welche Sprache in der Gemeinde gesprochen werden soll – "deutsch" oder "russisch".


Doch trotz aller Spannungen und Konflikte zwischen "Alteingesessenen" und "Neumitgliedern", die ich hier nur andeuten kann: Tatsache ist, dass das Ziel erreicht wurde, das einst als Argument bei der Verabschiedung der Kontingent-Flüchtlingsregelung als Grundlage diente, nämlich die Absicht, durch die Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten das demographische Überleben der Gemeinden in Deutschland abzusichern. Das ist mittlerweile geglückt. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist mittlerweile, prozentual gesehen, die schnellstwachsende jüdische Gemeinschaft der Welt – noch vor Israel und den Vereinigten Staaten.


Allerdings hat die zunehmende Dominanz der russisch-jüdischen Zuwanderer auch ihren Preis: Die Alteingesessenen, also die Reste des deutschen Judentums, die DP's und ihre Nachkommen sowie jene Israelis, die sich vor 1989 in Deutschland niedergelassen haben, spüren, dass etwas unwiderruflich zu Ende geht. Sie ahnen, dass die Welt des deutschsprachigen und deutsch geprägten Judentums endgültig im Verschwinden begriffen ist.


In den Gemeinden geben heute die ehemaligen Bürger der Sowjetunion zunehmend den Ton an. Sie schätzen, um den Orientierungswandel anschaulich zu machen, verständlicherweise Schriftsteller wie Dostojewski, Turgenjew und Gogol, können hingegen mit Schiller und Goethe, und schon gar nicht mit Börne und Heine etwas anfangen. Für sie sind das nichtssagende Namen.


Diese Entwicklung, man mag sie begrüßen oder bedauern, schließt nicht aus, dass künftig doch wieder so etwas wie ein neues deutsches Judentum entsteht. Welche Gestalt dieses Judentum allerdings haben wird, kann heute nicht vorausgesagt werden. Fest steht nur, dass es seine geistig-kulturellen Wurzeln nicht in Deutschland, sondern in Osteuropa haben wird. Vom deutschen Judentum vor 1933 unterscheidet es sich in wesentlichen Belangen, vor allem, was die Bindungen zu Deutschland angeht. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses sich neu formierende Judentum keinerlei Elemente eines deutsch-jüdischen Vermächtnisses integrieren kann. Wie sich das entwickelt, bleibt abzuwarten.


In diesem Kontext bleibt zu beobachten, wie sich die Mitte der 1990er Jahre gegründete "Union progressiver Juden in Deutschland", entwickeln wird, der mittlerweile rund 20 Gemeinden angehören und die starken Zulauf von russisch-jüdischen Neuzuwanderern hat. So viel lässt sich immerhin schon sagen, dass sie sich ausdrücklich zur Tradition des deutschen liberalen Vorkriegsjudentums bekennt und somit in die Tradition von Abraham Geiger und Leo Baeck steht. Ihr Einfluss ist zur Zeit noch gering, was sich aber in der Zukunft sehr schnell ändern könnte.


III.


Dadurch, dass das gegenwärtig in Deutschland sich wieder neu formierende Judentum Schwierigkeiten hat, sich des deutsch-jüdischen Erbes umfassend anzunehmen, weil es nicht mehr in der Kontinuität des einstigen deutschen Judentums steht und an vielen Orten mittlerweile "russisch geprägt" ist, hat diese Aufgabe die Umgebungsgesellschaft übernommen. Das lässt sich anhand einer Reihe aussagekräftiger Beispiele belegen.


So wissen wir um die Aktivitäten zahlreicher Städte und Gemeinden in Deutschland, in denen sich hauptsächlich Laien, um die Aufarbeitung der lokalen jüdischen Geschichte kümmern. Sie leisten zum Teil hervorragende Arbeit, bemerken aber nicht, dass sie sich ein virtuelles Judentum konstruieren. Hinter den Ausstellungen, die sie organisieren, hinter den Synagogen, die sie wieder aufbauen und hinter den jüdischen Museen, die sie gründen, steckt zumeist der Wunsch, etwas sichtbar zu machen, was nicht mehr zu sehen ist. Es sind Bemühungen, die nachvollziehbar sind, aber gleichzeitig spüren lassen, dass sie den Moment der Vergeblichkeit und des Scheiterns beinhalten.


Deutlich wird das unter anderem an der Zahl einschlägiger Buchpublikationen, die den Verlust beklagen, den Deutschland und die deutsche Kultur durch die Shoa erlitten haben. Zahlenmäßig übertreffen sie alles, was zu anderen Themen erscheint wie etwa zu der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten, zu dem Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Weltkrieg oder zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR. Keines dieser Themenfelder weckt nur ansatzweise ein vergleichbares Interesse und erzeugt schon gar nicht das Bedürfnis, sich mit ihm auseinandersetzen zu wollen.


Dass das starke Bedürfnis vorhanden ist, sich mit dem deutsch-jüdischen Erbe auch über den rein historischen Aspekt hinaus zu beschäftigen, kann nicht bestritten werden. Beispielsweise zeigt sich das an den Bemühungen einzelner Universitäten in Deutschland, Studiengänge einzurichten, die "Judaistik" oder "Jüdische Studien" heißen. Die in diesen Studiengängen eingeschriebenen Studenten sind hauptsächlich daran interessiert, zu erfahren, wie und warum das deutsch-jüdische Experiment des Zusammenlebens gescheitert ist.


Die Studenten gehen dieser Frage akribisch nach, lernen Hebräisch, Jiddisch und sogar Ladino, machen Exkursionen nach Auschwitz, absolvieren Studienjahre in Israel, fertigen Magisterarbeiten an und schreiben Dissertationen. Die Leistungen auf diesem Feld sind beachtlich und übertreffen teilweise bei weitem das, was an einschlägiger Forschungsarbeit vor 1933 an deutschen Universitäten geleistet wurde. Der Unterschied zu damals ist nur der, dass es nicht Juden, sondern in der Mehrzahl Nichtjuden sind, die sich als Dozenten und Studenten des Faches "Jüdische Studien" annehmen.


Dabei lässt sich mittlerweile das Phänomen beobachten, dass unter den Studenten der "Judaistik" beziehungsweise der "Jüdischen Studien" nicht wenige den Hang oder sagen wir besser das Bedürfnis haben, sich zum Judentum zu bekennen. Das geschieht mitunter aus religiöser Überzeugung, häufiger aber wohl aus dem Grund, dass manche sich davon versprechen, sie könnten durch ihr Bekenntnis etwas gut machen. Treten sie dann allerdings über, entwickelt sich mitunter eine Art Konvertitensyndrom, was in dem einen oder anderen Fall dazu führt, dass die Übergetretenen sich im täglichen Leben gesetzestreuer als die orthodoxesten Juden gebärden. Dies kann geradezu skurrile Züge annehmen.


Andere, ebenfalls vom Wunsch des Übertritts geleitet, wissen, dass sie trotz der Konversion nicht oder nur bedingt in der jüdischen Gesellschaft akzeptiert werden. Sie üben deshalb Zurückhaltung und optieren, so sie für sich den Übertritt vollziehen, für ein liberaleres Konzept, wobei sie dann bemüht sind, sich in liberal ausgerichteten Gemeinden zu organisieren, was wiederum zu Konflikten mit dem "Zentralrat der Juden" führt, der die liberale Ausrichtung mancher Gemeinden nicht sonderlich schätzt und eine entsprechende Abwehrhaltung entwickelt.


Will man für die Mehrzahl der Übertritte und den enormen religiösen Eifer mancher Konvertiten einen plausiblen Grund finden, so wird man ihn unter anderen in den massiv vorhandenen Schuldgefühlen und Gewissensnöten zahlreicher Nicht-Juden suchen müssen, die sich in der Rolle der Täter-Nachkommen nicht wohl fühlen und sich dieser Rolle entledigen wollen. Um das zu erreichen, geht man unterschiedlichste Wege und versucht beispielsweise, eine "jüdische" Position jenseits jeder Wirklichkeit zu entwickeln, die häufig Kopfschütteln auslöst.


Die Überidentifikation mit dem Judentum ist eine der fatalen Folgen. Der Fall des Schweizers Binjamin Wilkomirski, alias Bruno Doesseker, der eine Kindheitsgeschichte im Ghetto erfand, machte vor nicht allzu langer Zeit Schlagzeilen. Und die Journalistin Lea Rosh besetzte mit dem Berliner Holocaust-Denkmal das Gedenkthema derart, dass der fatale Eindruck erweckt wurde, als ob das Erinnern an den Massenmord und das Gedenken an die Toten nicht allein den Juden überlassen werden dürfe, sondern in erster Linie eine Angelegenheit der Nicht-Juden sei.


Dieses Phänomen, dass Nicht-Juden die "jüdische" Erinnerung okkupieren und darüber hinaus auch noch in manchen Fällen glauben, das jüdische Erbe für sich reklamieren zu können, kann, abgesehen von bestimmten Ritualen bei Gedenkveranstaltungen, auch noch mit einer Reihe weiterer Beispiele belegt werden. So wenn ein Klezmer-Judentum propagiert wird, das es in Deutschland nie gegeben hat. Oder wenn in einer Abendgesellschaft laut lärmend Witze erzählt werden, die "jüdisch" sein sollen, aber einen deutlichen antisemitischen Unterton erkennen lassen. Wird der Witzeerzähler auf die judenfeindliche Note seiner Späße angesprochen, weiß er in der Regel nicht, was er falsch gemacht haben soll.


Das Bild, das bei solchen Gelegenheiten mehr unbewusst als bewusst vermittelt wird, ist das Bild, das sich die heutige Umgebungsgesellschaft von den Juden macht. Es ist ein problematisches Bild, weil es mit der Wirklichkeit nur wenig und mit der Wirklichkeit des einstigen deutschen Judentums schon gar nichts zu tun hat.


Die nicht-jüdische Welt phantasiert sich in Ermangelung eines Bildes von lebenden Juden ein Judenbild zusammen, das irgendwo zwischen dem "fiddler on the roof", der Karikatur des jiddelnden Schnorrers und dem für die Orthodoxie stehende osteuropäischen Kaftan-Juden angesiedelt ist. "Hype um den Davidstern" (so der Titel einer Ausgabe des Stadtmagazins "Zitty" vom Sommer 1998), ist dieses Phänomen treffend formuliert worden.


IV.


Ob Reste des deutsch-jüdischen Erbes in Deutschland fortexistieren können, hängt sicher auch davon ab, ob die Deutschen in ihrer Mehrzahl bereit sind, sich dieses Erbes anzunehmen. Ludwig Börne und Heinrich Heine, um es etwas anschaulicher zu formulieren, müssen genauso wie Goethe und Schiller als dem deutschen Kulturerbe zugehörig begriffen werden. Nur dann, wenn dieses Erbe nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas Eigenes angesehen wird, besteht die theoretische Chance, dass die deutsch-jüdische Kulturtradition in Deutschland wenigstens in Ansätzen weiterleben kann.


Bei der Beurteilung dieses Sachverhaltes, kommt man zu dem Schluss, dass die Pflege des deutsch-jüdischen Erbes, ob man will oder nicht, auf den deutschsprachigen Kulturraum angewiesen bleibt. Die Annahme, dies könnte auch anderswo stattfinden, ist insofern irrig, als anderswo die Bedingungen zur Pflege dieses Erbes nicht gegeben sind. Das war zugegebenermaßen noch anders in der Zeit der Hitlerdiktatur, als zirka 240 000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland sich überall in der Welt niederließen, insbesondere in Palästina und den Vereinigten Staaten, wo sie zumindest zeitweilig an bestimmten Orten ein deutsch-jüdisches Milieu bilden konnten.


Die 50 000 "Jeckes"( so die spöttisch-verächtliche Bezeichnung für den Typus des deutschsprachigen Juden), beispielsweise, die nach Palästina einwandern konnten und dort sich eine neue Heimat aufbauten, haben das mitgebrachte kulturelle Erbe in Salons, Konzertsälen, Zeitungen und Vortragsveranstaltungen liebevoll gepflegt. Sie taten es, und tun es heute noch, und zwar so gut sie können, häufig nicht wissend, dass die Kultur, in der sie aufgewachsen sind, und die sie mitgebracht haben, eine sterbende Kultur ist. Sie halten dennoch an dieser Kultur fest, weil sie nicht anders können und weil sie auf diesem Erbe als Teil ihrer Identität bestehen.


Nicht viel anders sah es in den Vereinigten Staaten aus, wo der Anpassungsprozess der aus Deutschland stammenden Juden an die Umgebungsgesellschaft sehr viel un-problematischer verlief als in Palästina beziehungsweise später in Israel. Die deutsche Herkunft spielte hier nur noch eine periphere Rolle, denn der US-amerikanische Pass, den man nach einiger Zeit erhielt, führte dazu, dass man sich in erster Linie als amerikanischer Staatsbürger verstand, nicht als Exilant oder Einwanderer. Die Folge war, dass die Erinnerungen an Deutschland und die Herkunft aus dem deutsche Judentum zusehends verblassten.


Was heute noch in den Vereinigten Staaten vom deutsch-jüdischen Kulturerbe fortlebt, ist das einst in Deutschland entstandene liberale Judentum. Mit ihm werden nicht nur Namen wie Abraham Geiger und Leopold Zunz verbunden sondern auch die Synagogalmusik eines Louis Lewandowski oder ein bestimmter Architekturstil. Dieses angenommene Erbe ist heute Bestandteil der amerikanisch-jüdischen Kultur der Gegenwart geworden.


In diesem Zusammenhang kommt man nicht umhin, auf die Aktivitäten der einst von Leo Baeck mitbegründeten "World Union for progessive Judaism" hinzuweisen, die weltweit mehr als zwei Millionen Juden vertritt. Sie hat ihren eigenen Ausdrucksformen entwickelt so zum Beispiel in den Gottesdiensten oder bei der Rabbinerausbildung. Bei der Letzteren muß man sich nur die Rabbinerausbildungsstätten in Cincinnati (Hebrew Union College) und New York (Theological Seminary) ansehen, die inzwischen Berlin und Breslau als Orte jüdischer Gelehrsamkeit abgelöst haben. Heute wissen allenfalls noch einige Fachleute, dass die "Wissenschaft vom Judentum" im Deutschland des 19. Jahrhunderts in Berlin und im schlesischen Breslau entstand und zu ihrer Zeit Weltruf genossen hat.


Das deutsche Judentum ist mit der Hitler-Diktatur so gut wie vollständig ausgelöscht worden - und das, was wir deutsch-jüdisches Erbe nennen, kämpft seither mit dem Stigma der Heimatlosigkeit. Die Überlebenden, diejenigen, die aus Hitler-Deutschland noch flüchten konnten, haben sehr unter dieser Entwicklung gelitten und sich gegen den Verlust ihrer Identität gestemmt. Sie kämpften um den Erhalt dieser Identität, ahnend, dass es ein sinnloser Kampf sein würde, da die Heimat, zu der sie sich einst bekannten hatten, nicht mehr existierte.



"Ihr habt uns beschimpft und bespieen,
Verfolgt mit wildem Haß,
Erniedrigt wie die Hunde
Ihr Tröpfe! Was macht uns das!
Beschmutzt habt ihr Euch selber,
Wir blieben fleckenlos rein,
Und werden auch in Zukunft
Die besseren Deutschen sein"




(Aus: Aufbau. Das Jüdische Monatsmagazin, Nr. 6/2005, S. 10-13)


Der Autor

JULIUS H. SCHOEPS


ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ).