Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 40

November 2006

Auf Einladung von Landesbischöfin Margot Käßmann hielt Rabbiner Walter Homolka am diesjährigen Reformationstag (31.10.2006) in der Stiftskirche zu Wunstorf bei Hannover die nachfolgend wiedergegebene Predigt. 

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 40


Predigt zum Reformationstag 2006

RABBINER WALTER HOMOLKA



Als Martin Luther 1523 seine Schrift  "Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei" herausbringt,  war das für jüdische Leser zunächst eine gute Nachricht. Hier kommt jemand und verweist auf den Ursprung des Christentums im Judentum und bietet sogar Anknüpfungspunkte für größeres Verständnis.

Es ist die enttäuschte missionarische Tendenz, die Luther schließlich zu einem Feind des Judentums werden lässt. Aus der Feder des alternden Reformator entstehen stark polemische Schriften wie "Von den Juden und ihren Lügen", und Luther ruft sogar zum Niederbrennen von Synagogen auf. Jahrhunderte lang boten Luthers Ausfälle gegen Juden willkommene Argumentationshilfen für Antisemiten, bis in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Am Reformationstag haben Sie nun einen Juden, einen Rabbiner eingeladen, zu predigen. Das zeigt, dass sich das Verhältnis zwischen Protestantismus und Judentum in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Jüdischerseits ist dafür eine bedeutende Person besonders hervorzuheben, die unseren Beziehungen trotz vielerlei Kritik letztlich gut getan hat.

Am 2. November erinnern sich Juden in aller Welt an den 50. Todestag Rabbiner Leo Baecks. 1873 in Lezno (heute: Polen) geboren, wurde Baeck bekannt durch seine geistige Auseinandersetzung mit Adolf von Harnacks „Wesen des Christentums“. Nach Rabbinaten in Oppeln und Düsseldorf wird Baeck Rabbiner in Berlin und Präsident der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Er wird nach Theresienstadt deportiert und überlebt den Terror der Nazis. Seine Erfahrungen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich spiegeln sich in seinem Urteil über den Protestantismus wider. Er ist einer der großen Wegbereiter des Dialogs zwischen Judentum und Christentum, mit über 30 Schriften zu diesem Thema. Fünf seiner bedeutendsten Werke hierzu erscheinen im Dritten Reich.

Leo Baeck hat aus jüdischer Sicht dem Protestantismus mächtig den Spiegel vorgehalten. Vor allem am Luthertum übte Baeck herbe Kritik. Die "Zwei-Reiche-Lehre", die das Leben in einen politisch-gesellschaftlichen und einen religiösen Bereich aufzuteilen scheint, taucht bei ihm in ihrer extremsten Verschärfung auf. 1926 schreibt Leo Baeck an Rabbiner Caesar Seligmann: „Es ist ein geistiges und moralisches Unglück Deutschlands, daß … man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat. Anstatt an Gott zu glauben, glauben sie – lutherische Pfarrer voran – an das Deutschtum.“1

Durch den kirchlich geprägten Staat und die Staatskirche, wo der höchste Würdenträger des Staates zu gleicher Zeit höchster Bischof der protestantischen Kirche war, hatte das Luthertum entscheidenden Einfluss in Preußen gewonnen und verkörperte die konservative, man ist fast versucht zu sagen, die „destruktive“ Macht in der Gesellschaft. Durch seine Bindung an den Staat habe es das Luthertum versäumt, zum Träger einer universalen Botschaft zu werden. Es hat die Chance, Weltreligion zu sein, nicht wahrgenommen.

Der Gedanke vom Gottesreich wurde dem des konfessionellen Staates untergeordnet. Für Baeck dagegen sind die Sphären der „zwei Reiche“ aus jüdischer Sicht nicht gegenläufig aufeinander bezogen, sondern unauflöslich miteinander verbunden, denn „das eine Reich soll das andere durchdringen, beeinflussen und bestimmen“.2  Die höhere Sphäre greift in der Gestalt des Gebotes fortwährend in die niedrigere ein und zieht die Menschen zu sich. Diese Welt soll geheiligt und so selbst zum Reich Gottes werden. Die absolute Unabhängigkeit der Religion vom Staat ist dabei für Baeck von höchster Bedeutung. Die lutherische Reformation aber habe die Religion an den Staat ausgeliefert.


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WALTER HOMOLKA


          





Baeck gewahrte hier Tendenzen, die für den autoritären Staat wegbereitend waren und die schweigende Billigung des Nationalsozialismus durch die Mehrheit der Bürger förderten. In einem Polizeistaat, der keinerlei Raum mehr für die persönliche Entscheidung lässt, sah er den direkten Abkömmling des Luthertums. Der nationalsozialistische Staat war ihm somit die logische Konsequenz einer fehlgeleiteten theologischen Evolution. Mit der Vereinnahmung der Kirche durch den Staat fand ein als Protest sich artikulierender Anfang ein recht un-protestantisches Ende.

Nach Baecks Überzeugung mangelt es den reformatorischen Einsichten zu Glaube und Gnade auch an Dynamik und an der Ungeduld, Gottes Reich aktiv im Hier und Jetzt aufrichten zu wollen. Er sah in der reformatorischen Lehre ein Übergewicht der Passivität und die Verteidigung eines starren, auf sich selbst beschränkten Erlösungsglauben. Wer „wie ein Gelähmter“ auf das Heil und den Glauben harren muß, dessen Glaube ist nach Baeck nicht Ausdruck errungener Überzeugung und denkend und forschend erarbeiteter Gewißheit. Vielmehr muss sich die Erkenntnis dem Glauben unterstellen.

Von entscheidender Bedeutung ist hier die Beurteilung des Gesetzes. „Wer das Gute von der Erfüllung der Gebote und Pflichten erwartet, der lebt unter dem Joch des Gesetzes.“3 oder, wie Luther es formuliert, er „besudelt sich am Gesetz“. Für Baeck liegt darin eine Abkehr von der sittlichen Freiheit, die das Gute, indem es durch den Einzelnen verwirklicht wird, für ihn möglich macht.

In der Gewissheit der Erlösung scheint Luther zugleich allem menschlichen Bemühen jeden Wert abzusprechen und das Heil einzig und allein von der Gnade und vom Glauben abhängig zu machen. Die Erlösung allein aus Glauben wird nicht „erarbeitet“, sondern empfangen, und zwar nach einem von Anfang an vorherbestimmten göttlichen Plan.4 Im Glauben kommt das „Wort“ über den Menschen und bringt ihn ganz ohne sein Zutun dazu, es anzunehmen. Durch „Wort“ und Sakrament wird der Mensch ergriffen und in den Stand der Erlösung versetzt. Er fragt nun nicht mehr nach dem, was er tun muss, sondern allenfalls danach, ob ihm die Erlösung bereits geschenkt wurde.

Für das sittliche Handeln des Menschen und die Pflicht zur Gestaltung der Welt bleibt, nach Baecks Befund, in diesem Modell kein Raum.5
Diese pessimistische Sicht des Menschen – eingepfercht zwischen Staat und Kirche – ist in den Augen Baecks einer der schwerwiegendsten Irrtümer der lutherischen Theologie. Wenn der Messias bereits gekommen und das Heil den Menschen bereits zugesagt sei, dann verliere jede Zukunftshoffnung weitgehend ihren Sinn, und der Drang zur Weltgestaltung und Verbesserung müsse ins Leere stoßen.

Baeck geht so intensiv auf Luthers Lehre ein, weil sie ihm gewissermaßen der ideale Gegenpart zu seinen jüdischen Überzeugungen zu sein scheint, der Gegenpol, an dem er exemplarisch die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum festmachen kann.

Baeck urteilt: Beide, Jude wie Christ, leben aus der Gnade, sei es nun aus der Gnade Gottes und seiner Weisung oder aus der Gnade Christi.6 Der Konflikt zwischen beiden Positionen bricht erst an der Frage auf, ob der Mensch in der Lage ist, sich durch sein Tun vor Gott zu rechtfertigen. Baeck wie Luther beantworten die Frage in dezidierter Weise: Während Luther sie verneint, bejaht Baeck sie aus der pharisäischen Tradition heraus vehement.

Für Baeck ist das Ziel des Lebens Gerechtigkeit vor Gott, die durch Werke und Leistungen, durch Pflichterfüllung und das Ringen um das Gebot erlangt wird. Die Religion soll nicht ein gutes Gewissen schenken, sondern das Gewissen in einen ständigen Zustand der Unruhe und Herausforderung versetzen. Nur dann ist sie wahrhaft Religion. Sie muss fähig sein und entschlossen, jeder geschöpflichen Macht Widerstand anzusagen und zu leisten, wenn es gilt, das Ewige zu verteidigen.7

In der Zwei-Reiche-Lehre und in der Lehre vom gebundenen Willen des Menschen sind sich Judentum und Protestantismus besonders ferne.
Andererseits gehörte Baeck zu jenen jüdischen Intellektuellen, die mit großem Enthusiasmus darum kämpften, Jesus als Juden wahrzunehmen. Im Jahr 1938, auf dem Höhepunkt des Nationalsozialismus, veröffentlichte er sein Buch "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte". Er weist darin nach, dass Jesus sein ganzes Leben lang ein strenggläubiger Jude blieb, dem es niemals in den Sinn gekommen wäre, eine neue Religion zu begründen: "Einen Mann sehen wir ... vor uns, der in allen den Linien und Zeichen seines Wesens das jüdische Gepräge aufzeigt, in ihnen so eigen und so klar das Reine und Gute des Judentums offenbart, einen Mann, der als der, welcher er war, nur aus dem Boden des Judentums hervorwachsen konnte und nur aus diesem Boden hervor seine Schüler und Anhänger, so wie sie waren, erwerben konnte, einen Mann, der hier allein, in diesem jüdischen Bereiche ... durch sein Leben und in seinen Tod gehen konnte - ein Jude unter Juden."8

Es ist nicht zu übersehen, dass Baeck – im Kontext der Weimarer Republik und des Holocaust – ernstzunehmende Anfragen an die evangelischen Kirchen gestellt hat. Warum es ihnen nicht gelungen ist, Menschen zu erziehen, denen das Leben anderer Menschen und die ethischen Forderungen Gottes höchstes Gut ist. Leo Baeck hat erst in Amerika seine Haltung zum Protestantismus verändert: unter dem Eindruck des Engagements evangelischer Kirchen für die Gleichberechtigung Schwarzer und für die Linderung gesellschaftlicher Not. Auch die Bekennende Kirche und Ihr mutiger Widerstand hat ihn versöhnt. Doch die Forderung des Judentums bleibt: Gott will Menschen, die Sein Gebot hören und Sein Reich aufrichten: jetzt.

So eigenartig es klingen mag: Baecks Kritik war die Voraussetzung für einen Dialog heute. Denn nur wer sich selbst kennt und sich seiner Identität sicher ist, kann auf den Anderen zugehen und mit ihm ins Gespräch kommen. Dabei hat Leo Baeck große Unterschiede zwischen Judentum und Christentum herausgearbeitet: im Verständnis der biblischen Texte, die uns eben nur scheinbar gemeinsam sind, in der Auffassung vom Menschen und seinen Möglichkeiten, in der Sicht der Beziehung Gottes mit den Menschen. Diese erheblichen Unterschiede sollten uns nicht entmutigen, sondern gerade neugierig aufeinander machen.



ANMERKUNGEN



1   Leo Baeck Werke, Band 6, S. 205.

2   Baeck, Epochen der jüdischen Geschichte. Stuttgart 1974, S. 119ff. Vgl. insbesondere Luthers Vorstellung von der „Königsherrschaft Christi“: Ernst Wolf: Die Königsherrschaft Christi und der Staat, in: Werner Schmauch / Ernst Wolf: Königsherrschaft Christi. Der Christ im Staat. München 1958, S. 20–61.

3   Ebd., S. 100.

4   Leo Baeck Werke. Bd. 4, S. 69, vgl. auch 85; WA 24, 18: „Denn ein solch mensch mus allen dingen gestorben seyn, dem guten und bösen, dem tod und leben, der hell und dem hymel und von hertzen bekennen, das er aus eygnen krefften nichts vermag.“; Die Deutsche Bibel 7, 23 (1906): „Zu Röm 9–11 „leret er von der ewigen Versehung Gottes, Daher es ursprunglich fleusset, wer gleuben, oder nicht gleuben sol, von suenden los oder nicht los werden kann. Damit es je gar aus unsern henden genomen, und alleine in Gottes hand gestellt sey, das wir frum werden.“

5   Leo Baeck Werke. Bd. 3, S. 287.

6   Robert Brunner (Hrsg.): Gesetz und Gnade im Alten Testament und im jüdischen Denken. Zürich 1969, S. 78.

  Ebd., S. 217.

8   Leo Baeck Werke, Band 4, S. 446.


Der Autor

WALTER HOMOLKA

Rabbiner Dr. Walter Homolka (Jg. 1964) studierte u.a. am Leo Baeck College und King's College in London. Seit 2002 ist er Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam, des ersten Rabbinerseminars in Deutschland seit dem Holocaust.

Er ist zudem Vorstandsmitglied der World Union for Progressive Judaism Jerusalem, Chairman der Leo Baeck Foundation sowie Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

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Walter Homolka