ONLINE-EXTRA Nr. 370
Gotthold Ephraim Lessings 1779 veröffentlichte Stück "Nathan der Weise" steht wie kaum ein anderes Werk seiner Zeit für den Geist der Aufklärung und dessen Humanitäts- und Toleranzgedanken. Seitdem gesellt sich dem biblische Abraham nun der aufklärerische Nathan an die Seite, sind doch beide zum Sinnbild des religiösen und gesellschaftlichen Miteinanders von Juden, Christen und Muslimen geworden. In der Figur Nathan der Weise setzte Lessing zudem seinem Freund Moses Mendelssohn, dem Begründer der jüdischen Aufklärung, ein literarisches Denkmal. © 2025 Copyright bei der Autorin
Neben der vorbildhaften Figur des Nathan gilt insbesondere die Parabel von den drei Ringen nicht nur als ein Schlüsseltext des Stückes, sondern der Aufklärung schlechthin und wird bis heute als pointierte Formulierung der Toleranzidee verstanden, deren Kernbotschaft darin besteht, dass Gott die Menschen gleichermaßen liebe, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Alle Menschen - Juden, Christen wie auch Muslime - sind seine Kinder.
Hat uns diese fast möchte man sagen "idealistische" Idee und Botschaft noch etwas zu sagen? Welchen Deutungshorizont eröffnet die Parabel von den drei Ringen angesichts der aktuellen Erfahrungen von Gewalt und deren religiösen Begründungen? Wie ist es um die Wirkkraft der Botschaft von Toleranz und Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen bestellt vor dem Hintergrund etwa des Massakers der Hamas in Israel, dem verheerenden Gaza-Krieg oder aber auch dem explodierenden Antisemitismus oder den zunehemend intoleranten, autokratischen und anti-liberalen Tendenzen in den westlichen Demokratien?
U.a. diesen Fragen stellte sich der Theologe Klaus-Dieter Kaiser in einem Vortrag, den er am 10. Juli 2025 vor Mitgliedern und Freundinnen und Freunden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Mecklenburg-Vorpommern e.V. hielt. Dabei rekapituliert er zunächst die Ideengeschichte der Ringparabel und deren theologischen Motive, um sich dann der Frage nach der Aktualität von Lessings Ringparabel zu widmen, deren Beantwortung seines Erachtens "nur unter Einbeziehung der Shoah" sowie der "aktuelle(n) Situation in Israel und von Jüdinnen und Juden weltweit" gegeben werden kann. Kaisers anregender Vortrag, die zudem auch auf die äußerst interessante Erstaufführung des Stückes nach dem Zweiten Weltkrieg am 10. Juli 1945 in Dresden eingeht, ist nachfolgend in einer leicht gekürzten Fassung als ONLINE-EXTRA Nr. 370 zu lesen: "Lessings Ringparabel zwischen Solidarität und Toleranz sowie zwischen Beliebigkeit und Bildung".
(und für die Übersetzung beim Übersetzer)
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 370
1. Einführung
Dieser Vortrag widmet sich den Chancen und Gefährdungen der Wirkungsgeschichte des Stückes NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing. Welchen Deutungshorizont bietet das Märchen von den drei Ringen für Toleranz und Solidarität angesichts der aktuellen Erfahrungen von Gewalt und deren religiösen Begründungen bzw. Bezügen?
In folgenden Schritten möchte ich dies nun tun: Zunächst werde ich uns das Theaterstück NATHAN DER WEISE mit der Ringparabel in der Mitte noch einmal ins Gedächtnis rufen (2.). Dann soll die Ideengeschichte der Ringparabel und die mit ihr verbundenen Motive in theologischer und historischer Perspektive angedeutet werden, um das Spezifische der Lessingschen Version im Kontext seiner theologischen Debatten und Schriften herauszustellen (3.). Wenn nach der Aktualität von Lessings Ringparabel gefragt wird, kann dies nur unter Einbeziehung der Shoah geschehen und auch die aktuelle Situation in Israel und von Jüdinnen und Juden weltweit gilt es zu beachten. (4.). Im Anschluss geht es um die Aufführung am 10. Juli 1945 in Dresden (5.). Ein Fazit (6.) und eine kurze Schlussbetrachtung (7.) beenden dann meinen Vortrag.
2. NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing und die Parabel von den drei Ringen
Gotthold Ephraim Lessing wurde 1792 in Kamenz geboren. Der Dichter, Essayist und Verfasser von theologischen Streitschriften war der neuzeitlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts verpflichte. In das damalige Ringen um die Herausforderungen einer universalen Menschenwürde, der Verbundenheit der Menschen in partikulare (auch religiöse) Traditionen und dem Ringen um eine tragfähige selbstbewusste Emanzipation in der Gesellschaft mischte er sich mit seinen Veröffentlichungen immer wieder ein. Er starb 1781 in Braunschweig. Sein Vater war ein lutherischer Theologe, ein Vertreter der die Kirche und Theologie damals noch dominierenden lutherischen Orthodoxie. In seinem literarischen Schaffen setzte sich Lessing mit dieser Theologie kritisch auseinander.
Zugleich hatte er einen wachen Blick auf das Judentum seiner Zeit. Sein Lustspiel DIE JUDEN aus dem Jahr 1749 ist ein Beispiel dafür. Und natürlich viel später der NATHAN. Bei aller Sympathie für jüdische Menschen bleibt auch der Aufklärer Lessing manchem Vorurteil seiner Zeit verhaftet. So wenn er im Blick auf sein Bildungsideal zwischen „den vielen verdächtigen Kleinhändlern und den gebildetvornehmen ‚edlen‘ Juden, die in den 1750er Jahren angeblich so ungewöhnlich waren“1, unterscheidet. Mit diesen Worten beschreibt der Germanist Daniel Wilson Lessings ambivalente Haltung. Da war Lessing seinem Zeitgenossen Goethe nicht unähnlich.
Für Lessing waren zum einen die Fragen nach dem Wahrheitsgehalt in den großen Schriftreligionen wichtig. Im Unterschied zur lutherischen Orthodoxie lehnte er ein biblizistisches Schriftverständnis der Offenbarungsreligionen, hier des Christentums, ab. So gehörte er zu den Vorläufern einer historisch-kritischen Exegese religiöser, aber eben zeitgeschichtlich gebundener Texte der Bibel. Zum anderen waren es die Fragen der rechtlichen Emanzipation fremder Religionen in einer aufgeklärten Gesellschaft und einem Staat, der auf Recht gegründet ist, die ihn beschäftigten. Neben dem Judentum betraf das auch des Islam. Integration als Anpassung an das aufgeklärte Denken war für ihn die notwendige Kehrseite der Emanzipation. Es war die Suche nach Möglichkeiten, um einen Universalismus in einer Welt der Vielfalt zu leben. Dazu mussten neben der rechtlichen Sicherheit auch Räume des Gesprächs geschaffen werden. Beide Aspekte im Umgang mit dem Judentum, die Wahrheitsfrage und das konkrete soziale Zusammenleben mit seinen jüdischen Freunden, verbanden sich für Lessing in der Forderung nach der Bildung des Menschen als der großen Aufgabe seiner Zeit.
Sein „Dramatisches Gedicht“, wie Lessing NATHAN DER WEISE nennt, ist ein Spätwerk von ihm aus dem Jahr 1779.
Lessing lässt es in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge spielen. Mit dieser Entscheidung des Ortes und der Zeit wird nicht nur auf die drei monotheistischen Offenbarungsreligionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, Bezug genommen. Denn für die drei Religionen ist der Ort Jerusalem mit einer großen und entscheidenden Bedeutung aufgeladen – bis heute! Es ist zugleich auch ein Ort der Gewalt – und das nicht nur in der Zeit der Kreuzzüge. Dabei, und dies ist für Lessing und die Rezeption seines Dramas wichtig, ist Jerusalem auch in der Zeit der Kreuzzüge dennoch ein bedeutsamer Begegnungsort und so auch Gesprächsraum für Vertreter der drei Religionen im maßgeblichen orientalischlateinischen Kontext. In ihrer bahnbrechenden Studie über die Ring-Metaphorik als Teil der Erzählkultur schreibt die Historikerin Dorothea Weltecke 2024: „Parabeln mit Angehörigen unterschiedlichen Glaubens verraten etwas darüber, wie mittelalterliche Menschen selbst mit der Tatsache umgingen, dass es so viele widerstreitende Lehren gab. Da sie über die Grenzen der Glaubenstraditionen hinweg überliefert und in ähnlichen Funktionen und Kontexten gebraucht wurden, sind sie zugleich ein schlagender Beleg für die tiefe Verflechtung der historischen Kulturen. Die Parabeln thematisieren die Rivalität von Wahrheitsansprüchen und unterlaufen sie zugleich.“2 Lessing nimmt diese Balance von Konkurrenz und Verbindendem in seinem Stück durch die historische Verortung jenseits allen universellem Anspruch auf und hebt sie auf eine erzählerische Ebene.
Die Handlung des Dramas selbst spielt während des dritten Kreuzzuges (1189 – 1192) in der Zeit einer Waffenruhe in Jerusalem, die zwischen Saladin, dem muslimischen Herrscher in Jerusalems, und Richard Löwenherz, dem christlichen Eroberer, 1192 (Vertrag von Jaffa) geschlossen wurde. Gespräche zwischen den Gegnern sind also auch in Zeiten des gewaltsamen Konfliktes möglich. Im Blick auf Lessings Ringparabel schreibt Weltecke gleich zu Anfang ihres Buches: das Anerkennen, „dass wir die Ringe [das Erbe des Vaters/KDK] nicht unterscheiden können, ist bei Lessing Ausdruck einer aufgeklärten Vision vom Frieden der Religionen. Der weise Nathan wurde später ein Mythos der deutschen Nachkriegskultur.“3
Nun kurz zur Handlung des Theaterstücks4, die von Repräsentanten der drei Religionen geprägt ist. Dabei sind in Lessings Drama die handelnden Figuren zugleich Verwandte. Der Kampf um die wahre Religion wird als Familiengeschichte inszeniert. Religiöse Zuschreibungen sind deshalb nicht immer eindeutig möglich (Assad und Recha).
Nathan, der weise Jude, hat eine Pflegetochter namens Recha. Diese wurde von einem jungen Ordensritter, also einem Christen, aus dem Feuer eines brennenden Hauses gerettet. Dieser Tempelherr verdankt sein Leben Sultan Saladin, dem muslimischen Herrscher in Jerusalem. Dieser hatte ihn, den gefangenen christlichen Feldherrn, begnadigt, weil er seinem Bruder Assad ähnlich sehe. Trotz dieser glücklichen Umstände sieht der rational denkende Nathan dahinter kein Wunder. Es ist einfach Glück.
Saladin hat Geldsorgen und bittet den reichen Juden Nathan um einen Kredit. Zuvor will er die in Jerusalem bekannte Großzügigkeit Nathans auf die Probe stellen und fragt diesen nach der wahren Religion.
Dem schließt sich das Märchen von den drei Ringen (Dritter Aufzug, vierter bis siebenter Aufzug) an, das Nathan erzählt, um weder den muslimischen Glauben des Herrschers zu beleidigen noch seine eigene Religion zu verraten. Die „Ringparabel“5 ist zunächst auf der Handlungsebene des Dramas ein Nothelfer in einer bedrängten Situation. Nathan entzieht sich so einer klaren Antwort und lässt alle Optionen offen. Es ist die List des Bedrängten. Beide, Nathan und Saladin, werden Freunde und Nathan gewährt das Darlehen.
Im weiteren Verlauf – die Ringparabel steht genau in der Mitte des Theaterstücks – verliebt sich der Tempelherr in Recha. Einer Heirat aber widersetzt sich Nathan. Der Tempelherr, darüber enttäuscht, erfährt von Rechas Gesellschafterin Daja, einer Christin, dass Recha nicht Nathans leibliche Tochter, sondern von ihm als solche adoptiert worden ist. Ihr leiblichen Eltern waren Christen. Der Patriarch von Jerusalem erfährt davon und will „diesen Juden“ sofort suchen und wegen Verleitung zur Apostasie (zum Glaubensabfall) auf den Scheiterhaufen bringen lassen. Obwohl Nathan seine Adoptivtochter nicht jüdisch sondern im Gegenteil in keinem Glauben erzogen hat. Dies kommt für den Patriarchen nicht mildernd, sondern erschwerend hinzu: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt; ja, wär allein / Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt / zu werden.! – Was? ein Kind ohn allen Glauben/ Erwachsen werden lassen? – Wie? die große Pflicht, / Zu glauben ganz und gar ein Kind nicht zu lehren?“6 Für den Patriarchen als dem Lehrer und Wächter der reinen Lehre kann es keinen religionsfreien Raum geben. Dagegen wendet sich die Ringparabel von Lessing mit seinem Ideal der Menschwerdung des Menschen allein durch Bildung.
Durch Aufzeichnungen des Klosterbruders, der Recha einst als Kleinkind zu Nathan brachte, stellt sich schließlich heraus, dass die von einem Juden erzogene Recha und der christliche Tempelherr nicht nur Geschwister – daher Nathans Vorbehalte gegen eine Heirat –, sondern auch die Kinder von Saladins Bruder Assad sind, wodurch die enge „Verwandtschaft“ der jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsfamilie nochmals auf der individuellen Ebene an den Lebensgeschichten der drei verdeutlicht wird.
„Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.“7 Mit diesem Satz in Lessings Drama, einer Regieanweisung, endet das Stück. Dieses Motiv des Schweigens und der körperlichen Nähe ist für das Drama entscheidend. Im Dialog der Religionen ist letztlich keine Klärung möglich. „Nathans konkreter Triumph aber sind wechselseitige stumme Umarmungen. Nicht mehr. Nicht weniger.“8, schreibt die Germanistin Angelika Overath über Lessings NATHAN. Nun zur Parabel oder zum Märchen von den drei Ringen als Mittelpunkt des dramatischen Gedichts. Nathan, um sich der Fangfrage Saladins zu entziehen, erzählt folgende Geschichte.
Ein Mann besitzt ein wertvolles Familienerbstück, einen Ring, der die Eigenschaft hat, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm“9 zu machen, wenn der Besitzer ihn „in dieser Zuversicht“10 trägt. Es kommt also auf die Haltung des jeweiligen Trägers, des jeweiligen Sohnes an. Er muss daran glauben. Dieser Ring wurde über viele Generationen vom Vater an jenen Sohn vererbt, den er am meisten liebte. Doch eines Tages tritt der Fall ein, dass ein Vater drei Söhne hat und keinen von ihnen bevorzugen will. Deshalb lässt er sich von einem Künstler exakte Duplikate des Ringes herstellen, vererbt jedem seiner Söhne einen der Ringe und versichert jedem, sein Ring sei der echte.
Gleichheit verlangt also nach Täuschung – und an diese Täuschung, dieses „als ob“ muss der Mensch glauben. Wenn aber nicht? Nach dem Tode des Vaters ziehen nun die drei Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher von den drei Ringen der echte sei. Konkurrenz statt Sie wollen unbedingt Gewissheit, statt zu vertrauen: auf die Worte des Vaters, die Tradition des Ringes und auf ihr eigenes Verhalten. Der Richter aber ist außerstande, dies zu ermitteln. So erinnert er die drei Männer daran, dass der echte Ring die Eigenschaft habe, den Träger bei allen anderen Menschen beliebt zu machen; wenn aber dieser Effekt bei keinem der drei eingetreten sei, dann könne das wohl nur heißen, dass der echte Ring verloren gegangen sei. Die Entscheidung wird an die Träger der Ringe zurückgegeben: Es liegt allein in ihrer Verantwortung. Oder an ihrem Glauben. Der Täuschung durch den Vater, dem Anfertigen der zwei Duplikate (vielleicht sind auch alle drei Ringe nur Duplikate?) entspricht die Ent-Täuschung, die die Söhne sich mit ihrer falschen Frage und Erwartung durch den Richter (eine zweite Vaterfigur) einhandeln. Denn der Richter gibt den Söhnen den Rat, jeder von ihnen solle daran glauben, dass sein Ring der echte sei. Ihr Vater habe alle drei gleich gern gehabt und es deshalb nicht ertragen können, einen von ihnen zu begünstigen und die beiden anderen zu kränken, so wie es die Tradition eigentlich erfordert hätte. Wenn einer der Ringe der echte sei, dann werde sich dies in der Zukunft an der ihm nachgesagten Wirkung zeigen. Jeder Ringträger solle sich also bemühen, diese Wirkung für sich herbeizuführen. Es bleibt die Herausforderung, ja vielleicht gar der Zwang, das Gute zu tun. Um Gottes (des Vaters) Willen, zum Wohl der Mitmenschen und nicht zuletzt zum eigenen Wohl.
3. Motive der Ringparabel
Die Ursprünge dieser gleichnishaften Erzählung gehen ideengeschichtlich bis in die Antike und die ägyptische Mythologie zurück. Im Kontext der Pestepidemie hat Giovanni Boccaccio in seinem DEKAMERON Mitte des 14. Jahrhunderts die Geschichte des Vaters und der drei Söhne und der Ringe erzählt und so ist sie Teil der Weltliteratur geworden. Für Lessing ist diese Version von Boccaccio die Vorlage für sein dramatisches Gedicht. An einer entscheidenden Stelle aber verändert Lessing den Text. Der Ring hat bei Lessing nun auch die – religiöse? – Kraft, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“11. Es ist eine humanistische Umdeutung der Tradition der Ring-Metaphorik. Gott, Mensch und Welt werden so zusammengedacht. Religion bekommt eine ethische Dimension.
Mit dieser Pointe wird erstens die theologische Dimension in den Debatten der Aufklärung zwischen Offenbarungsbiblizismus und historischer Wissenschaft geklärt. Lessing hatte sich vor allem mit dem Hamburger Hauptpastor Johann- Melchior Goeze (1717 – 1786), einem radikalen Vertreter der lutherischen Orthodoxie und so ein Gegner der Aufklärung, intensiv auseinandergesetzt. Lessing wurde im Zusammenhang dieses in Streitschriften ausgetragenen Konfliktes sogar verboten, sich weiter theologisch zu äußern. So wich er auf andere literarische Formen aus, wie eben den NATHAN. Der Patriarch im Drama trägt deshalb auch die Züge von Hauptpastor Goeze. In einem Brief an seinen Bruder schreibt Lessing am 7. November 1778, dass er den Stoff für den NATHAN herausgesucht habe, weil ihm einfiel „dem Feinde damit auf einer anderen Seite in die Flanke fallen zu können.“12 Für Lessing gilt es festzuhalten: „Die Wahrheit der Religion ist weder historisch noch theologisch zu erweisen, sondern nur praktisch bzw. „performativ“. Die Wahrheit einer Religion erweist sich in ihren Wirkungen und nicht in ihren Dogmen.“13 So formuliert es der Ägyptologe Jan Assmann in seiner Ringparabelinterpretation.
Diese Polemik ist die eine Facette von Lessings Ringparabel. Die zweite Facette ist seine Überzeugung – als Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – , durch Bildung den Menschen zum Besseren zu erziehen. Lessings religionsphilosophisches Hauptwerk über DIE ERZIEHUNG DES MENSCHENGESCHLECHTS (1780) bietet dafür den argumentativen und theoretischen Bezugspunkt. Der Mensch ist offen für solche Bildungsprozesse und offen für eine Umkehr bei schuldhaften Verhalten.
Zum Humanismus der Aufklärung gehören bei Lessing also der Streit, die harte Kontroverse und damit auch die parteiische Solidarisierung einerseits und andererseits die Offenheit des Menschen (als Einzelner und in der Gemeinschaft) sich durch Bildungsprozesse zu verändern. Nicht Beliebigkeit wird bei Lessing das Wort geredet, sondern Klarheit verbunden mit Offenheit.
Dabei berücksichtigt Lessing in seinem Verständnis von Toleranz die Einbindung bzw. Prägung des Menschen durch Herkunft (Kultur wie auch Religion). Sein Universalismus ist kein Einheitsbrei der Beliebigkeit. „Lessings Toleranzdenken zeigt in einer für das 18. Jahrhundert ungewöhnlichen, äußerst prägnanten und dabei modern anmutenden Form, wie die religiösen Selbstbeschreibungen des Menschen historisch kontingent und zugleich als ein in kulturelle Traditionen eingebundener, handlungsorientierender und zudem unhintergehbarer Deutungsakt zu betrachten sind.“14, so der Historiker Friedrich Vollhardt über die Ringparabel.
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4. Lessings Ringparabel nach Auschwitz
Nach 1945 kann eine Interpretation des Lessingschen Humanismus, wie er in der Ringparabel entfaltet wird, nicht ohne Bezug zur Shoah erfolgen. Im Jahr 1949 verfasste der Philosoph und Jude Theodor W. Adorno sein Diktum dass es nach Auschwitz barbarisch ist, Gedichte zu schreiben. Später (1962) präzisierte und kommentierte er diese Aussage. Dichtung nach Auschwitz kommt nicht ohne den Bezug auf das Grauen des Zivilisationsbruches der Shoah aus. „Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig, und dafür hat jedes Gebilde, das überhaupt noch entsteht, den bitteren Preis zu bezahlen. Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert.“15 Die Erfahrung von Auschwitz wird so zur Grundlage jedes künstlerischen Schaffens, auch bei der Inszenierung älterer Dramen wie dem NATHAN. Der Dichter Georges Tabori hat dies mit seinem Theaterstück NATHANS TOD (1991, später auch als Oper) ebenfalls thematisiert und praktiziert. Nathan und alle, die mit ihm verwandt sind, also Juden sind, sterben in diesem Stück.
Nur in einer Perspektive einer Poetik nach Auswitz ist heute die Ringparabel zu interpretieren. Prägnant hat dies aus jüdischer Perspektive Robert Schindel, der als Baby versteckt den Holocaust überlebte, zum Ausdruck gebracht: „Der Ring allerdings wurde von den Fingern genommen an der Rampe, ward eingeschmolzen wie Zahngold ja auch.“16 Und noch aktueller, obwohl der Text von Schindel bereits vor über 20 Jahren auf dem Hintergrund der Selbstmordanschläge der 2. Intifada geschrieben worden ist, und zugleich voller bitterer Ironie schreibt er: „Das milde Licht der Aufklärung sollte heute Zweitausendunddrei ihre Scheitel [der Vertreter der drei „Eingottreligionen“/KDK] beschimmern, und jeder versichere dem andern, dass der jeweilige Glaube der Väter ihn angenehm mache, und der Respekt infundiere durchaus die Vaterglaubensbekenntnisse. Der Jude versichert es, an die Panzerwand gelehnt in seiner Stadt Jerusalem, der Moslem rückt vertraulich näher in seine Stadt Jerusalem mit seinem neumodischen Gürtel um die Hüfte, und aus dem dritten Stock schauen einige unterschiedlich gewandete Tempelherrn auf die zwei hinunter in ihrer Stadt Jerusalem, und sie dirigieren Beschwichtigungssuiten.“17 Es ist einer von drei Beiträgen, die nach Aktualisierungen der Ringparabel aus der Sicht der drei Religionen suchen.
In demselben Buch beschreibt die Germanistin und Schriftstellerin Angelika Overath aus christlicher Perspektive ihre Schwierigkeiten, Lessings Märchen von den drei Ringen eine aktuelle Bedeutung im Jahr 2003 abzugewinnen. Für sie ist die lyrische Dimension, die des Erzählens entscheidend. Nur dort, aber eben gerade darin liegt für sie die Aktualität von Lessings Werk. „Erzählen ist Strategie und Therapie.“18 Denn die „Parabel, das Märchen von den drei Ringen, ist eine ästhetische Versöhnungsfigur, keine Anleitung zu versöhnender Praxis. […] Das Märchen wirkt nicht, weil es alltagspraktisch konkretisierbar wäre, sondern es wirkt als eine betörende Figur der Verheißung.“19 Es ist ein Versprechen, nicht mehr und nicht weniger. Fast klingen diese Sätze von vor über 20 Jahren wie die Reflexionen der israelischen Schriftstellerin, klinische Psychologin und Friedensaktivistin Ayelet Gundar-Goshen, wenn sie über die Folgen des Terrors der Hamas am 7. Oktober 2023 unter dem Titel DIE KRAFT EINER ERZÄHLUNG schreibt: „Das traumatische Geschehen selbst ist ein Moment des Schocks, des Verstummens, und deshalb erfordert die Behandlung die Gegenmaßnahme: Ein wortloses Erlebnis lässt sich nun beschreiben und benennen.“20 Stille Umarmungen wie am Schluss von Lessings NATHAN sind zwar hilfreich, reichen aber nicht aus. Wir müssen eine Sprache des Verstehens und der Verständigung finden, damit aus Toleranz Klarheit, Verantwortung und so auch Solidarität entstehen kann. Es braucht das „Schaffen einer neuen Erzählung, die uns eint, einer Geschichte, die das Trauma anerkennt, aber daneben auch noch anderes zulässt.“21, so Gundar- Goshen. Dies entspricht der Offenheit, die Lessing anbietet und einfordert, um aus dem Gefängnis der Selbstbezüglichkeit ausbrechen zu können. Und weiter bei Gundar-Goshen: „Die Fakten sind grauenhaft. Die Art, wie die Fakten erzählt werden, kann einen Unterschied machen.“22 Dies trifft auf die Gewalt während der Kreuzzüge zu, auf die mörderische Gewalt im Nationalsozialismus, auf die Selbstmordanschläge der Intifada und auf den Terror der Hamas und anderer Kräfte, die Israel vernichten wollen.
Navid Kermani, der syrisch-deutsche Schriftsteller und Essayist interpretiert und aktualisiert Lessings Text in diesem Buch aus dem Jahr 2003 als Moslem. Für ihn ist die Ringparabel aufgrund der doppelten historischen Verortung (Zeit der Kreuzzüge und aufgeklärter Kolonialismus bzw. Antisemitismus zu Lessings Zeiten) eine Kritik an der christlichen Herrschaft samt ihrer Gewalt. Es geht um soziale Macht, um militärische Gewalt, die von den Christen, von christlichen Staaten und christlichen Gesellschaften ausging und unter denen die Juden wie die Moslems zu leiden hatten. Die damit verbundene Deutungsmacht des Christentums über das Verhältnis der Religionen wird durch Lessing, so Kermani, infrage gestellt. „Indem er [Lessing/KDK] den möglichen Frieden der Religionen beschwor, kritisierte er die reale Gewalt des Christentums.“23 Und weiter: „Lessings Toleranzbegriff ist zunächst vom bürgerlichen Normalbewußtsein, später auch von den Kirchen so restlos aufgesogen worden, daß er jeden herrschaftskritischen Impuls verloren hat.“24 Toleranz bedeutet dann „Banalisierung“25 und wird so zur erfolgreichen „Verkaufsstrategie“26, wie Kermani es nennt. Damit ist aber eine Entkontextualisierung und Entpolitisierung des Dramas verbunden. Beliebigkeit droht als Gefahr und unterminiert die notwendige Solidarität. Wichtig ist also, die für die Gewalt Verantwortlichen klar beim Namen zu nennen.
5. Die Aufführung von NATHAN DER WEISE am 10. Juli 1945 in Dresden als Täter- Opfer-Umkehr
Am 10. Juli 1945 fand in der Trümmerwüste von Dresden eine erste Theateraufführung statt. Ein – polemisch gesagt – „Theater des Friedens“ unter Abwesenheit des Benennens von Verantwortlichkeiten für Krieg und für den Holocaust. Denn gegeben wurde NATHAN DER WEISE mit Erich Ponto in der Titelrolle des gutmütigen und weisen Juden Nathan. Das Dresdner Bürgertum, die meisten bis vor wenigen Tagen noch glühende Antisemiten und Nationalsozialisten, waren begeistert.
Victor Klemperer, der am 13. Februar 1945 während und aufgrund des Chaos bei der Bombardierung seiner Stadt Dresden seiner Deportation und mutmaßlichen Ermordung als Jude gerade noch entkommen konnte, bekam vom neu ernannten Oberbürgermeister eine Ehrenkarte zu dieser Theateraufführung. Er war einerseits geschmeichelt, aber auch in zweifacher Weise irritiert.
In seinem Tagebuch schreibt er dazu einen Tag danach: „Nathan freilich empfand ich als aufdringliche Taktlosigkeit, Iphigenie wäre mir lieber gewesen.“27 Soviel zum Stück. Die Fragen von Gewalt und Schuld und Verstrickung wie in Goethes Stück IPHIGENIE wären der Situation nach dem Holocaust angemessener gewesen. Und weite notiert und charakterisiert er die Begegnung mit seinem ehemaligen (denn Klemperer war von der Hochschule durch die nationalsozialistischen Gesetze verbannt) nationalsozialistischen Hochschulkollegen Johannes Kühn mit dem Satz: „[…] zu meinem höchsten Erstaunen und mich begrüßend, als wären wir gestern das letzte Mal zusammengewesen und dieses Zusammentreffen das allerselbstverständlichste, das Ehepaar Kühn.“28 Professor Johannes Kühn, Sohn eines protestantischen Pfarrers, war Historiker und in der Zeit des Nationalsozialismus verfasste er wissenschaftliche Werke, die die Sprache und Ideologie des NS-Regimes und deren Vorstellungen von den Deutschen als Herrenmenschen bedienten. Es war die Sprache des Dritten Reiches, die Klemperer später in LTI scharf analysieren wird (auch im Blick auf den kommunistisch-stalinistischen Sprache der SED). Klemperer wusste um die Einstellung Kühns und es war für ihn ein Albtraum, diesen Mensche wie Kühn, die ihn als Juden gemieden hatten, nun wieder zu begegnen zu müssen und deren aufgesetzter Freundlichkeit nicht entkommen zu können. An diesem Beispiel zeigt sich auch die Verlogenheit des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR. Kühn ging zunächst als Professor nach Leipzig und 1949 nach Heidelberg, aber das sozialistische Dresden blieb ihm weiter verbunden. Klemperer, der trotz seiner Nähe zum Kommunismus schon sehr früh die Parallelen zwischen Hitler und Stalin sah, konnte nur noch ironisch auf die Aneignung des Nathan in Deutschland, gerade auch in der SBZ (und späteren DDR) reagieren: Im Blick auf eine kommunistisch dominierte Veranstaltung in Berlin 1946 spricht er von der Aufführung des „unvermeidlichen Nathan“29.
Es ist dem aus Dresden stammenden 1977 geborenen Germanisten und Schriftsteller Renatus Deckert zu verdanken, den Skandal um die Nathan- Aufführung in Dresden 1945 öffentlich gemacht zu haben. In der Wochenendausgabe der SÄCHSISCHEN ZEITUNG vom 12./13. Februar 2011 hält er den Dresdnern einen Spiegel vor.
Er schreibt: Am 10. Juli 1945 „war es zur ersten Nachkriegsaufführung der Dresdner Bühnen gekommen. Gegeben wurde ‚Nathan der Weise‘. In der Titelrolle war Erich Ponto zu erleben, der seit 1914 am Schauspielhaus wirkte und in Dresden hohes Ansehen genoss. Über Ponto kann man heute lesen, er habe dem Nazi-Regime stets ablehnend gegenübergestanden. Das hielt ihn nicht davon ab, 1940 in dem antisemitischen Propagandafilm ‚Die Rothschilds‘ mitzuspielen, der neben ‚Jud Süß‘ und der angeblichen Dokumentation ‚Der ewige Jude‘ zu jenen Filmen zählt, mit denen die Deutschen auf die Vernichtung der Juden eingestimmt werden sollten. […] Denn seine Botschaft ist perfide: Das rücksichtslos agierende ‚internationale Finanzjudentum‘ wird durch das vergossene Blut der Arier reich und mächtig. Der von Ponto dargestellte Mayer Amschel Rothschild, der eine schmutzige Behausung im Frankfurter Getto mit Ratten und Ungeziefer teilt und mit seinem jiddischen Tonfall, den Schäferlocken und seiner skrupellosen Geschäftemacherei dem nationalsozialistischen Klischee vom Juden entspricht, sagt es kürzer: ‚Viel Geld machen kannste nur mit Blut.‘ Fünf Jahre später, als wäre nichts geschehen, spielt Ponto in Dresden Lessings Nathan.“30 Bis heute wird eine Lesung des NATHAN unter Mitwirkung von Erich Ponto vom Südwestrundfunk vertrieben.
6. Fazit: Die Wahrheitsfrage zwischen Solidarität und Toleranz sowie zwischen Beliebigkeit und Bildung
Gotthold Ephraim Lessing gründet seinen aufgeklärten Optimismus auf die Bildungsfähigkeit des Menschen. Offenheit ist für sein Denken wichtig. Dabei wird sein Verständnis von Toleranz und Offenheit nicht von Beliebigkeit beherrscht. Die Frage nach der Wahrheit bleibt: aber als Suchbewegung und nicht als Besitz. In diesem Sinn bekommt Lessings Ringparabel eine antitotalitäre Ausrichtung. Diese, auch als Herrschafts- und Gewaltkritik stark zu machen, muss eine erste Perspektive der Interpretation in der Gegenwart sein.
Eine zweite Perspektive ist das präzise Hinsehen, wer für die Gewalt in den bestehenden Konflikten die Verantwortung trägt. Zu oft wurde Lessings Nathan nach 1945 im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr instrumentalisiert. Dem muss um der Solidarität und der Klarheit willen widersprochen werden. Täter sind beim Namen zu nennen.
Drittens handelt die Wahrheitssuche der Ringparabel von der Praxis. Es ist keine theoretische Debatte. Und so ist auch die Solidarität mit Israel und mit den jüdischen Menschen eine sehr praktische Angelegenheit.
Eine vierte Erkenntnis ist festzuhalten. Bei Lessings Frage bzw. Suche nach der Wahrheit geht es heute (im Unterschied zu den theologischen Debatten des 18. Jahrhunderts) weniger um das Verhältnis der Wahrheitsansprüche der Religionen untereinander. Es geht viel stärker um Selbstvergewisserungsprozesse der an den Konflikten Beteiligten. Und in diesen Identifikationsprozessen spielen Religionen mit ihren Wahrheitsansprüchen dann wieder eine Rolle, indem sie zur eigenen Rechtfertigung des jeweiligen Handelns instrumentalisiert werden. Gleiches gilt aber auch für Ideologien. Man kann, um beides in den Blick zu nehmen, von Weltanschauungen und Narrativen sprechen, die als Begründung einer mörderischen Praxis konstruiert werden.
Und ein letzter, fünfter, Gedanke. Wenn Solidarität praktisch werden soll, wie auch Lessing es fordert, dann braucht es das Miteinander von Verantwortung und Freiheit. Weder Solidarität noch Bildung sind ohne die Balance von Freiheit und Verantwortung möglich.
7. Schluss: Solidarität als Praxis
Solidarität braucht Präzision im Wahrnehmen und in der erzählenden Deutung des Wahrgenommenen. Dies zumindest lehrt uns Lessing mit seinem NATHAN.
Was zudem nötig ist, ist eine Solidarität mit Israel, die sich nicht in einer jährlich einmaligen Symbolhandlung erschöpft. Unsere Solidarität mit Israel, unserer Solidarität mit jüdischen Menschen und Einrichtungen ist permanent nötig. Tag für Tag: Um das Gespinst der Lügen, des Gerüchtes über die Juden, wie Adorno 1951 den Antisemitismus kurz und prägnant definiert hat, kraftvoll entgegenzutreten. Wichtig dabei ist, den bedrängten Jüdinnen und Juden nicht unter dem Vorwand einer universellen Menschlichkeit ihre jüdische Identität – in aller ihrer Vielfalt! – zu rauben. In ihrer Dankesrede bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg hat die deutsch-amerikanische jüdische Philosophin Hannah Arendt am 28. September 1959 (veröffentlicht im Sammelband MENSCHEN IN FINSTEREN ZEITEN) über die Aktualität Lessings nach der Shoa betont: „Ich betone meine Zugehörigkeit zu der Gruppe der aus Deutschland in verhältnismäßig jungem Alter vertriebenen Juden so ausdrücklich, weil ich gewissen Mißverständnissen zuvorkommen möchte, die sich, wenn man von der Menschlichkeit spricht, nur allzu leicht ergeben. Ich darf in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, daß ich lange hindurch die Frage: Wer bist Du? die Antwort: Ein Jude, für die einzige, die der Realität des Verfolgtseins Rechnung trug. Ich hätte sicher eine Haltung, die im Sinne – nicht im Wortlaut – des Nathan auf die Aufforderung: ‚Tritt näher, Jude!‘ mit einem : Ich bin ein Mensch, antwortet, für ein groteskes und gefährliches Ausweichen vor der Wirklichkeit gehalten.“31
Nathan ist Jude und sein Jüdischsein geht eben nicht in einer Menschheitsbeglückung unter. Jüdischsein heißt aber in einer gefährdeten Existenz zu leben. Jüdinnen und Juden sind dem christlichen und muslimischen Antisemitismus in den Zeiten der Kreuzzüge, dem Antisemitismus der Aufklärung, den es trotzt aller Emanzipationsbewegung (zu Lasten der jüdischen Identität) auch gab, den rassistischen und mörderischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und des Nationalsozialismus und Stalinismus, des antizionistischen Antisemitismus der Linken und des Islamismus in den Zeiten seit der Gründung des Staates Israel bis zu dem Terror der Hamas und ihrer Verbündeten ausgesetzt. Dies zur Sprache zu bringen ist Solidarität.
ANMERKUNGEN
1 WILSON, W. Daniel: Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft, München 2024, S. 43
2 WELTECKE, Dorothea: Die drei Ringe. Warum die Religionen erst im Mittelalter entstanden sind, München 2024, S. 225
3 Ebd., S. 11
4 LESSING, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise, in: ders. Lessings Werke in fünf Bänden, ausgewählt von Karl Balser, Bibliothek Deutscher Klassiker, zweiter Band (Nathan der Weise. Theologische und philosophische Schriften, Berlin und Weimar 1965, S. 5 - 148
5 Ebd., S. 70 - 83
6 Ebd., S. 99
7 Ebd., S. 148
8 OVERATH, Angelika: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahr 2003, Göttingen 2003, S. 29
9 Lessing (Anm. 8), S. 76
10 Ebd., S. 76
11 Ebd., S. 76
12 Zitiert nach; ASSMANN, Jan: Lessings Ringparabel – die performative Wendung der Wahrheitsfrage, in: TÜCK, Jan-Heiner und LANGTHALER, Rudolf (Hrsg.): „Es strebe von euch jeder um die Wette“. Lessings Ringparabel – ein Paradigma für die Verständigung der Religionen heute?, Freiburg. Basel. Wien 2016, S. 23
13 Ebd., S. 15
14 VOLLHARDT, Dietrich: Die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“. Aktualität – Historizität – Kontiguität, in: TÜCK (Anm. 12), S. 225
15 ADORNO, Theodor W.: Jene zwanzig Jahre, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Nr. 167, Januar 1962 (16. Jahrgang), zitiert nach: KIEDAISCH, Petra (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart 1993, S. 53
16 SCHINDEL, Robert: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahr 2003, Göttingen 2003, S. 52
17 Ebd., S. 49f
18 OVERATH, Angelika: Toleranz (Anm. 12), S. 28
19 Ebd., S. 30
20 GUNDAR-GOSHEN, Ayelet: Die Kraft der Erzählung, in: 7. Oktober. Stimmen aus Israel, hrsg. Von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem (Jüdischer Almanach der Leo Beck Institute), Berlin 2024, S. 66
21 Ebd., S. 63
22 Ebd., S. 65
23 KERMANI, Navid: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahr 2003, Göttingen 2003, S. 34
24 Ebd., S. 35
25 Ebd., S. 36
26 Ebd., S. 37
27 KLEMPERER, Victor: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945 – 1949, Hrsg. Von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999, S. 40
28 Ebd., S. 41
29 Tagebucheintragung vom 29. Januar 1946, AaO., S. 190
30 DECKERT, Renatus: „Dresden ist eine Perle“, Sächsische Zeitung vom 12./13. Februar 2011, M 3
31 ARENDT, Hannah: Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: dies.: Menschen in finsteren Zeiten, hrsg. von Ursula Ludz, S. 33
Der Autor
Jhg. 1956, geb. in Dresden, studierte ab 1981 am Sprachenkonvikt, der kirchlichen Hochschule in Ostberlin, Theologie. Zu seinen Lehrern zählten Wolf Krötke und Richard Schröder. Nach seinem Vikariat war er von 1990 bis 1995 Generalsekretär der Evangelischen Studierendengemeinden Deutschlands und seit 1996 als Oberkirchenrat im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover als Referent für theologische Grundsatzfragen sowie Einzelfragen der öffentlichen Verantwortung der Kirchen. Ab 2004 Akademiedirektor, zunächst in Mecklenburg-Vorpommern und ab Bildung der Nordkirche 2012 in dieser bis zum Eintritt in den Ruhestand zum 1. Januar 2021.
Thematische Schwerpunkte seiner Arbeit neben der Leitung der Akademie waren Demokratiebildung und Erinnerungskultur, Literatur und Film, Theologie und Dialog der Religionen. In den letzten Jahren hat er sich vor allem mit Identitätskonstruktionen in der Gesellschaft, Antisemitismus und mit Verschwörungsnarrativen beschäftig. Er war in dieser Zeit 16 Jahre stellvertretender Vorstand der Evangelischen Akademien in Deutschland und in verschiedenen Gremien der EKD tätig.
Seit vielen Jahren ist er in verschiedenen Gremien des Christlich-jüdischen Dialoges engagiert. So war er bis zum Eintritt in den Ruhestand Beauftragter für diesen Bereich der kirchlichen Arbeit in der ehemaligen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs bzw. des späteren Kirchenkreises, Sprecher des interreligiösen Gesprächskreises Rostock und ist seit der Gründung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern e.V. im Vorstand. Zudem ist er seit Jahren als Mitglied auf EKD-Ebene im „Gemeinsamen Ausschuss Kirche und Judentum“ vor allem in Fragen des Antisemitismus tätig. Bis zu seinem Ruhestand war Kaiser im Fachbeirat „Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit“ der Nordkirche.
