ONLINE-EXTRA Nr. 366
© 2025 Copyright bei Autor und Verlag
Über Jahrhunderte hinweg wurde die jüdische Herkunft Jesu in der christlichen Theologie weitgehend ignoriert. Erst nach dem Holocaust begannen einige Theologen und Theologinnen über christologische Ansätze nachzudenken, die Jesus als Juden ernst nahmen. In seiner im März diesen Jahres erschienen Dissertation "Jesus Christus und sein Judesein: Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie" greift der schweizer Theologe und Judaist Martin Steiner diese Entwicklung auf. Seine von Prof. em. Dr. Verena Lenzen betreute Dissertation wurde mit dem Dissertationspreis der Theologischen Fakultät der Universität Luzern ausgezeichnet.
Im ersten Teil seiner Dissertation analysiert er die Konferenz von Seelisberg (1947), die eine wegweisende Neubewertung der jüdischen Identität Jesu anstiess und die christliche Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte. Der zweite Teil widmet sich einer Analyse der Werke von Joseph Klausner, Schalom Ben-Chorin und David Flusser, den "Klassikern" der jüdischen Jesusforschung des 20. Jahrhunderts, sowie deren Relevanz für die (christliche) Theologie. Im abschliessenden dritten Teil zeigt Martin Steiner auf, wie eine antisemitismussensible Christologie Jesu Judesein als "wahrer Mensch und wahrer Gott" in die christliche Bekenntnistradition integrieren kann. Dabei plädiert er für die Entwicklung einer dialogorientierten Christologie als Grundlage für einen respektvollen Umgang mit der jüdischen Identität Jesu.
Nachfolgend präsentiert COMPASS die Einleitung aus Steiners Buch, die mit Thema und Aufbau seiner Arbeit bekannt macht, die Forschungsfrage und These seines Buches erläutert sowie auf Fragen der Methodik, der theologischen Antisemitismusforschung und auf hermeneutische Aspekte der Christologie eingeht. Besonders erwähnt sei schließlich der äußerst erfreuliche Umstand, dass Steiners hervorragende und lesenswerte Studie als eBook Open Access gänzlich frei zugänglich ist. Den Link dazu in der Anzeige weiter unten, in der ebenfalls ein Link zum vollständigen Inhaltsverzeichnis zu finden ist.
online für ONLINE-EXTRA
Lizens CC BY-NC-ND 4.0


Online-Extra Nr. 366
Thema und Aufbau Die dialogische Situation zwischen Christen und Juden würde sich, wenn man von Balthasars Gedanken weiter ausführt, allein schon aus dem Judesein Jesu rechtfertigen lassen. Doch statt eines Dialoges hat in der Beziehung der beiden Religionen bzw. der beiden »Völker« über Jahrhunderte hinweg der einseitige Weg der Diffamierung des Judentums durch das Christentum überwogen. Das hat sich jedoch im Verlaufe des 20. Jahrhunderts einschneidend geändert. Im vorliegenden Band wird konkret das Christsein durch das Judesein Jesu angesprochen und seine jüdische Identität vom Anderen her christlich wahrgenommen. Dialogisch ist hier das Gegenteil von dem, was Balthasar mit dem »rechten Weg« benennt. Es geht darum, die Wahrnehmungen Jesu von jüdischer Seite aufzunehmen und womöglich in die eigene christliche Rede von Jesus Christus zu integrieren. Dialogisch ist nicht mit missionarisch zu verwechseln, auch wenn beide Formen der Rede bedürfen, aber eine je andere Zielrichtung verfolgen. Es geht hier um das Judesein Jesu in der Wechselrede, die auf ein Hören des Anderen angewiesen ist.3 Zwar gibt es, politisch gesprochen, »ein Recht auf eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten«4. Übertragen auf die Untersuchung dieser Arbeit werden christliche Perspektiven auf Jesus von Nazareth durch jüdische Jesusbilder erweitert. So wie jedes Urteil, jede Recherche, jeder Beitrag sonst auch ein Recht auf eine zweite Sicht hat, und es manchmal eine dritte oder weitere Einschätzung benötigt, um etwas oder jemanden klarer und differenzierter zu verstehen, so braucht es, um Jesus von Nazareth besser zu verstehen, eine jüdische Sicht auf ihn. Im christlichen Glauben ist dies nicht selbstverständlich, wenngleich auch historisch wie theologisch geboten. Jules Isaac prägte den Begriff »Lehre der Verachtung« und meinte damit ein theologisches »System der Erniedrigung«, das vor allem ab dem 4. Jahrhundert von den Kirchenvätern ausgebaut wurde und durch die enge Verbindung von Staat und Kirche Verbreitung fand. Dazu gehört auch die verleumderische Theorie der Juden als »Gottesmördervolk«, die laut Isaac als Hauptquelle für den christlichen Antisemitismus gilt.19 Sie läuft zusammengefasst auf den Satz zu: »Die Lehre der Verachtung ist ein Werk der Theologie.«20
Audiatur et altera pars1 – es braucht eine zweite Perspektive – eine jüdische Sicht!
Der aus Luzern stammende katholische Theologe Hans Urs von Balthasar (1905–1988) stellt sich 1958 in einer kleinen Schrift mit dem bedeutungsvollen Titel »Einsame Zwiesprache. Martin Buber und das Christentum« folgende Frage:[Haben Christinnen und] Christen seit den Tagen Pauli je, in den zweitausend Jahren räumlich-zeitlicher Koexistenz mit dem Volk der Juden, sich von diesem her angeredet und in ihrem Christsein betroffen gefühlt […]. Ob irgendwo auch nur von fern so etwas wie eine dialogische Situation zwischen beiden ›Völkern‹ bestand, die von den Christen her mehr voraussetzte als einen Willen, den blinden und verstockten Bruder aufzuklären und ihm auf den rechten Weg zu helfen: nämlich die Erwartung, vom lebendigen Juden etwas Lebendiges, nicht nur durch den Buchstaben der Schrift Vermitteltes, etwas von lebendigen Stimmen nicht zu Trennendes, etwas Heilsames, vielleicht höchst Notwendiges zu vernehmen. 2.
Vorverbal beginnt der Dialog in der Verantwortung füreinander. Hierfür sei auf den jüdischen Traktat Mischna Sanhedrin 4,5 verwiesen. Jüdischer- und christlicherseits ist der erste geschaffene Mensch in der Bibel kein Israelit, sondern ein Mensch (vgl. Gen 1,27). Eine jüdische Tradition erklärt, warum nur ein einzelner Mensch und keine Menschengruppe von Gott geschaffen wurde und zwar »um des Friedens der Geschöpfe willen, damit nicht ein Mensch zu seinem Mitmenschen sage: ›Mein Vater ist Größer als dein Vater.‹«5 Biblisch steht hier das Antlitz des einzelnen Menschen als Gottes Abbild im Vordergrund. Damit erhält der Mensch eine Einzigartigkeit und Würde, die ihm niemand absprechen kann.6 Diese universal- theologische Deutung gebietet einen humanen Umgang mit allen Menschen. Ein zweiter Argumentationsgang aus derselben Quelle stützt diese Deutung: Gott schuf am Anfang nur einen einzelnen Menschen »um zu lehren, dass es jedem, der das Leben einer Person vernichtet, angelastet wird, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und dass es jedem, der das Leben einer Person erhält, es angerechnet wird als hätte er eine ganze Welt erhalten.«7
Zurück zum Dialog: Jesu Judesein steht in unterschiedlicher Weise – historisch und theologisch – im Zentrum dieser Arbeit. Sie nimmt verschiedene jüdische Standpunkte in den Blick, um eine verengte christliche Sicht einzuholen, die die jüdische Identität des neutestamentlich überlieferten Jesus missachtete oder zurückwies. Die Arbeit geht darüber hinaus der Frage nach, welche Bedeutung die jüdische Identität Jesu für die systematisch-theologische Reflexion über Christus austrägt. Deshalb trägt die Arbeit den Titel »Jesus Christus und sein Judesein.« Der Untertitel der Arbeit »Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie« verweist auf die einzelnen Schwerpunkte, mit denen sie sich auseinandersetzt. Jesu Judesein wurde über die Jahrhunderte im Juden- und Christentum unterschiedlich beurteilt, wobei der christliche Antijudaismus auf beiden Seiten die Deutung Jesu überschattete. Im Zuge der sich entwickelnden historischkritischen Methode konnte in der Aufklärungszeit aber, trotz einer antijüdischen Grundhaltung, ein christliches Jesusbild entworfen werden, das von christlichen und jüdischen Forschern gleichermaßen hinsichtlich des Juden Jesu hinterfragt wurde. Problematisch ist jedoch mit Blick auf die historisch-kritische Forschung, die Jesus in seinem Judesein darstellte, dass dennoch im 19. und 20. Jahrhundert – wie die Hinführung dieser Arbeit zeigt – ein nicht-jüdisches, ja sogar ein abstruses arisches Jesusbild entstehen konnte, das nicht zuletzt von Theologen und Kirchen mitkonstruiert wurde. Möglich war dies nur durch eine antijüdische Grundhaltung, die die Christenheit selbst mitverursacht hatte. Die vor gut 200 Jahren einsetzende jüdische Erforschung der Gestalt Jesu mit historisch-kritischen Mitteln wurde von christlicher Seite marginalisiert – anders hingegen die Klassiker der jüdischen Jesusforschung des 20. Jahrhunderts (Joseph Klausner, Schalom Ben- Chorin und David Flusser), die sich durch einen religiösen und gesellschaftlichen Wandel einer breiten Öffentlichkeit erfreuen und in dieser Arbeit eingehend vorgestellt werden.
Die Erforschung eines historischen Jesus aus jüdischer Sicht brachte die Kirchen und ihre Theologien ab dem 19. Jahrhundert in Erklärungsnot, da sie ihre Deutungshoheit in der Christologie, der »ureigensten Domäne der christlichen Theologie, der Interpretation der Gestalt Jesu«8, zu verlieren fürchteten. Hier zeigt sich deutlich, dass der historische Jesus und seine theologische Deutung auf einer erkenntnistheoretischen Ebene zusammenhängen. Zwar kann die Theologie, wie im Besonderen die Christo-logie, nicht auf geschichtliche Umstände reduziert werden, aber umgekehrt darf sich die Theologie nicht von der Geschichte, speziell der Geschichte Israels, über ein philosophisches Sprungbrett lösen. Das allgemeine Zusammenspiel von Theologie und Geschichte wird vorzüglich im kirchengeschichtlichen Forschungsfeld bearbeitet. Doch auch für die systematische Theologie ist eine Verortung einzelner Christologien im raumzeitlichen Koordinatenfeld ihrer Entstehung zu beachten. Die Historikerin Paula Fredriksen bringt auf den Punkt, wohin eine Christologie ohne Betrachtung des Menschseins Jesu, sprich seiner historischen Existenz, neigt: »A Christ without human flesh heralded a Christianity without Judaism.«9 Markionismus10 und Doketismus11 sind Beispiele kirchlich verurteilter Theologien, in denen ein von der Leiblichkeit getrennter Jesus Christus als antijüdische Antwort auf christologische Fragen diente.12 Zum Menschsein Jesu gehört aber auch sein Judesein und darauf wird die jüdische Jesusforschung ab der Aufklärung insistieren. Im Zuge der Aufklärung wurde die Christologie erstmals herausgefordert, Jesus in der konkreten Geschichte zu verorten und ihn nicht nur als historische Person zu verstehen, sondern ihn auch in seiner jüdischen Identität zu berücksichtigen. Diese Herausforderung wäre eine Chance gewesen, doch sie wurde – damals zumindest – nicht genutzt.
Zur Geschichte von Kirchen und Theologien gehört, dass sich eine wirkliche christologische Reflexion über Jesus Christus und sein Judesein erst nach der Shoah einstellte. Ein bekannter provokanter und zugleich beunruhigender Satz dazu stammt von Elie Wiesel (1928–2016): »Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.«13 Dieser fundamentalen Kritik mussten sich Kirchen und Theologien nach der Shoah stellen. Erst langsam wurde ihnen dabei bewusst, dass die von ihnen seit Jahrhunderten ausgehende Judenfeindschaft dem modernen Antisemitismus den Weg gebahnt hatte. Aus dieser Mitschuld ergibt sich, dass »eine radikale Selbstreflexion und Selbstinfragestellung vonnöten [bleibt], die eine ebenso radikale Umkehr bewirkt.«14
Die christliche Selbstreflexion setzte nach der Shoah maßgeblich auf dem Weg über den Dialog mit dem Judentum ein. Sie wurde von jüdischen Protagonisten angestoßen und kontinuierlich vorangetrieben. Dafür steht u. a. die International Conference of Christians and Jews, die im Jahre 1947 im Schweizer Seelisberg stattfand und die den Beginn einer Korrektur im gegenseitigen Verstehensprozess von Juden- und Christentum einleitete. Die Konferenz vereinte jüdische und christliche Ansätze im Kampf gegen den Antisemitismus, der sich auf verzerrte Bilder und eingebrannte Stereotypen jüdischer Menschen, jüdischer Religion und jüdischer Kultur stützte. Im Grußwort an die Konferenzteilnehmenden schrieb Jaques Maritain (1881–1973), französischer Botschafter am Heiligen Stuhl: »Solange die Welt, die sich christlicher Kultur rühmt, nicht vom Antisemitismus geheilt ist, schleppt sie eine Sünde nach […]«15. In christlichen Kreisen gab es aber nur selten ein Bewusstsein, dass der Antisemitismus mit der christlichen Lehre nicht vereinbar war, zu sehr war diese vom Antijudaismus geprägt worden.
Dem französischen Historiker und Antisemitismusforscher Jules Isaac (1877–1963) im Besonderen gelang es, in Seelisberg eine verfremdende, weil einseitige Sicht des Judentums auf christlicher Seite aufzubrechen und gemeinsam mit den protestantischen und katholischen Konferenzteilnehmenden eine neue Sichtweise auf das Christentum und mit ihm auch auf das Judentum zu eröffnen. Diese vor allem historischkorrektive Sichtweise auf die Theologie fand ihren Niederschlag in den dort verabschiedeten »Zehn Thesen von Seelisberg« (1947).16 Diese »Zehn Thesen« erinnern an eine in Theorie und Praxis christlicher Religiosität verankerte Bringschuld, die sich aus jener schlichten Wahrheit ergibt, dass Jesus – wie dies in der zweiten Seelisberg-These hervorgehoben wird – eben Jude war. Ob die christlich motivierte Judenfeindschaft als (christlicher) Antijudaismus oder als christlicher Antisemitismus bezeichnet wird, war für Jules Isaac nebensächlich.17 Es ging ihm darum, die Ursache zu finden, um so den christlichen Judenhass in seinem Ursprung zu bekämpfen.Welchen Namen oder welche Bezeichnung man ihm auch geben mag – es macht kaum einen Unterschied –, er ist aus dem scharfen Gegensatz, der zwischen Kirche und Synagoge frühzeitig entstanden war, hervorgegangen, nachdem beide für sich beansprucht hatten, das wahre Israel Gottes zu sein. Im Grunde und seinem Wesen nach ist der christliche Antisemitismus also nicht volkstümlich, sondern theologischen, kirchlichen Ursprungs.18
Mit seiner überwiegend historischen Sichtweise kämpfte Isaac korrigierend für einen Wandel der »Lehre der Verachtung« hin zu einer »Lehre des Respekts«, für die er in Seelisberg die Zustimmung der christlichen Teilnehmenden erhielt, die nicht zuletzt in den »Zehn Thesen von Seelisberg« (1947) zum Ausdruck kommt. Dass aber erst im 20. Jahrhundert und nach der Shoah Kirchen und Theologien für den Blick auf jüdische Jesusbilder wirklich offen waren, ist mehr als bedauerlich. Es war ignorant und zeugt vom christlichen Superioritätsdenken, denn auf jüdischer Seite gab es bereits in der Zeit davor eine Vielzahl an Ansätzen und Arbeiten, in denen Jesus als Jude verstanden wurde. Seit der jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert haben jüdische Gelehrte wie Moses Mendelssohn Jesus als Juden in den Blick genommen. Im zweiten, judaistischen Teil dieser Arbeit wird daher »Jesus in den Augen der Juden«21 behandelt. Die jüdische Jesusforschung, die Jesus von Nazareth als Teil der eigenen jüdischen Religionsgeschichte für sich entdeckte, wird dabei als solche in ihrer Forschungsleistung gewürdigt. Wie schwierig die Annäherung an Jesus als Juden innerjüdisch war, bleibt dabei nicht unerwähnt.
Der dritte und letzte Teil der Arbeit nimmt in den Blick, welche Konsequenzen die radikale Infragestellung der Theologie nach der Shoah für eine angemessene, antisemitismussensible Christologie haben sollte. Denn »[i]mmer noch finden sich Vorstellungen der heilsgeschichtlichen Ablösung oder Ersetzung des Judentums durch das Christentum, der Überhöhungschristologie, wonach alles, was Jesus getan und gelehrt hatte, sich vom Judentum absetze.«22 Ausgangspunkt bildet die Frage, warum Jesu jüdische Identität für die Christologie kaum eine Rolle gespielt hat. Zu den wenigen Ausnahmen zählen etwa Friedrich-Wilhelm Marquardt23, Josef Wohlmuth24, Erwin Dirscherl25 oder zuletzt Helmut Hoping26 und Barbara U. Meyer27.
Ausgehend von der altkirchlichen Lehrformel, die von Jesus explizit als »wahrem Gott und wahrem Menschen« spricht, lotet dieser dritte Teil das Potenzial der Einbeziehung jüdischer Jesusforschung für die Christologie aus.
Den Abschluss bildet eine Skizze einer »dialogischen Christologie«, die einen Weg aufzeigt, wie dies geleistet werden kann.

Die Bedeutung der jüdischen Jesusforschung für eine antisemitismussensible Christologie und die Frage, wie die Beschäftigung mit Jesu jüdischer Identität das Verhältnis von Christentum und Judentum verändert, bilden die Kernpunkte des Bandes. Ein erster Schwerpunkt liegt auf der Konferenz von Seelisberg (1947), die eine neue christliche Sicht auf das Judesein Jesu erarbeitete und die Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Darauf folgt eine Analyse der Werke von Joseph Klausner, Schalom Ben-Chorin und David Flusser, den "Klassikern" der jüdischen Jesusforschung des 20. Jahrhunderts, sowie deren Relevanz für die (christliche) Theologie. Der letzte Teil skizziert, wie eine antisemitismussensible Christologie Jesu Judesein als "wahrer Mensch und wahrer Gott" in der christlichen Bekenntnistradition integrieren kann. Die Entwicklung einer dialogischen Christologie bildet die Grundlage einer respektvollen Auseinandersetzung mit Jesu jüdischer Identität.
2 Forschungsfrage und These Unabhängig von ihrer Konfession sollen Christusgläubige um das Judesein Jesu wissen, damit sie gegen jede Form von Antijudaismus und Antisemitismus immun sind. Daher führt kirchlich und theologisch gesprochen eine systematische (theologische) Nichtbehandlung des historischen Kriteriums »Judesein Jesu« zu einer folgenreichen Unterlassung. Das Judesein Jesu für die Christologie fruchtbar zu machen, versteht sich auch als Beitrag zur theologischen Antisemitismusforschung, deren Anfänge kontextuell mit der Shoah verbunden sind. Wie notwendig eine theologische Antisemitismusforschung ist, zeigt ein Blick auf verbrämte Christusbilder, die nicht nur Christi, sondern auch Jesu Judesein theologisch unterminieren. Besonders deutlich ist dies bei jenen Fällen, in denen die jüdischen Elemente aus dem Christusbild und am liebsten noch aus dem Christentum selbst ausgeblendet wurden, um eine Opposition zum Judentum zu erzeugen, wie in unterschiedlicher Ausprägung in der folgenden Hinführung zur Arbeit gezeigt wird.
Die Forschungsfrage dieser Dissertation, die an der Schnittstelle jüdisch-christlicher Beziehungen ansetzt, lautet: Inwieweit wurde die jüdische Jesusforschung – ausgehend von der zweiten Seelisberger These – im Rahmen der Christologie berücksichtigt, und wie kann das Judesein Jesu zur Entfaltung einer neuen Christologie beitragen, die frei von antijüdischen Vorurteilen und antisemitischen Denkmustern ist?
Eine antisemitismusfreie Christologie fußt auf einer theologischen Grundaussage: Der Glaube an den auferstandenen Christus ist weder von seiner irdischen Existenz in der Inkarnation des Wortes Gottes in dem Juden Jesus von Nazareth zu trennen noch einseitig im Gott- oder Menschsein Jesu aufzulösen. Für zweiteres stehen unbestritten die beiden Brennpunkte des Konzils von Chalkedon (451 n. Chr.), die das in der Formel »wahrer Gott und wahrer Mensch«28 zum Ausdruck bringt. Zum »wahren Menschsein « gehört untrennbar die jüdische Identität Jesu, die es gilt christologisch integrativ zu würdigen, um Christinnen und Christen einen theologischen Antisemitismus unmöglich zu machen sowie potenziell antisemitische Leerstellen in der Christologie zu schließen. Das Judesein Jesu vom historischen Standpunkt aus und im Dialog mit dem Judentum theologisch aufzunehmen sowie es bleibend für den auferstandenen Christus geltend zu machen, bezeichne ich als dialogische Christologie29. Sie dient dazu, das Wesen Christi klarer zu erfassen und zugleich ursprungstreu zu den Konzilsentscheidungen zu stehen. Auch dem jüdisch-christlichen Gespräch und der eigenen christlichen Identität wäre aus katholischer Sicht nicht gedient, wenn sie ihre klassischen christologischen Standpunkte zu Jesus Christus aufgibt, die einst auf den ökumenischen Konzilien formuliert wurden.
Es handelt sich im christologischen Teil einerseits um Ansätze zur Bekämpfung des Judenhasses aus einer spezifischen inneren Logik des christlichen Denkens in Auseinandersetzung mit jüdischen Ansätzen; andererseits um ein Ringen eines besseren Verständnisses von Jesus Christus als Juden. Jesu Judesein wird als positiver Bezugspunkt in die christologische Rede integriert, sodass vom Judesein Christi gesprochen wird. Damit wird, neben einer Präzisierung der eigenen christlichen Identität durch eine im doppelten Sinne humane Christologie, im Menschsein auch Jesu Judesein betont, um so in einem zweiten Schritt eine Abwertung jüdischer Menschen und des religiösen Judentums vom inneren Kern christlicher Überzeugung her unmöglich werden zu lassen. Die jüdische Identität Jesu kann nach seinem Tod, so die These, nicht unberücksichtigt oder einseitig metaphysisch aufgehoben werden, sondern hat ihren Platz in der Zweinaturenlehre des Konzils von Chalkedon (451). Dieses kirchliche Dogma enthält eine zu beachtende theologische Hermeneutik, weil es eine legitime Besinnung auf den historischen bzw. den jüdischen Jesus ermöglicht, ohne ihn zugleich, wie oft geschehen, ganz vom dogmatischen Christus zu trennen, der natürlich von diesem methodisch zu unterscheiden ist. Das Judesein Jesu in die christologische Rede zu integrieren, ist also der Versuch einer Reinterpretation und einer verstärkten Rückbindung dieser Lehre an den Juden Jesus, der als Christus in den Kirchen bekannt wird.
3 Methodik
Diese Arbeit verbindet vornehmlich historische, judaistische und theologische Perspektiven auf Jesus von Nazareth und ergänzt sie an einzelnen Stellen durch künstlerische, literatur- und religionswissenschaftliche sowie kulturwissenschaftliche Herangehensweisen, die sich zentral für das Judesein Jesu, seine jüdische Identität interessieren. Hier zeigt sich, dass der Jude Jesus im Judentum und im Christentum nur mehr interdisziplinär und in einer methodischen Vielfalt behandelt werden kann.
Die gewählten Hauptzugangsweisen orientieren sich an historischen, judaistischen und theologischen Studien. Für die Literatur, die sich mit den antijüdischen Jesusbildern beschäftigten, sei auf die Anmerkungen in der Hinführung verwiesen. Dort werden sehr diverse Beispiele herangezogen, die für den Wandel von antijüdischen zu jüdischen Jesusbildern sensibilisieren sollen. Eingegangen sei hier auf den Forschungsstand (Teil I) zur Konferenz von Seelisberg (1947) , die nach der Shoah eine internationale Neuausrichtung der jüdisch-christlichen Beziehungen forcierte.
Im Zusammenhang mit dem Judesein Jesu, das in Seelisberg hervorgehoben wurde, ist die Forschung des bereits genannten französischen Historikers Jules Isaac (1877–1963) besonders zu berücksichtigen.30
Den besten Weg, sein Anliegen, die jüdische Herkunft Jesu im theologischen Diskurs sichtbar zu machen, besteht darin, jüdische Jesusforschung einzubeziehen. Sie ist eine Bereicherung für die Theologie, auch wenn sie nur eine mögliche Annäherung an ein menschliches Jesusbild bietet, das die Kirchen dazu ermahnt, dieses in ihrem göttlichen Christusbild nicht zu vergessen. Die Jesusbilder der jüdischen Jesusforschung fordern zur Rückfrage nach dem eigenen christlichen Jesusbild heraus. Teil II dieser Arbeit bietet einen Überblick über die Arbeiten jüdischer Autorinnen und Autoren des 20./21. Jahrhunderts und fokussiert dabei auf die durch ihre Rezeption maßgeblich gewordenen Studien von Joseph Klausner, Schalom Ben- Chorin und David Flusser.
Im dritten Teil dieser Studie wird nach der christologischen Relevanz der jüdischen Identität Jesu gefragt. Aufgrund einer »jüdisch perspektivierten Christologie«31 sei die Wiedergabe dieses Forschungsstandes auf die evangelische und katholische Theologie eingeschränkt, in der das Judesein Jesu in die christologische Fragestellung aufgenommen wurde oder dazu hermeneutische Voraussetzungen beisteuerte.
Zuletzt ein paar grundsätzliche Anmerkungen, die das methodische Zueinander von judaistischer und christlich-theologischer Forschung in dieser Arbeit erläutern. Die Arbeit ist nicht auf eine konfessionelle Theologie beschränkt, stammt aber von einem katholischen Theologen, der sich dem Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) verpflichtet sieht, das eine Öffnung zur Ökumene vollzog. Erstmals in der Geschichte stellte sich dieses Konzil gegen antisemitische Tendenzen in Kirche und Gesellschaft. Die interkonfessionellen und -religiösen Stimmen, die hier in der Frage nach dem Judesein Jesu von Nazareth sichtbar werden, lehnen sich gegen einen »religiösen Isolationismus«, der das Gegenteil von Ambiguität bedeutet. Eine schwindende Ambiguitätstoleranz ermöglicht religiösen Fanatismus oder religiöse Gleichgültigkeit.32 Eine einzig christliche Sicht auf die Gestalt Jesu, die innerhalb der Grenzen der Kirchengeschichte und der Theologie abgesteckt wäre, würde schwerlich den Blick auf den Juden Jesus so öffnen können, wie er mithilfe jüdischer Gesprächspartnerinnen und -partnern möglich ist, um nicht einen Teil der eigenen christlichen Identität zu verkennen. Der jüdische Blick hilft der christlichen Theologie religiöse Toleranz durch die Betrachtung Jesu als Juden einzuüben und mit den Worten Abraham Joshua Heschels (1907–1972) daran zu erinnern: »No Religion Is An Island«33.
Eine Anmerkung zum judaistischen Teil dieser Arbeit: sie hat ihren Eigenwert, der praktisch auch dadurch kenntlich wird, dass der gesamte judaistische Teil (II) für sich alleine gelesen werden kann, ohne daraus christlich-christologisch Schlüsse zu ziehen. Mit der Berücksichtigung einer judaistischen Perspektive (Teil III) kann jedoch die Theologie deutlich antisemitismussensibler betrieben werden, da die eigenen Fehler oft nicht gesehen werden, weil gewisse Denkstrukturen fest eingeübt wurden. Diese Betonung des Eigenwerts der Judaistik bzw. der jüdischen Jesusforschung ist wichtig und unterstreicht zudem aus christlich-theologischer Sicht die interdisziplinäre Offenheit dieser Arbeit.
3.1 Theologische Antisemitismusforschung
Theologische Antisemitismusforschung operiert mit Begriffen, die eine nichtchristliche oder nicht-religiöse Leserschaft befremden mögen. So ist mit Rainer Kampling eine innerkirchliche (zumindest katholische) Disqualifizierung von Antisemitismus anhand der Begriffe »Sünde« und »Häresie« abgesteckt. Damit hebt er die Relevanz des Themas »Judesein Jesu« auf eine ganz theologische Ebene und evoziert damit eine glaubensentscheidende Frage: »Nun sag’, wie hast du’s mit dem Judesein Jesu Christi?« Diese Frage kann den an Christus glaubenden Menschen irritieren, wenn er Christus nicht mit seinem Judesein in Verbindung bringt. Angelehnt ist nun die innerkirchliche Disqualifizierung mittels Sünde und Häresie an der »zweifachen Art der sanktionierenden Qualifizierung« von Antijudaismus (im innerkirchlichen Diskurs wird in der Regel zwischen Antijudaismus und Antisemitismus unterschieden)34:Dort, wo sich Antijudaismus als Habitus der Ablehnung und Verachtung gibt, wird er wie Antisemitismus als Sünde des Hasses verurteilt. Dort aber, wo er versucht, theologisch das Vorrecht Israels als bleibendes Gottesvolk zu bestreiten und Juden von der Erwählung Gottes zu trennen, gilt Antijudaismus als Verfehlung gegen den Glauben, kurz als Häresie.35
Anhand von Kampling seien ein paar Punkte zur theologischen Antisemitismusforschung hinzugefügt. So verdient diese nicht das Attribut »theologisch«, weil sie von einer Theologin oder einem Theologen betrieben wird, sondern weil sich – in den Worten Kamplings – der Forschungsort auf die in der Regel konfessionelle Theologie und darin auf eine der verschiedensten Disziplinen richtet, die mit je unterschiedlichen Methoden (exegetischen, historischen, systematischen, praktischen) arbeiten. Der konkrete Untersuchungsgegenstand ist der Antijudaismus bzw. Antisemitismus in der Theologie, bzw. bei jenen, die diese Theologie erarbeiteten, gelehrt, erlernt oder in anderer Form verinnerlicht haben (Theologen, Gläubige, Kirchen). Das Ziel der Forschung liegt im Sichtbarmachen antijüdischer Strukturen und Denkmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Doch weder Untersuchungsgegenstand noch Ort und Zeit qualifizieren theologische Antisemitismusforschung ausreichend als »theologisch«.36 Die signa theologica können nach Rainer Kampling darin gesehen werden, dassdie historische Rekonstruktion antijüdischer bzw. antisemitischer Strukturen […] Ausgangspunkt ist, um eine Theologie zu entwickeln, die frei von diesen Formen der Negation des Jüdischen ist […]. Der theologischen Antisemitismusforschung ist […] an einer Erneuerung und Verbesserung der Theologie selbst und damit fürderhin der Praxis der Kirche gelegen, und zwar in Verantwortung für das Wesentliche jeder Theologie. Hier, in der grundsätzlichen Zustimmung zur Theologie und ihrer Frage, aus der eben auch ihre Kritik am Antijudaismus erwächst, ist das Merkmal gegenüber anderen Forschungsrichtungen der Antisemitismusforschung gegeben: Die theologische Antisemitismusforschung bestreitet binnentheologisch, dass es möglich ist, die traditionellen Positionen des Antijudaismus mit theologischen Argumenten fortzuschreiben. Mit diesen bekämpft sie vielmehr auch jede Form des, ob nun binnenkirchlichen oder außerkirchlichen, Antisemitismus, indem sie ihn als mit dem Wort Gottes unvereinbar erweist.37
Diese Arbeit orientiert sich insgesamt an einer theologischen Antisemitismusforschung. So sind die Impulse, die von der modernen jüdischen Jesusforschung oder von den Seelisberg-Thesen ausgehen, für Theologie, Kirche und Gesellschaft richtungsweisend im Kampf gegen einen christlichen Fundamentalismus, sowie gegen einen neu erstarkenden Antisemitismus, der sich auch religiöser Muster bedient. Wer den Judenhass von heute verstehen will, muss die Genese des Antisemitismus kennen, unabhängig davon, inwieweit sich jemand als gläubig, agnostisch oder atheistisch bezeichnet. In einer zunehmend komplexer werdenden Welt wird man mit den Licht- und Schattenseiten von Religion und Moderne konfrontiert. Die christliche »Lehre der Verachtung« (Isaac) ist ein Beispiel für kirchlichen Antijudaismus, der über die Jahrhunderte in die Köpfe und Herzen vieler Christinnen und Christen gelangte, sodass dieser Nährboden für den rassisch-biologischen Antisemitismus der Nationalsozialisten wurde.
Das millionenfache Unrecht, das den europäischen Jüdinnen und Juden vor und während der Shoah zugefügt wurde, führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Überdenken der bisherigen theologischen Positionierungen der evangelischen und katholischen Kirchen in Bezug auf das Judentum. Die theologischen Ansätze gehen dahin, einem »unlogischen« Antisemitismus bzw. christlichem Antijudaismus eine theologische Logik entgegenzuhalten.

Probe-Abonnement
Nahost/Israel, Gedenken und Erinnern, Antisemitismus, Rechtsradikalismus, multikulturelle Gesellschaft, christlich-jüdischer und interreligiöser Dialog, jüdische Welt. Ergänzt von Rezensionen und Fernseh-Tpps!
Infodienst
! 5 Augaben kostenfrei und unverbindlich !
Bestellen Sie jetzt Ihr Probeabo:
3.2 Hermeneutische Vorbemerkungen zur Christologie Skeptische Stimmen könnten aber dennoch zu Beginn einwerfen, dass es für eine potenziell antisemitismusfreie Christologie, wie sie im dritten Teil der Arbeit skizziert wird, weder einen Rückblick auf die jüdischen Jesusbilder braucht noch den Einbezug der klassischen und aktuellen jüdischen Jesusforschung. Das Neue Testament selbst gibt offen Zeugnis von Jesu Judesein, wie die folgenden Schriftstellen exemplarisch belegen: Jesus »ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge« (Lk 4,16), interpretierte und aktualisierte, wie die Propheten, die Gebote der Tora, von denen er keines abgeschafft oder überboten hat (Mt 5,17–18), er pilgerte zu Pessach und anderen jüdischen Festen nach Jerusalem (Mk 11; Lk 12, 41–52; Joh 2,23; 5,1; 7,10; 10,22; 12,1) und sah sich gesandt zu den »verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Mt 15,24).40 Diese an sich richtige Feststellung der Herleitung eines jüdischen Jesus aus dem Neuen Testament, kann jedoch jene theologisch verheerende Wirkungsgeschichte auf das Judentum nicht verschleiern, in der man Jesu sein Judesein absprach, wie nicht zuletzt in den völkischen und arischen Jesuskonstruktionen, die in der Hinführung dieser Arbeit skizziert werden. Es wird kein eindeutiges, sondern nur ein polyphones Bild des »Judesein« Jesu entstehen können. Drei Elemente können aber helfen, Jesus besser zu verstehen durch den Exodus, den Bund und die Tora. »As little as we know about the Historical Jesus, we know the textual traditions he referred to in his teaching, his speeches, discussions, meals, and feast days […], one can say that the Torah presents the key memory of Jesus the Jew.«49
Eine jüdische Sichtweise, »Jesus in den Augen der Juden«38, wie sie im zweiten Teil der Arbeit dargestellt wird, soll nicht die Komplexität christologischen Nachdenkens ausblenden. In dieser Arbeit wird aber für die christliche Sichtweise auf Jesus eine bisher zum Teil verkannte jüdische Sichtweise zugelassen, um konstruktiv jene vernachlässigte Wahrheit christlichen Glaubens in Erinnerung zu rufen, die mit dem Konzil von Chalkedon verbunden ist, dass Jesus als Mensch Jude war. Als Jude steht Jesus in der Tradition des Volkes Israel, das sich besonders vom Exodus – der Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten – her versteht: ein Text der Befreiung, der Juden zu Pessach und Christen zu Ostern ins Zentrum ihrer »er-lesenen« Glaubensgeschichte versetzt. Diese Religionen prägende Erzählung geht über das rational Erkennbare hinaus. Sie handelt von einem Volk und dessen befreienden Gott. Der Glaube an Gott als Transzendenten schafft diesbezüglich eine letzte Offenheit, eine Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit, eine Ambiguität. Dem christlichen Verständnis nach wird diese Ambiguität zu Gunsten einer Konkretisierung der Gottesvorstellung im Christentum eingeschränkt, und zwar durch die Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus von Nazareth. Durch ihn kommt es zu einer Konkretisierung und zugleich aber auch zu einer Vielfalt an christologischen Deutungen. Eine Reduktion auf nur eine dieser Deutungen, läuft Gefahr Jesus sein »mehr« als Christus zu nehmen, welches er für Christinnen und Christen hat, während im Unterschied dazu für Jüdinnen und Juden ein Jesus, der nicht Christus ist, noch keine theologische Relevanz besitzt. Trotz der Inkarnation des Wortes Gottes in Jesus bleibt Gottder unbegreifliche, in der Nähe der ferne, in der Immanenz der transzendente, in der Anwesenheit der abwesende Gott. Die Nähe Gottes ist nicht herstellbar oder verfügbar, sie wird gewährt. Aus dieser Haltung heraus, können wir [Christinnen und Christen] auch im Dialog mit dem Judentum Fragen an uns heranlassen, die das Zentrum der Christologie betreffen.39
Wenn also heutzutage eher Plattitüden ähnlich formuliert wird, dass Jesus Jude war, weil dies schon das Neue Testament belegt, dabei aber bewusst die kirchliche und theologische Wirkungsgeschichte ausblendet, in der Jesus als Gegner oder Überbieter des Judentums dargestellt wurde und teils noch wird, dann mischt sich in eine richtige Feststellung eine überhebliche christliche Haltung, die in gut 2000 Jahren das Judentum immer wieder gegen Jesus Christus ausgespielt und mit ihm abgewertet und entwürdigt hat. Dass neutestamentliche Textstellen also Jesu Zugehörigkeit zum Judentum offensichtlich belegen, stimmt theoretisch immer schon mit der neutestamentlichen Textebene überein, aber »[i]n der Praxis hatte […] die Jüdischkeit Jesu weder ein historisches noch ein theologisches Gewicht«41. Das Problem liegt demnach darin, wie Theologie und Kirche es verstanden haben, den Blick auf Jesu jüdische Identität zu verstellen oder, besser gesagt, sich davon abzuwenden »wie sehr Jesus Jude war und wie sehr er aus dem Glauben des israelitischen Gottesvolkes lebte«42. Diese fehlende Perspektive bringt die jüdische Jesusforschung in die christliche Theologie ein, ohne damit einen Beitrag zum Christus der Kirche leisten zu wollen (David Flusser ist hier eine Ausnahme). Heute ist aus der christlichen wie jüdischen neutestamentlichen Forschung der Jude Jesus nicht mehr wegzudenken. Neben Jesu biologischer Abstammung aus dem Volk Israel sind es die Traditionen und besonders die Heiligen Schriften seines Volkes, die als für seine jüdische Identität prägend angesehen werden. Das Neue Testament und seine Botschaft sind daran bleibend gebunden. Als im wahrsten Sinne des Wortes »er-lesene« Heimat, gehören die Schriften Israels zur geistig-spirituellen Quelle Jesu und sind daher auch Teil des christlichen Kanons. Mit Blick auf Paulus kann mit Joseph Klausner, dem Klassiker unter den jüdischen Jesusforschern in der Moderne, gesagt werden, dass »seine gesamte neue Lehre auf dem ›Alten Testament‹ auf[baute]«. Trotz des Hasses der meisten Kirchenväter gegenüber Juden und Judentum, stand die jüdische Bibel dennoch »in einer Reihe mit dem ›Neuen Testament‹«.43 Christen sind durch Jesus Christus, der Quelle und Orientierung ihrer christlichen Identität bildet, geradezu dazu aufgerufen seine (geistige) Heimat kennen zu lernen, die auch jene von Paulus war, und damit die Schriften ihres Volkes in einer jüdischen Perspektive zu lesen, um eben auch sie und ihn besser zu verstehen.
Damit kein Missverständnis entsteht: Jesu jüdische Herkunft wurde von der Kirche nie bestritten, allzu deutlich sind hier die neutestamentlichen Belegtexte und gewisse liturgische Formen, die auf Jesu Judesein verweisen.44 Das Judesein Jesu selbst fand aber keinen Widerhall in den dogmatischen Konzilsentscheidungen und so konnte sich von dort aus ein Vergessen des jüdischen Christusbildes innerhalb aller drei großen Kirchenfamilien ausbreiten. Hinzu kam eine christliche Lesart des Neuen Testaments, das Jesu jüdische Identität aufgrund substitutionstheologischer Überhöhung nicht wahrnehmen konnte. Ágnes Heller (1929–2019) bezeichnete es als eines der »größten Rätsel des Erinnerns und Vergessens«45, dass sowohl Juden als auch Christen nach gut 2000 Jahren sich daran »zu erinnern begannen, dass Jesus Jude war. Dieses Wissen war während zweitausend Jahren in Vergessenheit geraten. Nicht in dem Sinne, dass man vergessen hätte, dass Jesus – mit heutigem Ausdruck – ›jüdischer Abstammung‹ war. Man hatte vergessen, dass er ein guter Jude war.«46 Umso stärker wiegt es, wenn z. B. leichtfertig liturgische »Erinnerungskorrektive « an die »soziohistorische Herkunft des galiläischen Juden« aus dem Kirchenjahr gestrichen wurden,47 wie etwa der bis ins Jahr 1969 bestehende römischkatholische Gedenktag der »Beschneidung des Herrn«, der innerhalb eines Gottesdienstes die Gläubigen an Jesu Zugehörigkeit zum jüdischen Volk erinnerte. Ein liturgischer Reformentscheid, der im Prinzip zeigt, wie wenige Jahrzehnte nach der Shoah, Jesu Judesein nicht als wesentliche hermeneutische Grundlage für die Christologie ernstgenommen wurde.
Einige wichtige Aspekte, um das Judesein Jesu zu beschreiben, wurden bereits genannt. Jesus, und das zeigen die jüdischen Jesusforscher anhand der synoptischen Evangelien, führte ein jüdisches Leben zur Zeit des Zweiten Tempels. Zu diesem Leben gehörte bestimmend ein Hören der biblischen Texte in der Synagoge, das Halten des Schabbats und die Pilgerreisen zu den jüdischen Festtagen nach Jerusalem. Um historisch den Begriff »Judesein« Jesu besser zu verstehen, sei daher auf die Klassiker der jüdischen Jesusforschung im zweiten Hauptteil »Jesus im Judentum « verwiesen. Mit den Worten Barbara Meyers sei auf die/eine Schwierigkeit hingewiesen, die mit Jesu Judesein einhergeht:The Jewishness of Jesus is not easily described in terminologies of twenty-first-century Judaism, but it is also not simply disconnected. It is impossible to trace such multi-faceted expressions of Jewish identity down to a single concept – but its »multifacetedness« will certainly be part of the key. The question whether a continuity or discontinuity of Jewishness across the ages should be given preference ought at least to be shared with today’s diverse Jewish communities. A majority of religious, observant, secular, Israeli and Diaspora Jews perceive and present themselves as Jewish and see themselves connected to a chain of generations going back to rabbinic as well as biblical times.48
Nicht allein, sondern im Gesamtzusammenhang der genannten Elemente kann die jüdische Identität, des historischen Jesus wesentlich gefasst werden. Inwiefern das Judesein Jesu für sich genommen eine theologische Bedeutung hat oder es eine solche erst durch christologische Aussagen erhält, bleibt offen. Im dritten Hauptteil wird diesen Fragen nachgegangen und die historische Person Jesus für den christlichen Glauben als Christus erschlossen, besonders durch Überlegungen zur Inkarnationschristologie und in Bezug auf das Chalkedonense. Kayko Driedger Hesselein formuliert eine klare Bedeutung des »Judeseins« Jesu für die Christologie:The Jewish Jesus is that particular Other for whom Christians are particularly obligated to assume theological responsibility and by whom Christians must allow themselves to be formed. The erasure of all acknowledgement of the constitutive nature of Jesus’ particular humanity reduces his Jewishness to nothing, compromises the Christian religious identity, and contributes to the tragically complex history that Christians have pursued in encounters with the Jews. Christian theology must follow a more responsible path, and allow Jesus’ Jewishness to positively inform Christology.50

ANMERKUNGEN
1 Der lateinische Wortlaut für »Gehört werde auch die andere Seite« ist ein römischer Rechtsgrundsatz. Ein richterliches Urteil erfolgt erst, nachdem alle Beteiligten eines Prozesses angehört (auditur) wurden.
2 BALTHASAR, Hans Urs von, Einsame Zwiesprache: Martin Buber und das Christentum, Einsiedeln/ Freiburg 21993, 15.
3 Siehe den Kernsatz der humboldtschen dialogischen Sprachphilosophie: »Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt.« HUMBOLDT, Wilhelm von, Ueber den Dualis: VI, 25, Bd. 3, in: HUMBOLDT, Wilhelm von, Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flintner/Klaus Giel, Darmstadt 42002, 136.
4 Abgeleitet vom Originalzitat: »Every man has the right to an opinion but no man has a right to be wrong in his facts. Nor, above all, to persist in errors as to facts.« BARUCH, Bernard, Lie Hints He May Enter Atomic Control Dispute, in: Toledo Blade 111 (9.10.1946), in: https://news.google.com/newspapers?id=AgokAAAAIBAJ&sjid=y_8DAAAAIBAJ&pg=5118,1400057&dq=wrong-in-his-facts&hl=en (Abruf: 12.6.2022), 2.
5 mSan 4,5.
6 Vgl. WENGST, Klaus, Christsein mit Tora und Evangelium: Beiträge zum Umbau christlicher Theologie im Angesicht Israels, Stuttgart 2014, 24. Der Gedanke zu mSan 4,5 stammt hier von Wengst.
7 mSan 4,5.
8 HOMOLKA, Walter, Jesus der Jude: Die jüdische Leben-Jesu-Forschung von Abraham Geiger bis Ernst Ludwig Ehrlich, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 60/1 (2008), 63–72, hier: 65.
9 FREDRIKSEN, Paula, Augustine and the Jews: A Christian defense of Jews and Judaism, New York 2008, 57.
10 Der dualistische Markionismus lehnte im 2. Jahrhundert in den Auseinandersetzungen um den christlichen Kanon – also den Umfang, Inhalt und die Bedeutung der Heiligen Schrift der Christen – alle Bücher der Juden ab, die vom materialistischen Schöpfergott (Demiurg) zeugten, und stellte diesem den »höheren« Erlösergott, der Geist und Seele schuf, entgegen. Diese »Entjudaisierung« der christlichen Bibel traf dabei nicht nur die Schriften, die wir heute unter dem Begriff »Altes Testament« zusammenfassen. Vielmehr wurden auch die Schriften, die wir heute zum Neuen Testament zählen, von Markion »entjudaisiert«. Sein Kanon umfasste abschließend eine von jüdischen Einflüssen bereinigtes Lukasevangelium (in dem z. B. die Erzählung von Jesus im Tempel fehlt) sowie (ebenfalls bereinigte) Briefe des Apostels Paulus, der in der Interpretation Markions gegen jüdische Einflüsse in der Lehre Jesu gekämpft hatte. Vgl. EBNER, Martin/SCHREIBER, Stefan (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 32019 (= Kohlhammer-Studienbücher Theologie 6), 27–30; 47f. – Im Ergebnis vergisst der Markionismus an entscheidender Stelle, dass Christus nur vom Judentum und der Tradition Israels her verstehbar wird. Vgl. NIRENBERG, David, Anti- Judaismus = Anti-Judaism: The Western Tradition: Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, Aus dem Englischen von Martin Richter, München 2015 (engl. 2013), 109.
11 Der Doketismus zeichnet sich durch eine negative Haltung gegenüber der Leiblichkeit Jesu aus. Er ist eine Theologie/Christologie, die Christus nur einen Scheinleib zugesteht sowie das Judentum als eine diesseitige, vom »Fleisch« und nicht vom »Geist« bestimmte Religion abwertet. Vgl. FREDRIKSEN, Augustine and the Jews, 57.
12 Siehe dazu das Unterkapitel »Antijüdische Lösungen für christologische Fragen«, in: NIRENBERG, Anti-Judaismus, 107–116.
13 WIESEL, Elie, zit. nach: BOSCHKI, Reinhold, Elie Wiesel: Ein Leben gegen das Vergessen, Erinnerungen eines Weggefährten, Ostfildern 2018, 131.
14 BOSCHKI, Reinhold, Elie Wiesel, 130.
15 INTERNATIONALER RAT VON CHRISTEN UND JUDEN (Hg.), Der Antisemitismus: Ergebnisse einer internationalen Konferenz von Christen und Juden (Seelisberg, Schweiz, 1947), Genf 1947, 13.
16 Der Wortlaut der Thesen ist im Anhang nachzulesen.
17 Wo zwischen Antijudaismus und Antisemitismus unterschieden wird, wird der Begriff Antijudaismus stets auf die Religion bezogen oder religiös motiviert verstanden. Antijüdische Haltungen richten sich gegen die jüdische Religion und ihre Vertreterinnen und Vertreter. Der Begriff Antijudaismus wird vorzugsweise für eine judenfeindliche Einstellung im Christentum gebraucht und drückt eine Haltung aus, die älter ist als der Begriff selbst. Sprachgeschichtlich ist nämlich der Begriff »Antisemitismus« älter, der um 1860 in der Sprachwissenschaft aufkam. Ausgehend von dort fand er Eingang in die Biologie und Anthropologie. Dort wurde er verwendet, um Juden als Semiten zu kennzeichnen, die eine gemeinsame semitische Sprache haben und davon abgeleitet auch von gleicher »Rasse« seien. Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Marr nutzte ihn 1879 in politisch-idiologischen Zusammenhängen. Der Begriff »Antijudaismus« ist also sprachgeschichtlich jünger als der des »Antisemitismus« und wird erst seit den 1930er Jahren verwendet. – In der Regel wird heute mit Antisemitismus jede Form der Judenfeindschaft bezeichnet. Wenn in dieser Arbeit explizit nur der rassistisch motivierte Antisemitismus der Nationalsozialisten gemeint ist, wird dies auch deutlich so formuliert, ohne dabei die Verbindungslinien zum christlichen Antijudaismus als exkulpiert zu betrachten. Jules Isaac folgend wird keine eindeutige Begrifflichkeit von Antijudaismus/Antisemitismus für die christlich motivierte Judenfeindschaft angestrebt. Vgl. JUNG, Martin H., Christen und Juden: Die Geschichte ihrer Beziehungen, Darmstadt 2008, 194–196.
18 ISAAC, Jules, Genesis des Antisemitismus = Genèse de l’antisémitisme, essai historique: Vor und nach Christus, Aus dem Französischen von Margarete Venjakob, Wien/Frankfurt/ Zürich 1969 (franz. 1956), 214.
19 In Bezug auf eine wie auch immer formulierten Christologie zielte diese in ihrer Sinnspitze auf die Heilsbedeutung Jesu Christi für die Menschen und nicht auf die Hervorbringung eines Antijudaismus. Aber und hier liegt wohl Isaacs springender Punkt, Christologien implizieren Konsequenzen für Jüdinnen und Juden, die historisch und geographisch in einem unvermeidlichen Kontakt mit Christinnen und Christen stehen. Daher sind Christologien keinesfalls unwesentlich für Jüdinnen und Juden; sie haben Folgen für sie. Vgl. LAUER, Simon, Christologie ohne Antijudaismus?: Ist aus jüdischer Sicht ein Neuansatz denkbar?, in: FRANKEMÖLLE, Hubert (Hg.), Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend: »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«, Frankfurt/Paderborn 2001, 217–233, hier: 217.
20 ISAAC, Genesis des Antisemitismus, 241.
21 »Jesus in den Augen der Juden« ist der Titel der M.A.-Arbeit der Romanfigur Schmuel Asch bei: OZ, Amos, Judas, wörtlich: »Das Evangelium nach Judas«: Roman – Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin 2016 (hebr. 2014), 14.
22 BOSCHKI, Elie Wiesel, 130.
23 Siehe: MARQUARDT, Friedrich-Wilhelm, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden: Eine Christologie, Bde. 2, Gütersloh 1990/1991.
24 Beispielsweise: WOHLMUTH, Josef, An der Schwelle zum Heiligtum: Christliche Theologie im Gespräch mit jüdischem Denken, Paderborn/Boston 2007; DERS. (Hg.), Emmanuel Levinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1998; WOHLMUTH, Josef, Im Geheimnis einander nahe: Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn 1996; DERS., Die Tora spricht die Sprache der Menschen: Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn u. a. 2002.
25 Siehe: DIRSCHERL, Erwin, Das menschliche Wort Gottes und seine Präsenz in der Zeit: Reflexionen zur Grundorientierung der Kirche, Paderborn 2014 (= Studien zu Judentum und Christentum 26); DERS., Grundriss theologischer Anthropologie: Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006.
26 Siehe: HOPING, Helmut, Jesus aus Galiläa – Messias und Gottes Sohn, Freiburg i. Br./Basel/ Wien 2019. Der katholische Theologe Hoping forderte bereits 2004 im Kontext der Israel- Theologie eine Christologie, die erstens »die volle Anerkennung des Judeseins Jesu und dessen theologische Bedeutsamkeit« würdigt, zweitens eine Christologie die nicht »unabhängig von den messianischen Hoffnungen des Volkes Israel« entwickelt wird und drittens eine »uneingeschränkte Bejahung der bleibenden Erwählung und Sendung des Volkes Israels « fordert. DERS., Einführung in die Christologie, Darmstadt 2004, 147. Daran kritisiert der evangelische Theologe Christian Danz, dass Hoping ein inklusivistisches Modell vertritt, in dem ungeachtet seiner »eschatologischen Rhetorik« das Judentum depotenziert wird. Auf das Thema Inklusivismus geht diese Arbeit in Teil III ein. Zur Kritik an Hoping: DANZ, Christian, Grundprobleme der Christologie, Stuttgart 2013, 236f.
27 Siehe: MEYER, Barbara, Jesus the Jew in Christian Memory: Theological and Philosophical Explorations, Cambridge University Press 2020.
28 Siehe: DH 301f.
29 In dieser Christologie sei ein duratives Element betont, vom lateinischen durare, »dauern«. Es meint hier, dass sich das Judesein Jesu zeitlich nicht nur auf den historischen Jesus beschränkt, sondern dieses, seine im Leben und Tod gewonnene jüdische Identitätserfahrung, bleibend vom auferstandenen Jesus Christus ausgesagt werden kann.
30 Siehe: ISAAC, Jules, Jesus und Israel, Aus dem Französischen von Gerda Stockhammer, Wien 1968; DERS., Genesis des Antisemitismus.
31 Die Formulierung stammt vom katholischen Dogmatiker Karl-Heinz Menke, der in einem Aufsatz das christologische Denken des protestantischen Systematikers Friedrich-Wilhelm Marquardt mit dem von Jean-Marie Lustiger verglich. Letzterer wurde unter dem Namen Aaron geboren, konvertierte vom Judentum zum Christentum und wurde zuerst Priester, dann Erzbischof und später Kardinal von Paris. MENKE, Karl-Heinz, Jesus Christus: Wiederholung oder Bestimmung der Heilsgeschichte Israels? Zwei Grundgestalten jüdisch perspektivierter Christologien, in: HOPING, Helmut/TÜCK, Jan-Heiner (Hgg.), Streitfall Christologie: Vergewisserungen nach der Shoah, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005 (= QD 214), 125–158, hier: 125.
32 Vgl. BAUER, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit
und Vielfalt, Ditzingen 2018.
33 HESCHEL, Abraham Joshua, No Religion Is An Island, in: KASIMOW, Harold/Sherwin Byron L. (Hgg.), No Religion Is an Island: Abraham Joshua Heschel and Interreligious Dialouge, New York 1991, 3–22.
34 Mit dem Kulturkampf konnte sich besonders katholischerseits das Schema eines »doppelten Antisemitismus« durchsetzen. Dieser »Begriff findet sich 1907 im Kirchlichen Handlexikon des Herder-Verlags. Es wurde unterschieden zwischen einem bösen, unchristlichen, antichristlichen, rassistischen Antisemitismus und einem guten, gerechten Antisemitismus, der sich gegen die jüdische Übermacht wende.« JUNG, Christen und Juden, 200. – Zwar ist die Motivlage im Antijudaismus eine andere als im Antisemitismus, aber wenn es um das Säen von Misstrauen, Feindschaft und Hass gegenüber Jüdinnen und Juden geht, dann muss zwischen Antijudaismus und Antisemitismus nicht unterschieden werden, denn ihre Folgen bleiben sich gleich.
35 KAMPLING, Rainer, Theologische Antisemitismusforschung, in: BERGMANN, Werner/KÖRTE, Mona (Hgg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, 67–81, hier: 77.
36 Vgl. ebd., 67f.
37 Ebd., 69.
38 OZ, Judas, 14.
39 DIRSCHERL, Erwin, Die Herausforderung für eine Christologie im Angesicht von Jesu Judentum: Das theozentrische Beten und Fragen Jesu als bleibende Herausforderung des christlichen Glaubens an den einen Gott, in: DANZ, Christian/EHRENSPERGER, Kathy/HOMOLKA, Walter (Hgg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum: Jesus, der Jude aus Galiläa, und der christliche Erlöser, Tübingen 2020 (= Dogmatik in der Moderne 30), 209–227, hier: 223.
40 Vgl. RECK, Norbert, Der Jude Jesus und die christliche Theologie: Reaktionsmuster seit der Aufklärung und zukünftige Aufgaben, Vortrag am Theologischen Forschungskolleg der Universität Erfurt am 9. Februar 2021, in: https://www.jcrelations.net/de/artikel/artikel/der-jude-jesus-und-die-christliche-theologie.html (Abruf: 5.8.2021).
41 THOMA, Clemens, Das Messiasprojekt: Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994, 268.
42 BREUNING, Wilhelm, Grundzüge einer nicht antijüdischen Christologie, in: DIRSCHERL, Erwin (Hg.), Dogmatik im Dienst an der Versöhnung Erwin Dirscherl, Würzburg 1995 (= Bonner dogmatische Studien 21), 81–100, hier: 83.
43 KLAUSNER, Joseph, Von Jesus zu Paulus, Übertragen aus dem Hebräischen unter Mitwirkung des Verfassers von Dr. Friedrich Thieberger, Jerusalem 1950, 558.
44 Für ein kirchliches Bewusstsein des Judesein Jesu siehe: TÜCK, Jan-Heiner (Hg.), Die Beschneidung Jesu: Was sie Juden und Christen heute bedeutet, Freiburg i. Br. 2020.
45 HELLER, Ágnes, Die Auferstehung des jüdischen Jesus, Berlin/Wien 2002, 8.
46 Ebd., 7.
47 TÜCK, Jan-Heiner, Jesus war Jude: Und es wäre ein starkes Zeichen gegen den Antisemitismus, wenn die katholische Kirche wieder daran erinnern würde, in: NZZ (29.12.2018), in: https://www.nzz.ch/feuilleton/jesus-war-jude-und-es-waere-ein-starkes-zeichen-gegenden- antisemitismus-wenn-die-katholische-kirche-wieder-daran-erinnern-wuerde-ld.1447388. (Abruf: 6.6.2022). In der außerordentlichen Form des römischen Ritus wird am 1. Januar eines Jahres der Festtag der »Beschneidung des Herrn« (»Circumcisio Domini«) weiterhin gedacht.
48 MEYER, Jesus the Jew in Christian memory, 90.
49 Ebd., 182.
50 DRIEDGER HESSLEIN, Kayko, Dual Citizenship: Two-Natures Christologies and the Jewish Jesus, Bloomsbury T&T Clark, 2015, 188.

Der Autor
*****
Dr. Martin Steiner studierte Theologie, Judaistik und Religionspädagogik in Wien, Jerusalem, Fribourg und Luzern. Er lehrt und forscht am interfakultären Institut für Jüdisch-Christliche Forschung an der Universität Luzern (IJCF). Seit 2017 betreut er die jährlichen Gastprofessuren der Daniel Gablinger-Stiftung am IJCF, u.a. Aleida und Jan Assmann, Tom Segev und Elisa Klapheck. Für seine Dissertation „Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie“ (Stuttgart 2025) erhielt er den Dissertationspreis der Universität.
Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
redaktion@compass-infodienst.de