Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 328

Oktober 2022

Wohl keine Technologie der vergangenen Jahrzehnte hat unser Leben und Denken, unser Arbeiten und unsere Freizeit so verändert wie das Internet. Politik und Gesellschaft, Bildung und Kultur Forschung und Lehre, Familie und Freundschaft - kein Bereich des Lebens, der nicht auf die eine oder andere Weise vom Internet und den sogen. sozialen Medien beeinflusst und geprägt ist. Und die Frage, ob das Netz dabei Fluch oder Segen ist, begleitet uns beinahe täglich.

Alles andere als verwunderlich, dass demzufolge auch Religion und Spiritualität vom Internet mehr und mehr durchdrungen, geprägt und beeinflusst ist. Was aber heißt das konkret? Für den einzelnen Gläubigen und seinen Glauben, für Religionsgemeinschaften, aber auch für die akademische Beschäftigung mit Religion? Und mehr noch: gibt es bei diesen Fragen wohlmöglich unterschiedliche Antworten und Perspekiven in den verschiedenen Religionen? Gibt es einen spezifisch jüdichen, einen spezifisch christlichen Zu- und Umgang im Blick auf die Möglichkeiten und Gefahren des Internets? Wie stellen sich Religion und religiöses Lernen in der digitalen Welt aus jüdischer und christlicher Perspektive dar?

Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigt sich die Judaistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin Katharina Hadassah Wendl. Vor diesem Hintergrund hat sie zwei Bücher gelesen, die in jüngerer zeit erschienen sind und sich mit den angesprochenen Fragen beschäftigen. Und das Reizvolle an ihrer Lektüreauswahl besteht eben darin, dass das eine Buch ("Tzipporim. Judentum und Social Media.") eine jüdische Perspektive  auf das Netz und das andere Buch ("Selig sind die Handynutzer: Wie Medien den Glauben rauben – Wie Medien den Glauben stärken.") eine christliche Perspektive  einnimmt. Im nachfolgenden ONLINE-EXTRA Nr. 328 teilt sie uns ihre Lektüreeindrücke mit: "Glaube und Religion im Netz – und das in Buchform. Zwei Buchrezensionen".

© 2022 Copyright bei der Autorin
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 328


Glaube und Religion im Netz – und das in Buchform
Zwei Buchrezensionen


KATHARINA HADASSAH WENDL



Soziale Medien und das Internet sind innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte ein wichtiger Teil unseres Alltags geworden und ebenso im Bereich des religiösen Lebens nicht mehr wegzudenken. Religion und Glaube haben auch etwas zu diesem Thema zu sagen und zwei vor kurzem erschienene Bücher argumentieren genau das: Alte Texte, zeitlose Werte und religiöse Paradigma passen in das digitale Zeitalter und sind weit entfernt davon, anachronistisch zu sein. Chajm Guski zeigt in seinem Buch „Tzipporim“ (2022) wie traditionelle jüdische Texte Antworten auf Fragen geben können, die in der digitalen Welt von Relevanz sind. Chris Pahl und Karsten Kopjar schreiben in ihrem Buch „Selig sind die Handynutzer“ (2020) darüber, welche Potenziale aber auch Schwierigkeiten das Internet für ein vom (christlichen) Glauben erfülltes Leben haben kann. „Tzipporim“ und „Selig sind die Handynutzer“ sind zwei sehr verschiedene Bücher - handeln sie ja auch von zwei verschiedenen Religionen. Sie haben aber einiges gemeinsam und können sowohl für Menschen mit religiösem als auch säkularem Hintergrund eine Bereicherung sein.

Chajm Guski, deutsch-jüdischer Autor, Journalist und Blogger, schreibt in „Tzipporim. Judentum und Social Media“ darüber, welche jüdisch-ethischen Themen bei der Verwendung von Sozialen Medien aufkommen. Beginnend bei der Bedeutung des gesprochenen Wortes, geht er auf eine Vielzahl von zwischenmenschlichen Geboten ein, die auch im digitalen Raum Gültigkeit haben. In einem anregenden und humorvollen Stil stellt er zentrale jüdische Konzepte vor, die das Miteinander von Menschen on- und offline bedeutungsvoller machen. Unter Beiziehung einer breiten Palette jüdisch-religiöser Texte von der hebräischen Bibel bis hin zu Texten aus dem 20. Jahrhundert diskutiert er beispielsweise Lashon HaRa – üble Nachrede – in der digitalen Welt, das Handy als Kommunikations- und Suchtmittel und Themen wie Privatsphäre und Datenschutz. Von einer halachisch-religiösen Seite kommend, analysiert er die digitale Welt und gibt dabei zudem Ratschläge für einen reflektierten Umgang mit Social Media und Co.

Chris Pahl und Karsten Kopjar – beide in der Evangelischen Kirche Deutschland tätig – haben mit ihrem Buch „Selig sind die Handynutzer: Wie Medien den Glauben rauben – Wie Medien den Glauben stärken“ einen persönlicheren, narrativen Zugang zum Thema Religion und digitale Technologie gewählt. Ihr Buch ist geprägt von eigenen Erfahrungen, aber auch kurzen Narrativen, etwa über den Social Media-Liebenden Enkel Tim, der seine Großmutter Ulla am Land besucht, welche mit dem Internet zunächst gar nicht viel anfangen kann. Diese laden zur Identifikation mit den Autoren und Charakteren ein, die so immer wieder persönliche Eindrücke zum Thema vermitteln. Christliche Texte und deren Botschaften, die auch für Digital Natives relevant sind, kommen aber leider nur hin und wieder vor. Dieses Buch handelt vor allem von praktischen Ratschlägen zum Umgang mit digitalen Medien und von der Kirche als Gemeinschaft, die – in abgewandelter Form – auch in der digitalen Welt gedeihen kann, so Pahl und Kopjar.



Chris Pahl, Karsten Kopjar:


Selig sind die Handynutzer:
Wie Medien den Glauben rauben – Wie Medien den Glauben stärken.


Brunnen Verlag
Gießen 2020
172 Seiten
14,00€


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Chajm Guski:


Tzipporim.
Judentum und Social Media

BOD
Norderstedt 2022
212 Seiten
11,50€


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Die Titel der beiden Bücher geben weiteren Aufschluss darüber, welche Zugänge die jeweiligen Autoren haben und welche Ziele sie mit ihren Büchern verfolgen. Tzipporim ist eine eklektische Sammlung und Kommentierung jüdischer Traditionstexte, die durch eine digitale Brille gelesen werden können. Tzipporim (hebr. für Vögel) spielen eine wichtige Rolle beim Ritual nach Abklingen eines körperlich-geistigen Zustands, der in Vayikra/Levitikus als Tzaraat bezeichnet wird. Nachdem die Krankheit, die rabbinischer Tradition zufolge durch Lashon HaRa – üble Nachrede – ausgelöst wird – abgeklungen ist, muss der oder die Betroffene zwei Vögel zum Tempel bringen. Einer wird geopfert, der andere, kurz im Blut des anderen getaucht, in die Freiheit entlassen. Die Vögel, die gerne vor sich hin zwitschern, seien symbolisch als Klatsch und Tratsch zu sehen. Der freigelassene Vogel, wie Raschi, einer der bedeutendsten jüdischen Ausleger des Mittelalters, weiter ausführt, symbolisiere üble Nachrede, welche, einmal ausgesprochen, nie wieder zurückgenommen werden kann. Guski lässt es nicht aus anzumerken, dass ihn diese Tzipporim an eine Social-Media-Plattform erinnern, bei der es vor allem um den Austausch von Meinungen, Statements und Klatsch geht – Twitter.

Mit dem sich reimenden Untertitel „Wie Medien den Glauben rauben, wie Medien den Glauben stärken“ weisen Pahl und Kopjar auf zentrale Themen in ihrem Buch hin: Die Verschränkung der On- und Offline-Welt und welche positiven und negativen Auswirkungen diese für einen christlich-religiösen Glauben haben. Offen erzählen sie von eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten im Umgang mit dem Internet und besprechen Themen wie Mediensucht und digitale Selbstdarstellung sowohl von spiritueller als auch wissenschaftlicher Perspektive. Interviews mit Expert*innen und ehemals von Computer- und/oder Spielsucht Betroffenen haben, wie sie im Nachwort erwähnen, wesentlich zum Entstehen des Buches beigetragen. Differenziert stellen sie die guten und schlechten Seiten von Sozialen Medien dar, welche sie in teilweiser Anlehnung an den Untertitel „Glaubensstärker“ und „Glaubenskiller“ nennen. Sie zeigen, wie vereinzelnd die digitale Welt sein kann, aber auch, wie Gemeinschaft durch verstärkte digitale Vernetzung gelebt werden kann.

Beide Bücher haben viele gemeinsame Themen – das Handy als Kommunikationsmittel und Alleskönner, Selbstdarstellung im Netz, die vermehrte Zeit, die wir im Internet verbringen. Sie setzen aber verschiedene Schwerpunkte, die sich aber gegenseitig ergänzen: Während Pahl und Kopjar in ihrem Buch vor allem gemeinschaftliche Aspekte von sozialen Medien in den Vordergrund stellen, geht Guski hauptsächlich auf den persönlichen Umgang mit neuen Medien und zwischenmenschliche digitale Kommunikation ein. „Selig sind die Handynutzer“ diskutiert die Vor- und Nachteile von Computerspielen als Austauschplattform aber auch als Suchtmittel - „Tzipporim“ beschäftigt sich vor allem mit Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und Co.

Das Lesen von „Selig sind die Handynutzer“ erinnert an Gespräche mit einem guten Freund oder einer guten Freundin. Es ist umgangssprachlich formuliert, abwechselnd und entspannend zu lesen. „Tzipporim“ hingegen gibt Leser*Innen die Möglichkeit, in traditionelle Lesarten jüdischer Texte einzutauchen. Halachische als auch mystische Texten werden zitiert, paraphrasiert und kommentiert, aber auch Medienberichte und Statistiken finden in diesem Buch Platz. Letzteres ist ebenso der Fall bei „Selig sind die Handynutzer“ – Verweise auf wissenschaftliche Studien und Entwicklungen in anderen Ländern der Welt bereichern die Lektüre ungemein. Dieses Buch sticht auch durch seine Kreativität bei der Einbindung narrativer Abschnitten hervor, während „Tzipporim“ durch Kreativität in der Auswahl an und der Kommentierung von traditionellen jüdischen Texten und Quellen beeindruckt.



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Guski bereitet komplexe Konzepte und Interpretationen für ein breites Publikum interessant und anregend auf. Wie er in seinem einleitenden Kapitel schreibt, ist sein Buch nicht nur für observante Jüdinnen und Juden gedacht, sondern auch für solche, die nicht ganz so religiös sind. Auch nichtjüdische Leser*innen, die sich für das Thema Religion und Internet interessieren, würden, so Guski, dem Buch etwas abgewinnen können. Jüdische Konzepte und Wörter aus dem Hebräischen sind transkribiert und an zentralen Stellen ins Deutsche übersetzt. Zitierte Quellentexte werden in einem Glossar kurz erklärt. Es gibt auch ein Verzeichnis für weiterführende Literatur. Diese Orientierungshilfen sind nicht nur beim Lesen an sich unterstützend, sondern bieten auch die Möglichkeit, anderswo weiterzulesen und weiterzulernen. Ob nichtjüdische Leser*innen der Breite und Dichte jüdischer Quellen im Text vollends gewachsen sind, ist aber fraglich. Auch „Selig sind die Handynutzer“ verfügt über einen Glossar – jedoch erklärt dieser digitale Begriffe und Social Media-Kanäle. Es ist unklar, für wen Pahls und Kopjars Buch eigentlich gedacht ist – der informelle Stil lässt vermuten, dass sie jüngere Menschen erreichen möchten, die sich kirchlich engagieren. An anderer Stelle aber haben sie konkrete Ratschläge für Eltern und Pädagog*innen. Gleichzeitig wollen sie wohl eine Brücke zu älteren Generationen schlagen, die den Glossar über technische Begriffe wohl hilfreich fänden.

Religion kann überall gelebt und mit hingetragen werden – durch Bibel-Apps und digitale Gottesdienste, aber ebenso durch das Bewusstsein, dass religiös-ethische Konzepte auch in der Welt der Sozialen Medien von Bedeutung sind und ethisches, zwischenmenschliches Verhalten nicht bei Screens und Bildschirmen endet. Religiöse Werte finden in der digitalen Welt eine Anwendung – ob dies Lashon HaRa – üble Nachrede – ist oder Ideen einer religiösen Gemeinschaft sind. Das Internet wird in beiden Büchern als Segen, aber auch Fluch diskutiert – und der Graubereich dazwischen wird von Guski, Pahl und Kopjar differenziert ausgelotet. In beiden Büchern stellen sich die Autoren zudem die Frage, wie man als Einzelne und Einzelner das Internet konkret besser machen kann. Social Media ist nicht das netteste Pflaster, wie Chajm Guski in seinem letzten Kapitel von „Tzipporim“ beispielhaft beschreibt, doch Freundlichkeit und Zivilcourage kann man auch als Einzelperson zeigen, indem man andere nicht vorverurteilt und regelmäßig ihr/sein eigenes Verhalten auf Sozialen Medien reflektiert und hinterfragt. Auch in „Selig sind die Handynutzer“ ermutigen Chris Pahl und Karsten Kopjar, im Internet christliche Werte zu leben und diese mit anderen zu teilen. Die Ratschläge und Ideen, die sich in beiden Büchern finden, sind definitiv lesenswert – ob als gedrucktes Buch oder eBook.



Die Autorin

Katharina Hadassah Wendl

Katharina Hadassah Wendl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären Forschungsprojekt „Materialisierte Heiligkeit. Torarollen als kodikologisches, theologisches und soziologisches Phänomen der jüdischen Schriftkultur in der Diaspora“, das an der FU Berlin angesiedelt ist.

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