Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 317

November 2021

Wer ist Jude? Die Frage ist so alt, wie das Judentum selbst. Und die Antworten darauf sind im Laufe der Geschichte vor allem seit den Zeiten der Aufklärung, der Entstehung des Staates Israel und einer wachsenden Diaspora sowie einer zunehmenden Säkularisierung keineswegs unumstritten. Der scheinbar klaren und eindeutigen Ansage gemäß der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, demzufolge Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter abstammt, gibt es immer wieder abweichende Differenzierungen zwischen den orthodoxen, konservativen und liberalen  Strömungen innerhalb des Judentums. In jüngerer Zeit rückte beispielsweise immer wieder die Frage nach den sogenannten "Vaterjuden" in den Fokus, so zuletzt in der mitunter heftig geführten Debatte um Max Czollek (siehe Compass 7.9.2021, 15.9.2021, 29.9.2021). Und eng damit zusammenhängend ist natürlich auch das Verständnis und die Definition des Judentums selbst und wer ihm demzufolge angehört. Ist das Judentum eine Kultur, eine Ethnie, eine Schicksalsgemeinschaft oder eine Religion? Oder alles zusammen?

Wie sehr die Antworten und Positionierung in diesen Fragen immer auch mit den Verwerfungen der jüngeren Geschichte und den daraus resultierenden Lebensläufen verwoben sind, zeigt auf anschauliche Weise der hier vorliegende Essay des Autors Gabriel Berger. 1944 als Sohn eines jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren, in der DDR aufgewachsen, studierter Atomphysiker, als Dissident nach einjähriger Haft in der DDR nach West-Berlin übergesiedelt, wo er Philosophie studierte, reflektiert der bekennende Atheist in seinem autobiographischen Text viele der Schattierungen und Konflikte, Fragen und Herausforderungen die sich mit der Suche nach einer jüdischen Identität in den Wirren des 20. und 21. Jahrhunderts und insbesondere im deutsch-deutschen Kontext ergeben: "Bin ich ein 'eingebildeter Jude'?"

COMPASS dankt Gabriel Berger für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Essays an dieser Stelle!

© 2021 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 317


Bin ich ein „eingebildeter Jude“?


Als was man für die anderen gilt, kann man sich meist nicht selbst aussuchen.


GABRIEL BERGER


Obwohl ungläubig bin ich ein chalachischer Jude


„Du glaubst nicht an Gott, isst nicht koscher, feierst nicht den Schabbat, besuchst keine Synagoge. Also bist du kein Jude“. Das halten mir Christen, aber auch manche Juden vor. Doch vom religiösen, chalachichen Standpunkt aus betrachtet bin ich, im Gegensatz etwa zu dem Philosophen Max Czollek, über dessen jüdische Identität kürzlich ein Medienstreit entbrannt ist, ein Jude. Denn meine aus der ostpolnischen Stadt Sandomierz stammende Mutter war eine Jüdin. Darüber hinaus war auch mein in Warschau geborener Vater ein Jude. Ich hatte vier jüdische Großeltern, die ich allerdings, wie so viele Juden der Nachkriegsgeneration, nie zu Gesicht bekam. Die Muttersprache meiner Eltern und Großeltern war Jiddisch.

Meine Großeltern mütterlicherseits wurden, wie über 90% der polnischen Juden, Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes. Meine Großmutter väterlicherseits starb 1935 in Berlin, nach einer langen Krankheit. Und mein streng gläubiger Großvater väterlicherseits, der seit 1949 bis zu seinem Tod im Jahre 1954 die letzten Lebensjahre in Israel verbrachte, war für unsere Familie in Polen weit weg und hinter dem Eisernen Vorhang unerreichbar. Ohnehin hatte sich mein Vater schon mit dreizehn Jahren, nach der Bar-Mizwa, unter dem Einfluss seines älteren Bruders, vom jüdischen Glauben verabschiedet. Seit 1928 war er in Berlin in der Kommunistischen Partei Deutschlands aktiv und ein militanter Atheist, was seinen religiösen Vater zutiefst kränkte.

Da ich 1944 im von den Nazis besetzten Südfrankreich geboren wurde, wo meine jüdischen Eltern mit falscher Identität von katholischen Franzosen den Krieg und die Nazi-Verfolgung überdauern konnten, gehöre ich zu den child survivors, den als Kinder Überlebenden des Holocaust. Doch obwohl meine Abstammung rein jüdisch ist, ist mir im Elternhaus vom Judentum nichts vermittelt worden, zumindest nicht im religiösen Sinne. Denn weder mein Vater, noch meine aus einem Karpato-Ukrainischen Städtl stammende Stiefmutter, die mein Vater nach dem frühen Tod meiner Mutter geheiratet hatte, waren gläubig. Jedoch, seit unsere Familie 1948 nach Polen gezogen ist, bewegten sich meine Eltern fast ausschließlich in jüdischen Kreisen. Man sprach dort untereinander Jiddisch. Und wir alle, meine Eltern und ihre vier Kinder, zwei von meinem Vater, zwei von der Stiefmutter, mussten die polnische Sprache neu erlernen. Bis dahin hatten wir Französisch gesprochen. Jiddisch blieb für uns Kinder die Geheimsprache der Erwachsenen. Wir konnten und mochten Jiddisch nicht. Denn wir sahen die grimmigen Blicke der Polen, die den Jiddisch sprechenden galten. Wir wollten dazu gehören, nicht anders sein als unsere polnischen Kameraden.

In Polen war unsere Familie jüdisch und kommunistisch

Meine Eltern besuchten an jedem Wochenende den jüdischen Klub, aber nie eine Synagoge. Im jüdischen Klub von Wroclaw wurde rein weltliches jüdisches Kulturleben gepflegt. Es gab dort Vorträge, Theatervorführungen, Diskussionsabende, von denen wir Kinder nichts mitbekamen, weil sie in Jiddisch abliefen. Im jüdischen Klub wurde auch anlässlich der jüdischen Feiertage gemeinsam gefeiert. Das hatte aber für uns Kinder keine Bedeutung, außer dass es Kakao und Kuchen gab und wir mit anderen Kindern spielen konnten. Denn mein Vater ignorierte alle religiösen Feiertage und klärte uns nicht über deren Bedeutung auf. Umso intensiver beging unsere Familie die im kommunistischen Polen offiziellen Feiertage: das Neujahrfest am 1.Januar, den Frauentag am 8. März, den Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai, den Tag der Befreiung von den Nazis am 8. Mai, den polnischen Nationalfeiertag am 22.Juli, den Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November. Von jüdischer Tradition wussten wir Kinder nichts, obwohl wir wussten, dass wir Juden waren. Seit frühster Kindheit wussten wir auch, dass sich unsere Eltern in Frankreich und Belgien verstecken mussten, um die Verfolgung durch die Nazis zu überleben. Und schon als Kind erfuhr ich, dass der erste Ehemann meiner Stiefmutter, der Vater meiner beiden Stiefschwestern, in Auschwitz ermordet wurde und dass die grausamen Verfolger der Juden, also auch unserer Familie, Deutsche gewesen sind.

Zu Hause schimpfte mein Vater oft über polnische Antisemiten, denen er immer wieder bei der Arbeit, aber auch in der Partei begegne. Das tangierte uns Kinder nicht, denn in unserer Schule war der Anteil an jüdischen Kindern und an jüdischen Lehrern hoch. Das lag daran, dass es die erste weltliche, religionsfreie Schule in Wroclaw nach dem Krieg gewesen ist. Als jüdische Kinder hatten wir deshalb nicht unter Diskriminierung zu leiden. Aber irgendwann fuhr ich im Sommer in ein Kinderferienlager des Betriebes meines Vaters. Dort wurde ich eines Abends von den katholischen Kindern mit dem Schlachtruf „Jude, Jude“ verprügelt. Sie hielten mich für einen Juden, weil ich nicht wie sie vor dem Essen und vor dem Schlafengehen betete.

1957 wurde es meinem Vater in seinem staatlichen Betrieb zu viel der Ausgrenzung und Benachteiligung, die ihm als einem Juden galten. Das polnische Volk rebellierte gegen die stalinistische Diktatur und fand in den Juden die für sie Verantwortlichen. „Raus mit dir nach Palästina“, wurde ihm von Kollegen zugerufen und ihm schließlich die Arbeit gekündigt. Auch die Partei stand ihm nicht bei. Damals wanderte ein Großteil meiner jüdischen Klassenkameraden mit ihren Eltern nach Israel aus. Da aber mein Vater seinen kommunistischen Überzeugungen nach wie vor treu war, kam für ihn Israel nicht in Frage. Er wählte die DDR als sein neues Auswanderungsland. Das war für ihn naheliegend, weil er schon vor der Nazi-Zeit in Berlin Kommunist gewesen ist. Die DDR wurde jetzt von seinen ehemaligen Genossen regiert, die im Gegensatz zu den national gesinnten, wankelmütigen polnischen Kommunisten fest an der Seite der Sowjetunion standen.



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Gabriel Berger
Auf der Suche nach Heimat
Eine jüdische Familie im 20. Jahrhundert


Beggerow-Verlag, Berlin 2020

292 Seiten
Preis: EUR 14,90

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Die Geschichte der Familie meines Großvaters Josef Berger ist ein lebendiges Geschichtsbuch Europas im zwanzigsten Jahrhundert. Von Abenteuerlust, Streben nach Reichtum und vom Schicksal getrieben zog Josef Berger mit seiner Frau Cywia und deren Kindern, am Ende waren es zwölf, aus dem Heimatlichen Polen rastlos von Land zu Land: 1908 nach Palästina, dann nach Belgien, Holland, England, Deutschland, Frankreich, Israel. Was er suchte, war Wohlstand und Glück für seine Familie. Doch es ereilte ihn eine Katastrophe nach der anderen: Bankrott, Abfall der Kinder vom jüdischen Glauben, Erster Weltkrieg, Bombardierung Londons, Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machergreifung, Flucht aus Deutschland und Belgien vor den Nazis, Leben in Frankreich in ständiger Lebensbedrohung unter deutscher Besatzung, Teilung der Familie durch den Eisernen Vorhang.

An seinem Lebensabend in Israel konnte er jedoch für sich einen Erfolg verbuchen: Neben ihm hatten sich alle elf in der Nazizeit noch lebenden Kinder der Bedrohung durch die Nazis entziehen können: in Europa, Palästina, USA, Südafrika. Jedes Mitglied der Familie Berger hatte für sich eine Wahlheimat gefunden. Zur Heimat für die Familie Berger und ihre Nachkommen wurde die ganze Welt. Doch die meisten Nachkommen meines Großvaters Josef Bergers leben heute in Israel.



In der DDR verbarg ich meine jüdische Identität

So geriet ich also als ein polnisch-jüdischer Junge ganz unvermittelt in die DDR und dort unter die bis dahin für mich wie meine polnischen Kammeraden verhassten Deutschen. Doch die DDR befand sich auf dem Weg zum Sozialismus und der schloss, wie mein Vater sagte, jede Diskriminierung, auch die der Juden, aus. Das blieb seine Überzeugung, trotz der gegenteiligen Erfahrung in Polen. Er kam in das Land seiner früheren Genossen, doch den Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit traute er nicht über den Weg. Und so schärfte er den Kindern ein, vorsichtshalber ihre jüdische Herkunft für sich zu behalten, sie nirgendwo preiszugeben. Zwar hatte mein Vater auch in der DDR einige jüdische Freunde, manche aus alter Zeit vor Hitler. Doch auch für sie als Kommunisten war das Judentum meist ohne Belang. Und sie sprachen miteinander Deutsch, nicht wie die Juden in Polen Jiddisch.

Als Jugendlicher in der DDR hatte ich nur selten Kontakte mit Juden und, wie es mir mein Vater angetragen hatte, hütete ich streng unser Familiengeheimnis. Doch eines Tages, ich besuchte damals in Markkleeberg bei Leipzig die elfte Klasse der Oberschule, sagte mein Klassenkamerad Ulli zu mir: „Du bist doch ein Jude“. Es sagte es ganz beiläufig, ohne Häme. Doch ich erschrak. „Wie kommst du darauf?“ „Das ist doch ganz einfach“, antwortete der außergewöhnlich belesene Ulli. „Du wurdest in Frankreich geboren, hast in Belgien und in Polen gelebt und lebst jetzt in der DDR. Dann bist du ein Jude. Ich kenne viele solche verwickelten jüdischen Lebensläufe.“ Kein Wunder, seine Mutter lektorierte im Bibliographischen Institut Leipzig Lexika, die er begierig verschlang. Das ungewöhnlich breite Wissen prägte seinen Charakter. Ich konnte sicher sein, dass er mit seiner neuen Erkenntnis nicht in der Klasse prahlen würde.

Der Sechstagekrieg zwang mich, mich als Jude zu outen

Auch während des Physik-Studiums an der TU Dresden blieb ich zunächst dem Grundsatz treu, meine jüdische Familiengeschichte geheim zu halten. Doch dann kam im Jahr 1967 der später als „Sechstagekrieg“ bezeichnete militärische Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarstaaten. Er wurde in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen der DDR von wütenden Angriffen auf Israel begleitet. Israel wurde als Aggressor, imperialistischer Eroberer und Handlanger der USA im schärfsten Ton verurteilt, wobei man sich in dem deutschen Staat DDR nicht scheute, die Regierung Israels mit den Nazis zu vergleichen und den Zionismus als eine Spielart des Faschismus zu bezeichnen. Doch die antiisraelische Propaganda in den Massenmedien reichte der DDR-Führung nicht. Sie musste sich auch noch der Unterstützung durch die Bevölkerung vergewissern. Diese wurde in Massenveranstaltungen in Betrieben, Institutionen, Bildungseinrichtungen eingefordert, wo jeweils eine antiisraelische Resolution verlesen und per Akklamation von allen Versammelten befürwortet werden musste. Eine solche Sonderveranstaltung zum Zweck der Verurteilung Israels fand auch im großen Physik-Hörsaal der TU Dresden statt.  Doch da machte ich nicht mit. Ich verweigerte öffentlich der Resolution meine Unterstützung und begründete meine Ablehnung damit, dass ich als Jude der Meinung sei, man könne dem jüdischen Staat Israel nicht das Recht verwehren, sich vor seinen erklärten, aggressiven Feinden zu verteidigen. Meine Gegenstimme störte die in der DDR selbstverständliche, nach außen hundertprozentige Zustimmung zu allen Forderungen der Führung der Partei und des Staates. Doch sie blieb für mich ohne spürbare Folgen, zumindest nicht von offizieller Seite. Im privaten Bereich, unter den Kommilitonen der Fachrichtung Physik, musste ich mich jedoch der Frage stellen, wieso die Juden zu allen Zeiten und in allen Ländern, in denen sie lebten oder gelebt hatten, Anfeindungen seitens der Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt waren und nach wie vor sind. Das müsse wohl an ihnen selbst, an ihrem Verhalten liegen. Nun war ich, ohne es zu wollen, zum Vertreter des jüdischen Volkes geworden, der Juden vor Angriffen der Nichtjuden verteidigen musste, und das, obwohl ich vom Judentum, von der jüdischen Geschichte und Tradition nur sehr wenig wusste. Doch als was man für die anderen gilt, kann man sich meist nicht selbst aussuchen. In dieser Auffassung bestärkte mich in den achtziger Jahren mein in Israel geborener Cousin Zwi, der inzwischen seit einigen Jahrzehnten in Holland lebt und holländischer Staatsbürger ist. „Als ich in Israel lebte, war ich kein Jude“, sagte der in einer weltlichen Familie in Israel aufgewachsene Zwi. Sein Vater, einer meiner Onkel, stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie und war nicht religiös.  „In Israel war ich ein Israeli“, sagte Zwi. „aber kein Jude. Erst in Holland bin ich ein Jude geworden, weil mich jeder der erfährt, dass ich aus Israel komme, für einen Juden hält.“

Mein Abschied von der kommunistischen Weltsicht

Dass ich mich 1967 öffentlich als Jude zu erkennen gab und damit eine Oppositionshaltung gegenüber der in der DDR herrschenden Ideologie demonstrierte, war der Anfang meiner Sinneswandlung, weg vom Befürworter der menschheitsbeglückenden Idee des Kommunismus. Ein Jahr später, 1968, kam es in Polen zu dem Exodus fast aller noch im Land verbliebenen Juden, die pauschal zu Staatsfeinden und Handlangern Israels erklärt wurden. Meist waren es aber voll assimilierte Juden, die sich ganz als Polen fühlten und keine Beziehung zu der jüdischen Vergangenheit ihrer Vorfahren hatten. Sie waren nicht religiös, manche sogar katholisch. Der polnische Sozialismus zeigte offen seine antisemitische Natur.

Zur gleichen Zeit wehte aber aus der Tschechoslowakei ein Wind der Toleranz und der demokratischen Erneuerung des Sozialismus. Doch die Hoffnung eines Großteils der Jugend Osteuropas auf eine Öffnung des verkrusteten, totalitären Systems wurde mit Panzern der „befreundeten sozialistischen Staaten“ erstickt, die den „Prager Frühling“ überrollten. Ich wandte mich innerlich endgültig vom „realen Sozialismus“ ab. Einige Jahre später, inzwischen war ich als Physiker am Kernforschungszentrum Rossendorf bei Dresden tätig, stellte ich Ende 1975 einen politisch motivierten Antrag, die DDR zu verlassen. 1976 wurde ich wegen „Staatsverleumdung“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und durfte nach Verbüßung der Haftstrafe die DDR verlassen. Endlich konnte ich meine zahlreichen über die Welt verstreuten Verwandten besuchen, die zum größten Teil in Israel leben. Bis auf einen im Jerusalemer Orthodoxen-Viertel Mea Shearim lebenden Cousin sind sie alle nicht religiös.

Unterschiedliche jüdische Identitäten in West- und Osteuropa

Die Frage, ob ich ein Jude bin, stellt sich mir so nur in Deutschland, wo nach Auffassung der Nichtjuden, aber auch vieler aus Deutschland stammender Juden, ein Jude eine Person jüdischen Glaubens ist. Ganz anders denken darüber die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewanderten Juden. Da ich mich inzwischen intensiv mit der Geschichte osteuropäischer, besonders polnischer Juden beschäftigt habe, ist mir der Gegensatz der Auffassungen in West- und Osteuropa zu der Frage, wer ein Jude sei, klargeworden.

In einschlägiger Literatur wird Immer wieder der Ausspruch des Vorsitzenden der französischen Nationalversammlung Graf Stanislas de Clermont-Tonnerre aus seiner Rede vom 23. Dezember 1789 zitiert: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren.“ Es war eine an die Juden ausgesprochene Einladung, zugleich aber eine Drohung. Das war der von der Französischen Revolution abgefeuerte Startschuss für die Emanzipation der Juden in Frankreich, kurze Zeit später auch in anderen Staaten Westeuropas, darunter in Preußen, später im ganzen Deutschen Reich. Juden wurden, zumindest formal, zu gleichberechtigten Bürgern, in Frankreich zu Franzosen, in Deutschland zu Deutschen jüdischer Konfession. Voraussetzung dafür war die Aufgabe der eigenen jüdischen Sprache und der weitgehende Verzicht auf eine eigenständige jüdische nationale und Kulturtradition. Die Juden durften nicht „eine Nation in der Nation sein“, forderte 1806 Napoleon. Unter dieser Prämisse genossen die Juden in Frankreich zum ersten Mal in Europa die gleichen Rechte, wie die Nichtjuden und wurden, zumindest formal, vollständig in die sich damals konstituierende französische Nation aufgenommen.

Dass sich dieser Trend im 19. Jahrhundert nicht in Osteuropa, insbesondere nicht in Russland, durchsetzen konnte, wird im allgemeinen der Rückständigkeit dieser Region zugeschrieben. Dabei wird aber nicht bedacht, dass zwischen West- und Osteuropa gravierende Unterschiede in Bevölkerungsstrukturen bestanden. Ganz Osteuropa, vom Baltikum bis zum Balkan und dem Schwarzen Meer, war ein Flickenteppich von Völkerschaften, die miteinander vermischt, verzahnt oder in Enklaven verteilt lebten. Als im 19. Jahrhundert, besonders in Österreich-Ungarn und Russland, die dort lebenden Völkerschaften nationale Ideen entwickelten und auf die Gründung von homogenen Nationalstaaten hinarbeiteten, gerieten die Juden mit ihrer von den anderen Volksgruppen separaten Religion, Sprache, nationaler und Kulturtradition, aber ohne ein als ihr eigenes geltendes Territorium, ins Abseits. Auf den auch auf sie von umliegenden Völkern ausgeübten Zwang, sich zu einer Nation zu bekennen, reagierten manche mit Assimilation. Meist waren es gebildete oder vermögende Juden. Sie gaben im Sinne von Graf Clermont-Tonnerre ihre jüdische Gruppenidentität auf, um sich voll mit dem sie umgebenden Mehrheitsvolk zu identifizieren. Manche behielten den jüdischen Glauben, passten aber ihre Umgangsformen ganz der nichtjüdischen Umgebung an, manche wurden, um sich ganz anzupassen, Christen.

Im Gegensatz dazu adaptierten andere für sich die Idee, auch sie, die Juden, seien eine Volksgruppe mit eigenen Traditionen und Eigenarten, die folglich ihre nationalen und kulturellen Rechte einfordern könne. Ein Teil von ihnen schloss sich der zionistischen Bewegung an, die die Gründung eines Staates für die Juden anstrebte, mit Hebräisch als der gemeinsamen Sprache, andere strebten im Rahmen existierender politischer Strukturen autonome Rechte einer jüdischen nationalen Minderheit an, mit Jiddisch als der unter den Juden Osteuropas natürlich gewachsenen nationalen Sprache, weshalb man sie auch Jiddischisten nannte. Unter diesen entfaltete sich neben der religiösen auch eine säkulare jiddische Kultur, zu der sich insbesondere der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, Kurzbezeichnung Bund, bekannte.

Der Bund war eine Ende des 19. Jahrhunderts gegründete sozialistische Partei, die in Russland, später besonders in Polen, unter den Juden einen starken Zulauf hatte und in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in Wahlen einen hohen Stimmanteil der jüdischen Bevölkerung Polens errang. Im Nachhinein wurde mir klar, dass das säkulare jüdische Leben, wie ich es in meiner Kindheit in Polen erlebt hatte, in dieser jiddischistischen säkularen Tradition des Bund seine Wurzeln hatte. Es war eine Tradition des Judentums ohne die jüdische Religion, zumindest aber ohne den Zwang religiös zu sein, um als Jude anerkannt zu werden. Es ist ein absolut falscher Ansatz, wenn heute manche Deutsche meinen, wer von nichtreligiösen Juden spreche, betrachte im nationalsozialistischen Sinne die Juden als angehörige einer Rasse. Wer das sagt, beweist damit eine totale Unkenntnis der jüdischen Geschichte und Tradition. Problematisch ist aber diese Sichtweise aus dem Blickwinkel von Konvertiten zur jüdischen Religion, die sich nur über die Religion als Juden definieren können, weshalb ihnen eine säkulare jüdische Tradition fremd sein muss. Auch fehlt ihnen eine wesentliche Säule der jüdischen Gruppensolidarität, nämlich die familiäre Erinnerung an antisemitische Verfolgung.



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Als „Kulturjude“ in Köln

In den neunziger Jahren lebte ich in Bonn. In der nahe gelegenen Stadt Köln wurde ich Mitglied des „Jüdischen Forums“, eines Vereins von Freunden der jüdischen Tradition, dem sowohl Juden als auch Christen oder Freidenker jeder Couleur und zahlreicher Nationalitäten angehörten. Der aus einer orthodox jüdischen Familie stammende Engländer Michael, der dem Verein vorstand, weihte dessen Mitglieder in religiöse jüdische Traditionen ein. Gemeinsam feierten wir Schabbat-Abende und jüdische Feste, Pessach, Jom Kippur, Rosh Hashana, Sukkot, Chanukka, mit jüdischen Ritualen, deren Hintergrund uns Michael sachkundig erläuterte. Endlich lernte ich die jüdische Tradition kennen, von der mich mein kommunistisch orientierter Vater konsequent zu entfremden versuchte. Meine Freundin Magda begleitete mich regelmäßig zu den Treffen des „Jüdischen Forums“ in dem Severinsburg genannten geräumigen Turm, einem Überbleibsel der mittelalterlichen Kölner Stadtmauer.

Die meisten Mitglieder des „Jüdischen Forums“ hatten kein Bedürfnis nach aktivem religiösen Leben. Die Juden unter ihnen betrachteten sich vorwiegend als säkular. Manche von ihnen stammten wie ich aus Osteuropa, manche hatten erst als Erwachsene von ihren jüdischen Wurzeln erfahren. Sie fühlten sich meist der jüdischen Tradition emotional verbunden, nicht aber der jüdischen Religion. Doch irgendwann wurde im „Jüdischen Forum“ die Idee geboren, eine liberale jüdische Gemeinde zu gründen. Sie wurde vorwiegend von einigen Mitgliedern des „Jüdischen Forums“ forciert, die als „Vaterjuden“ keine jüdische Mutter hatten und folglich nicht als Juden im chalachischen Sinne galten, weshalb sie nicht in die orthodoxe Kölner Gemeinde aufgenommen wurden. Die Regeln des liberalen Judentums sind weniger restriktiv. Da werden den „Vaterjuden“ weniger Probleme gemacht, den jüdischen Gemeinden beizutreten, allerdings erst nach einer recht aufwendigen Konversion. Auch Personen ohne jüdischen familiären Hintergrund können nach einer mehrjährigen Lern- und Probezeit in das Judentum aufgenommen werden. Die zunächst kleine Gruppe von religiös motivierten Mitgliedern des „Jüdischen Forums“ gründete schließlich ganz offiziell eine liberale jüdische Gemeinde und nannte sie in Hebräisch „Gescher LaMasoret“, Brücke zur Tradition.

In der Liberalen Jüdischen Gemeinde


Als Atheist war ich am Beitritt zu der religiösen Gemeinde nicht interessiert. Mir reichte es, im „Jüdischen Forum“ ein „Kulturjude“ ohne religiöse Ambitionen zu sein. Was mir unter den Möchtegern-Juden, die die jüdischen Gottesdienste besuchten, auffiel, war, dass das Bedürfnis nach religiöser Spiritualität meist schon in der Kindheit, im Elternhaus angelegt wird, sei es in christlicher, jüdischer, muslimischer, hinduistischer oder sonstiger Ausrichtung. Und dann ist ein Wechsel von einer zu einer anderen Religion, mit anderen Riten, durchaus denkbar, vorausgesetzt natürlich, dass man die emotionale Schranke überwindet, welche die Anhänger der Religionen üblicherweise voneinander abgrenzt und sie füreinander zu potentiellen Feinden macht. Weniger wahrscheinlich ist es aber, dass ein konsequenter Atheist religiös wird, es sei denn er bekannte sich ursprünglich zu einer atheistischen Ersatzreligion, etwa dem Kommunismus, und sucht, nach dessen Niedergang in der realen Wirklichkeit, eine spirituelle Alternative. Zahlreiche in der DDR sozialisierte, im Geist des atheistischen Marxismus aufgewachsene Juden der Nachkriegsgeneration wurden nach der Wende von 1989 eifrige Synagogengänger. In Russland bekam nach dem Zerfall der Sowjetunion die einst verfemte orthodoxe Kirche einen enormen Zulauf, auch von einstigen Marxisten, und wurde de facto zur Staatsreligion. Selbst der ehemalige sowjetische Geheimdienstoffizier Putin lässt seine weltliche Macht von orthodoxen Patriarchen segnen. Und viele der seit 1990 nach Deutschland eingewanderten etwa 200.000 sowjetischen Juden, die meist in staatstreuen, säkularen Familien großgeworden sind, tauschten nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre kommunistischen Überzeugungen gegen den jüdischen Glauben ein.

Im Gegensatz zu mir wurde meine aus dem katholischen Polen stammende Bonner Freundin Magda Feuer und Flamme für die jüdische Religion. Ich dagegen verspürte keinerlei Bedürfnis nach Spiritualität, auch nicht nach jüdischer. Ich war, wie es der Philosoph Jürgen Habermas auf sich bezogen elegant formuliert hatte, „religiös unmusikalisch“, nicht nur wegen meines streng naturwissenschaftlichen Weltbildes, sondern sicher auch deshalb, weil ich nicht passiv den Zusammenbruch des sozialistischen Großversuchs abgewartet, mich vielmehr aus den geistigen Fesseln der kommunistischen Ersatzreligion selbst befreit hatte. Doch ich hatte mich inzwischen auch von der militant antireligiösen Haltung meines Vaters entfernt, weshalb ich das religiöse Ansinnen meiner Freundin Magda tolerieren konnte. Regelmäßig suchte ich mit ihr die Gottesdienste der liberalen jüdischen Gemeinde in Köln auf.

Auch Magda, die aus einer katholischen aber nicht praktizierenden Familie stammte, gehörte zu den Kandidaten für den Übertritt zur jüdischen Religion. Diese mussten sich, nach gründlicher Aneignung der religiösen Grundlagen, der Liturgie und der Fertigkeit, Hebräisch zumindest lesen zu können, für den Übertritt einer Prüfung durch eine Rabbiner-Kommission, das sogenannte Beth Din, unterziehen. Das ist eine langwierige Prozedur, die viele Jahre dauern kann, ganz im Gegensatz zum Übertritt zum Christentum oder zum Islam, der eher formal ist und nach dem Erlernen einer Gebetsformel sofort erfolgen kann. Juden betreiben keine Missionierung, mit dem Ziel einer Massenrekrutierung von neuen Gläubigen, die erforderlich wäre, um die Welt zu erobern, auch wenn ihnen von Antisemiten das Gegenteil nachgesagt wird. Es ist ein psychologisch interessantes Phänomen, dass den Juden ausgerechnet von Christen und Muslimen Weltherrschaftsansprüche unterstellt werden, von Anhängern der Religionen, die in der Vergangenheit oder Gegenwart ganz real die Weltherrschaft angestrebt hatten oder immer noch anstreben. Juden missionieren nicht. Wer Jude werden will, handelt demnach nicht nach einem hypothetischen jüdischen Eroberungsplan, sondern nach seinem persönlichen Willen und seiner individuellen Entscheidung. So war es auch bei meiner Freundin und späteren Ehegattin Magda, die mir zuliebe Jüdin werden wollte. Das war allerdings von Anfang an ein Missverständnis, denn ich verband mein Judesein nicht mit der jüdischen Religion. Und als einem Atheisten wäre es mir nie in den Sinn gekommen, mich in die jüdische Glaubenslehre zu vertiefen, schon gar nicht zu beten.

Gemeinsam mit weiteren Kandidaten konvertierte Magda schließlich zum Judentum. Von mir dagegen wurde in der liberalen Gemeinde eine Konversion nicht erwartet. Schließlich war ich nachweislich Sohn einer jüdischen Mutter und hatte darüber hinaus auch noch einen jüdischen Vater. Dass ich ungläubig war, blieb den Mitgliedern der Gemeinde nicht verborgen. Das war für sie kein Problem, denn auch viele ungläubige Juden pflegten Synagogen aufzusuchen, der Tradition wegen und aus einem Gefühl der Verbundenheit mit dem jüdischen Volk. Die hebräischen Gebete verstand ich nicht. Auch deren Übersetzungen ins Deutsche sagten mir nichts. In der ständigen Wiederholung der Lobpreisung Gottes sah ich als Atheist keinen Sinn. Doch ich murmelte nach lateinischen Umschriften die hebräisch-sprachigen Gebete mit, betrachtete sie als Meditation zur Beruhigung der Sinne und als innere Einkehr. Es hätten aber genauso gut buddhistische oder hinduistische Texte sein können oder romantische, die Natur verklärende Gedichte. Die äußerst melodischen liturgischen Lieder sang ich aber sehr gern mit, mit lateinischer Umschrift der hebräischen Texte als Vorlage. Obwohl ich nicht religiös war, war ich doch froh, im fortgeschrittenen Alter in der liberalen jüdischen Gemeinde die verschüttete Tradition meiner Familie näher kennenzulernen.

Meine religiöse Indifferenz wurde mir in der Gemeinde verziehen. Inzwischen hatten Magda und ich geheiratet und hatten einen gemeinsamen Sohn. Wir waren also ein Ehepaar mit zwei Kindern, einem von Magda und einem gemeinsamen, und präsentierten uns in der an Kindern armen Gemeinde als eine ideale jüdische Familie. Das war wichtig, denn die jüdische Tradition sollte nicht mit unserer Generation aussterben. Und Magda, die aus falsch verstandener Loyalität zu mir Jüdin geworden war, wurde, wie es für Konvertiten meist üblich ist, schon bald eine viel eifrigere Jüdin als ich. „Du glaubst doch nicht an Gott. Also bist du kein Jude“, warf sie mir anlässlich einer Auseinandersetzung vor. Das war unerhört! Es war für mich eine größere Beleidigung, als der in der Kindheit vernommene antisemitische Ruf „Jude, Jude“. Wie es im Leben oft ist, unsere nach außen getragene Fassade einer idealen Ehe trog. Nach mehr als zehn Jahren Ehe trennten wir uns. Doch das war nicht ungewöhnlich in Deutschland, wo fast jede zweite Ehe geschieden wurde. Unsre Trennung war somit ein typischer Fall, eigentlich nicht der Rede wert. Doch da sie mir nicht mehr imponieren musste, entfiel für Magda der Grund, Jüdin zu sein. Die beiden Söhne, ihren und unseren gemeinsamen, entfremdete sie von nun an von mir und vom Judentum. Der Kontakt brach ab, ich habe einen Sohn verloren.

Meine „jüdischen Gene“


Jedoch, als ich nach der Trennung von Magda nach Berlin gezogen bin, geschah ein Wunder. Meine inzwischen dreißigjährige Tochter, die bei ihrer Mutter ohne jeden Kontakt zu mir in der DDR aufgewachsen war, meldete sich per Email bei mir. Sie war auf den ihr unbekannten Vater neugierig, den sie nur aus meinem autobiografischen Buch kannte. Es war gewissermaßen eine ausgleichende Gerechtigkeit: Ich hatte einen Sohn verloren und nun eine Tochter gewonnen. Den glücklichen Umstand ihrer Existenz verdankte ich dem festen Entschluss ihrer Mutter, einer jungen Ärztin, von mir ein Kind zu bekommen, obwohl wir beide nicht in einer festen Beziehung gelebt hatten. Sie ging dabei von der vagen Überlegung aus, dass ich als Jude an ihr Kind das Gen der Genialität weitergeben würde.  Man mag sich darüber streiten, ob dieses für mich schmeichelhafte Vererbungsexperiment geglückt ist oder nicht. Traurig ist aber die Tatsache, dass durch unsere Trennung und, nach Verlassen der DDR, mein Leben auf der anderen Seite der innerdeutschen Grenze, ich keinen Kontakt zu meiner in Dresden lebenden leiblichen Tochter hatte, weshalb ich keinen erzieherischen Einfluss auf sie haben konnte. Und mein inzwischen langjähriger herzlicher Kontakt zu ihr, wie auch unsere gemeinsamen Reisen nach Israel, nützen nichts: Eine Empathie zur jüdischen Tradition und Geschichte sowie zu Israel konnte ich in ihr nicht wecken. Was mich aber besonders schmerzt ist, dass sie trotz aller meiner Überzeugungsversuche in der Existenz Israels keinen Sinn erkennt. Dabei glaubt sie im Recht zu sein, denn ihre Auffassung deckt sich mit der eines erheblichen, sich progressiv wähnenden Teils ihrer Generation, dass nämlich das heutige Israel mit dem tragischen Schicksal der Juden in der Vergangenheit nichts zu tun habe und nicht mit ihm begründet werden könne.  Man könne den Massenmord an Juden durch die Nazis verurteilen und zugleich ein Gegner Israels sein. Darüber kann ich mit meiner Tochter nicht diskutieren. Denn als typische Deutsche der zweiten Nachkriegsgeneration und von Mutterseite Enkelin eines ehemaligen Kämpfers im Auftrag Hitlers in der Legion Condor für den spanischen Faschistenführer Franco, fühlt sie sich kompetent und berufen, rigorose moralische Urteile über das heutige Israel zu fällen. Mein Bangen um das Schicksal Israels ist ihr unverständlich. Und sie kann nicht begreifen, was mich mit dem Judentum und Israel verbindet. Wir leben in verschiedenen Welten. Doch ihre Welt scheint heute realer zu sein als meine, weil aus der in Deutschland dominierenden Auffassung, Juden seien kein Volk, sondern lediglich eine Religionsgemeinschaft, unmittelbar folgt, dass Israel überflüssig ist. Denn einen Staat braucht man wohl für ein Volk, nicht aber für eine Religionsgemeinschaft.

Muss man als Jude religiös sein?

Der französische Philosoph Alain Finkielkraut, von Geburt wie ich ein polnischer Jude, hat 1982 ein Buch unter dem Titel „Der eingebildete Jude“ veröffentlicht. Darin hat er Juden wie er selbst und ich, die ohne in jüdischer Tradition aufgewachsen und ohne religiös zu sein sich emotional dem jüdischen Volk zugehörig fühlen und für Israel engagieren, als „eingebildete Juden“ bezeichnet, das heißt als Menschen, die sich nur einbilden, Juden zu sein. Eine noch krassere Bezeichnung für diese Spezies von Juden fand der marxistische Schriftsteller Isaak Deutscher. Er nannte sie „nichtjüdische Juden“. Doch Alain Finkielkraut wie mir ist aus der Kindheit als Jude unter polnischen Katholiken die Affinität zum jüdischen Milieu sowie die Sensibilität für Anfeindungen geblieben, denen Juden in Polen und weltweit ausgesetzt waren und nach wie vor sind. Seine solidarische Haltung zu Israel hatte ihn vom linken Milieu Frankreichs entfremdet. Allerdings, das muss ich mir und vermutlich auch ihm unbekannterweise vorhalten, haben wir beide, trotz der uns wesentlich prägenden polnisch-jüdischen Wurzeln, nicht durch das Erlernen der Sprache Jiddisch die Brücke zur Vergangenheit geschlagen, um der durch die Nazis weitgehend vernichteten osteuropäischen jüdischen Kultur eine winzig kleine Überlebenschance zu bieten. Doch ist es schwierig, bei den wenigen Juden, die heute in Deutschland leben, in Frankreich mag es etwas anders sein, eine säkulare jüdische Tradition zu pflegen und an die nächste Generation weiterzugeben.

Bald erreiche ich das Alter von achtzig Jahren. Doch erfreue ich mich bester Gesundheit und alt fühle ich mich nicht, so lange meine Neugier auf die Zukunft stärker ist als mein Grübeln über die Vergangenheit. Zu jüdischen Feiertagen, Pessach, Rosh Haschana, Jom Kippur, suche ich mit meiner drei Jahre älteren Schwester eine der Berliner Synagogen auf. Meine finnische Partnerin hat keine Ambition, Jüdin zu werden. Sie glaubt nicht, dass man ohne einen familiären Bezug wirklich jüdisch werden kann. Aber sie verfolgt mit großem Interesse die Lage in Israel. Nachdem sie ihre Angst nach Israel zu reisen überwunden hat, ist es für sie das beste und interessanteste Land auf der Welt geworden, um dessen Zukunft sie mehr bangt als ich. Ich könnte mich als Rentner zufrieden zurücklehnen. Doch manchmal befällt mich ein Unbehagen darüber, dass mit meiner Generation, nicht nur in Deutschland, womöglich das Wissen verloren geht, dass man als Jude nicht unbedingt religiös sein muss. Ohne dieses Wissen ist es aber in der modernen, aufgeklärten Welt schwierig, eine positive Einstellung zu Israel zu haben.




Der Autor

GABRIEL BERGER

... wurde 1944 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren. Sein Vater ging 1948 freiwillig nach Polen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der polnische Antisemitismus zwang ihn jedoch 1957, seine Teilnahme am sozialistischen Experiment in die DDR zu verlegen.

Gabriel Berger besuchte in Leipzig die Oberschule und studierte in Dresden Physik. Danach war er in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im Jahre 1968 verlor der junge Physiker den Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. 1975 stellte er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin. Dort arbeitete er zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den achtziger Jahren studierte er Philosophie und veröffentlichte Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk. Inzwischen ist er Rentner und als Buchautor tätig.

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