Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 292

Oktober 2019

Die Debatte um Antisemitismus und Rechtsextremismus hat seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle und den dabei zu beklagenden Todesopfer rechter Gewalt eine Brisanz angenommen, deren Dringlichkeit und Notwendigkeit eigentlich nicht mehr zu verdrängen sein sollte. Dies gilt gleichermaßen für die Diskussion um die geistigen Brandstifter rechter Gewalt im politischen Raum in Form des in Europa und darüber hinaus grassierenden Rechtspopulismus. Beiden Themen - Antisemitismus und Rechtspopulismus - sollen daher in den nächsten ONLINE-EXTRA-Ausgaben durch zwei Beiträge des österreichischen Politik- und Kommunikationswissenschaftlers Maximilian Gottschlich eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. (Nähere Angaben zum Autor wie üblich in der Autoren-Info am Ende des Beitrags).

Den Beginn macht im heutigen ONLINE-EXTRA ein Essay von Gottschlich, der sich unter der Überschrift "Vergangenheit ist gestern" mit der Frage auseinandersetzt, "was den Rechtspopulismus so erfolgreich macht". Gottschlichs Beitrag erschien in der jüngsten Ausgabe der renommierten, 1897 von Theodor Herzl gegründeten Zeitschrift "Illustrierte Neue Welt" und wird an dieser Stelle dankenswerter Weise mit Genehmigung des Autors publiziert.

Ende diesen und im Lauf des kommenden Monats folgt sodann in zwei Teilen eine umfangreiche Studie über "Die tiefreichenden Wurzeln des (europäischen) Antisemitismus", die Gottschlich im Auftrag des Präsidenten des österreichischen Nationalrats verfasst hat. Dazu an gegebener Stelle mehr.

Hier nun also zunächst ONLINE-EXTRA Nr. 292 mit dem Beitrag von Maximilian Gottschlich unter dem Titel: "Vergangenheit ist gestern. Was den Rechtspopulismus so erfolgreich macht".

COMPASS dankt dem Autor herzlichst für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2019 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 292


Zukunft ist Gestern

Was den Rechtspopulismus so erfolgreich macht


MAXIMILIAN GOTTSCHLICH
 


Die anhaltenden Erfolge der autoritären Rechten verdanken sich nicht überzeugender politischer Ideen und Lösungen, sondern speisen sich aus einem kollektiven Lebensgefühl: einer um sich greifenden, wachsenden Zukunftsangst. Sie ist der Treibstoff des Rechtspopulismus. Für immer größere Teile demokratischer Gesellschaften wird die Zukunft zunehmend als Bedrohung und nicht als einlösbares Versprechen auf ein besseres Leben gesehen.

Globalisierung, Massenmigration, Klimakrise, soziale und materielle Abstiegsängste, um nur einige der bedrohlich empfundenen Schreckensszenarien zu nennen, lassen die Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit zum beherrschenden Grundgefühl werden, wobei es sich freilich um die Fiktion einer Vergangenheit handelt, die es so nie gegeben hat.

Unterhalb der Oberfläche des gesellschaftlichen Bewusstseins breitet sich in den kollektiven Tiefenschichten der postindustriellen Gesellschaft eine gegenläufige, regressive Grundströmung aus. Dieser Antagonismus zwischen progressiver, evolutionärer Entwicklung einerseits und regressiven Sehnsüchten andererseits hat weitreichende Folgen: Er befeuert negative, sozial-pathologische Kräfte – allen voran Hass und Gewalt, sowie ein kollektives Grundgefühl der Angst. Und davon profitiert die autoritäre Rechte.



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ILLUSTRIERTE NEUE WELT
Gegründet 1897 von Theodor Herzl


Ausgabe 3/2019
Wien 2019

40 S.
Euro 6,50





Weitere Infos und Bestellmöglichkeit



Vor mehr als 100 Jahren gründete Theodor Herzl, Feuilletonist der bürgerlich-liberalen Tageszeitung "Neue Freie Presse" (für die unter anderem auch Karl Marx tätig war) die "Welt".

In dieser Zeitung – der direkten Vorgängerin der heutigen Illustrierten Neuen Welt – vertrat Herzl, einer der Begründer des Zionismus und geistiger Vater Israels, erstmals vor einer größeren Öffentlichkeit seine Idee.

Die Zeitung ist somit ein historisch bedeutendes Bindeglied zwischen Israel und Österreich und der Nachweis dafür, dass es in Wien lebendige Wurzeln des Staates Israel gibt.

Heute beschäftigt sich die Illustrierte Neue Welt hauptsächlich mit Themen wie interkulturelle Verständigung, Zeitgeschichte, Politik und Kultur.

Die Zeitung wird weltweit verbreitet und verfügt über ein internationales Korrespondentennetz.

Derzeit erscheint diese traditionsreiche, überparteiliche Zeitschrift 6 mal im Jahr in einer Auflage von 15.000 Exemplaren, die großteils in Österreich, aber auch in der Schweiz, Deutschland, in den USA, England und in Israel gelesen werden.



Regressive Grundströmung

Der polnisch-englische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman bezeichnet das Phänomen wachsender Zukunftsabkehr, bei gleichzeitiger kollektiver Sehnsucht nach einer nostalgisch verklärten Vergangenheit, in wachsenden Teilen westlicher Gesellschaften mit dem Begriff „Retrotopia“. Darunter versteht er die kollektive Absage an Visionen, die sich aus einer noch ausstehenden Zukunft speisen. Zukunft wird nicht mehr als Verheißung eines besseren Lebens empfunden, sondern als Zumutung. „Die Straße nach Morgen“, so charakterisiert Bauman die kollektive Befindlichkeit „wird zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls. Vielleicht erweist sich da der Weg zurück, ins Gestern, als Möglichkeit, die Trümmer zu vermeiden, die die Zukunft jedes Mal angehäuft hat, sobald sie zur Gegenwart wurde?“

In der nostalgischen Verklärung lässt sich in den aufgehäuften Trümmern der Geschichte bequem Unterkunft und Zuflucht finden. Lieber zurück „in ein halbvergessenes Gestern, an dem man vor allem dessen vermeintliche Stabilität und folglich Vertrauenswürdigkeit schützenswert fand“ als eine ungewisse, unbeherrschbar erscheinende und daher nicht vertrauenswürdige und bedrohliche Zukunft. Die Zukunft erscheint monströs, die Vergangenheit, richtiger: die Fiktion der Vergangenheit, lockt als idealisierter und verklärter Sehnsuchtsort.

Diese regressiven Tendenzen führen nach Meinung des Literaturwissenschaftlers Hartmut Heuermann dazu, dass sich die Kultur „in bestimmten Bereichen rückwärts entwickelt, dass sie sich dem geschichtlichen Fortgang verweigert und das geistige Leben umkehrt. Oberflächenentwicklungen, die dem Zeitgeist folgen, werden unterminiert von Tiefenströmungen… Wir haben es mit einer konträren Dynamik zu tun, die die Kultur spaltet und regressive Strebungen im Konflikt mit progressiven Anpassungen Vorschub leistet. Wir entdecken Erfahrungsmuster, die gewissermaßen Verrat am geschichtlich erreichten Entwicklungsstand begehen. Themen werden wiederbesetzt, die wir in der mentalen und kulturellen Evolution „abgehackt“ wähnten. Symbole tauchen wieder auf, von deren geistigen Ableben wir schon überzeugt waren.“ Und Heuermann weiter: „Je schwieriger die Anpassung an lebensweltliche Veränderung, je drückender die Lasten gesellschaftlicher Verantwortung, je schneller die rasenden Räder der geschichtlichen Zeit – desto spärlicher offenbar die Quellen persönlichen Glücks und desto verlockender daher der Rückzug in jene Schutzburgen des Seelischen, die von Regressionen gebildet werden. Sie versprechen zu schützen, was das Leben gefährdet. Aber das Versprechen ist trügerisch…“



BÜCHER von MAXIMILIAN GOTTSCHLICH





Politik der Angst

Die Rechtspopulisten befeuern diese regressiven Tendenzen in der Gesellschaft mit falschen Heilsversprechen, einer national-chauvinistischen Rhetorik und mit – nicht selten antisemitischen – Verschwörungstheorien, mit deren Hilfe sie aus der Krise ideologisches Kapital zu schlagen suchen. Deswegen hat die autoritäre Rechte eine einzige politische Agenda: diese Ängste zu schüren und durch immer neu variierte Bedrohungsszenarien am Kochen zu erhalten. Die Zukunft wird damit im öffentlichen Bewusstsein genau zu jenem prolongierten Alptraum, vor dem, so die Botschaft der Rechten, nur die Rezepte der Vergangenheit retten können. Zu diesen, für die Gestaltung der Zukunft untauglichen Rezepten gehören vor allem eine Politik der Re-nationalisierung, der Separation und der Abschottung.

Durch den Rückgriff auf nationale Symbole und Mythen – nicht selten mithilfe von Verschwörungstheorien, etwa jener eines von jüdischer Seite geplanten Austauschs europäischer Bevölkerungen durch systematische Massenmigration – wird eine „antimoderne Mythologisierung der Geschichte“ (Svetlana Boym) betrieben. Die sozialen Netzwerke sind ein fruchtbarer Nährboden für diese Mythologisierung der Geschichte und sie werden von den Rechtspopulisten auch genauso instrumentalisiert.

Je mehr es gelingt diese Remythologisierung der Geschichte durch Verschwörungstheorien und durch die systematische Delegitimierung und Dämonisierung eines kritischen Journalismus als bloße „Fake- News“ voranzutreiben, desto mehr bindet sich das politische Urteil nicht an den öffentlichen und kritischen Diskurs, sondern an kollektiv geteilte Affekte und Vorurteile.

Im wiederbelebten, aber geschichtsvergessenen „Bündnis zwischen Elite und Pöbel“ (Hannah Arendt) führt dies etwa zur moralisch perversen und politisch absurden Überzeugung, dass die „Rettung des christlichen Abendlandes“ nur um den Preis des Verzichts auf Rettung tausender Ertrinkender im Mittelmeer gelingen kann. Was die rechtsgepolte und mit dem Rechtsautoritarismus sympathisierende Elite nicht versteht: Es hieße den Bock zum Gärtner zu machen, die tradierten Werte dieses jüdisch-christlichen Europas ausgerechnet jenen anzuvertrauen, deren ideologisches Selbstverständnis allen halbherzigen Beteuerungen zum Trotz immer noch tief verankert ist in der menschheitsverachtenden, rassistischen Ideologie der Nazi-Diktatur.

Diese europaweit an die Macht strebende autoritäre Rechte rettet weder Europa noch die kulturellen Werte, auf denen dieses Europa aufgebaut ist. Noch auch ist der Rechtsautoritarismus eine Antwort auf die, keineswegs kleinzuspielende, reale Gefahr des gewaltbereiten Islamismus.

Wenn Europa in seiner moralischen und politischen Orientierung Maß nimmt an den Rezepten der autoritären Rechten, die noch nirgends in Europa den politischen Praxistest jenseits unmaßgeblicher lokaler oder regionaler Aktivitäten bestanden haben – zuletzt lieferte Österreich mit dem politischen und moralischen Scheitern seiner ÖVP/FPÖ-Koalition ein anschauliches und warnendes Beispiel –, dann schafft sich dieses Europa als Wertegemeinschaft und supranationales Zukunftsprojekt ab. Und das ist ja letztlich auch das Ziel der autoritären Rechten: die Zerstörung dieses europäischen Projekts.



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Notwendig: Narrativ der Hoffnung

Aber den Problemen von heute, ist nicht mit Lösungen von gestern beizukommen. Die Bewältigung der Zukunft hängt an unserer Fähigkeit, die Kluft zwischen den – wie es der Soziologe Ulrich Beck formulierte – „kosmopolitischen Realitäten“ in einer globalen Welt und unserem „kosmopolitischen Bewusstsein“ kleiner und nicht größer werden zu lassen.

Am Beispiel der Klimakrise wird das ganz deutlich: Die drohende Klimakatstrophe ist nur abzuwenden, wenn wir zu globalen Lösungen und zu globalem Handeln kommen. Aber diese Einsicht verträgt sich nicht mit einer rechten Politik der Spaltung, der Separation zwischen „wir“ und „die anderen“, mit einer Bunkermentalität nationaler Abschottung und einem kollektiven Egozentrismus, mit dem die Rechtspopulisten Stimmung machen. Nichts ist dem vergangenheitsfixierten Rechtspopulismus ein größeres Gräuel, als ein solches kosmopolitisches Bewusstsein. Denn darin hätte die proklamierte „Kleingeisterei“, hätten die regressiven Tendenzen der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit im Gestern keinen Platz mehr. Heimat wäre dann nämlich nicht lokal, national oder territorial zu definieren, sondern planetarisch: Die Erde als Heimat einer Menschheit.

Deswegen bekämpft die Rechte so verbissen alle Warnungen vor der drohenden Klimakatastrophe und versucht den sich vor unserer aller Augen mit dramatischer Wucht vollziehenden Klimawandel als links-grünes Blendwerk und bloße Panikmache zu desavouieren.

Was wir heute mehr denn je im Zeichen zunehmend regressiver Tendenzen brauchen, ist ein progressives „Narrativ der Hoffnung“ (Paul Mason). Darin liegt die einzige, nachhaltige Alternative zur kollektiven Flucht vor dem Risiko einer bedrohlichen und unsicheren Zukunft. Die moralische, intellektuelle und politische Herausforderung lässt sich daher in einer einzigen Frage bündeln: Wie können wir zu jenem notwendigen universalen, kosmopolitischen Bewusstsein gelangen, auf dessen Grundlage die gemeinsame Arbeit an der Zukunft, also an der Lösung der bedrohlichen und drängenden Menschheitsprobleme überhaupt erst möglich und sinnvoll wird?

Der Rechtspopulismus ist keine Antwort auf die Probleme und die Bedrohungen der westlichen, demokratischen Welt. Er ist vielmehr selbst eine Bedrohung, weil er den Rechtssaat und die normativen Grundlagen der Demokratie unterminiert.



Der Autor

MAXIMILIAN GOTTSCHLICH

Prof. Dr., 1948 in Wien geboren. 1968 Studium der Publizistik, Pädagogik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien. Promotion 1974, von 1974 bis 1981 Universitätsassistent und Lektor an diesem mittlerweile umbenannten Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. 1981 Habilitation (Thema: „Journalismus und Orientierungsverlust. Grundprobleme öffentlich-kommunikativen Handelns“, Böhlau 1981). 1983 Berufung zum Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 1984 Gastprofessor in den USA (SIU Southern Illinois University) und in der BRD (Ludwig Maximilian Universität München). Von 1978-1994 stellvertretender Institutsvorstand. 1994 Gründung der „Europäischen Journalismus Akademie“ (EJA) als Universitätslehrgang zur postgradualen Journalistenausbildung an der Donau Universität Krems. 2000 Neugründung der EJA in Wien mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien am neuen Standort Universitäts-Campus (bis 2005). Seit Oktober 2013 ist Gottschlich emeritiert, hält aber weiter Vorlesungen zu den Themen Kommunikations- und Medientheorien, sowie Medien- und Kommunikationsethik. Gottschlich verfasste zwölf Bücher, zahlreiche Studien, Aufsätze und Artikel zu Problemen der modernen Kommunikationsgesellschaft, der Medien- und Kommunikationsethik, der Problematik des modernen Antisemitismus, des Verhältnisses von Religion, Medien und Gesellschaft sowie der Arzt-Patienten-Kommunikation. Sein besonderes Interesse gilt der jüdisch-christlichen Verständigung und Spiritualität. Er hält laufend Vorträge zu diesen Themen.

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