Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 290

Juli 2019

Vergangenes Wochenende wurde bekannt, dass die Bloggerin Marie Sophie Hingst, die sich eine fiktive jüdische Familiengeschichte zugelegt hatte und als Holocaust-Opfer ausgab, bereits am 17. Juli in Dublin tot aufgefunden wurde. Ein Fremdverschulden schloss die irische Polizei aus.

Hingst hatte in ihrem Blog "Read on my dear, read on" sowie in gefälschten Opferbögen für die Gedenkstätte Yad Vashem behauptet, sie stamme aus einer jüdischen Familie, die viele Mitglieder im Holocaust verloren habe. Der SPIEGEL entlarvte diese Angaben Anfang Juni diesen Jahres als falsch und frei erfunden. Der offenbare Freitod der gerade einmal 31-jährigen Frau (siehe hierzu vor allem: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 28. Juli 2019) stellt damit das ebenso erschütternde wie grelle Ende einer bizarren Gechichte dar, die alles andere als ein singuläres Phänomen in der jüngeren Geschichte Deutschlands anzusehen ist. So belegt es eindrucksvoll der nachfolgende Beitrag des Historikers Julius H. Schoeps, dessen Titel bereits programmatischen Charakter hat: "Eine deutsche Krankheit. Von der Sehnsucht und dem drängenden Verlangen, ein „jüdisches“ Opfer zu sein".

Schoeps schildert - ausgehend just von dem jüngsten Fall der Bloggerin Hingst - eine ganze Reihe markanter, nicht selten spektakulärer Fälle von einer fiktiv angeeigneten jüdischen Identität, die nach dem Holocaust und seit Kriegsende im deutschsprachigen Raum zu erleben waren. Hat man sich mit den von Schoeps geschilderten Beispielen vertraut gemacht, kommt man kaum umhin, dem Fazit des Autors zuzustimmen: "Man kann die geschilderten Fälle zweifellos nicht alle über einen Leisten schlagen, sollte sie aber als das ansehen, was sie tatsächlich sind – Phänomene einer Gesellschaft, die geradezu traumatisch an ihrer Vergangenheit leidet."

Zu Entstehung und Hintergund des nachfolgenden Textes von Schoeps beachten Sie bitte auch die Angaben des Autors zu Beginn der Fussnoten sowie die Buch-Anzeige im fortlaufenden Text.

COMPASS dankt dem Autor herzlichst für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2019 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 290


Eine deutsche Krankheit

Von der Sehnsucht und dem drängenden Verlangen, ein „jüdisches“ Opfer zu sein*


JULIUS H. SCHOEPS
 


Der Antisemitismus in Europa scheint – ob als freischwebendes, zeitloses Vorurteil, als obsessive Israel-Kritik oder als wahnhafte Gegnerschaft gegen alles Westliche – wieder eine beachtenswerte Konjunktur zu erleben. Wir registrieren aber auch – zumindest im deutschsprachigen Raum – einige merkwürdige Tendenzen von offensichtlicher Überidentifikation mit der jüdischen Gemeinschaft, dem Judentum und mit dem Staat Israel. Das führt zu merkwürdigen Erscheinungen, die wir uns angewöhnt haben, als Philosemitismus zu bezeichnen.

Das Phänomen Philosemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen kann eigenartige Blüten hervorbringen. Vorsicht ist hier geboten. Denn die Motive mancher Akteure, die sich mit Juden und Judentum identifizieren, bleiben unklar oder, wenn man genauer hinschaut, lassen sie sogar versteckte judenfeindliche Vorurteile erkennen. Der Grat zwischen Selbstinszenierung, individuellem Wahnsinn und subtiler Judenfeindschaft scheint sehr schmal zu sein, wie der Verfasser im Folgenden an einigen markanten Beispielen aus dem deutschsprachigem Raum belegen wird. 

Der eingebildete Jude: Der Fall Binjamin Wilkomirski

Im Jahre 1995 erschien im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp in Frankfurt ein Buch, das in kürzester Zeit zu einem „der besten Zeugnisse“ der Erinnerungsliteratur stilisiert wurde und dem Autor einen enormen Bekanntheitsgrad bescherte. Das Buch trug den Titel „Bruchstücke“, und sein Verfasser war eine gewisser Binjamin Wilkomirski. Es handelte sich bei diesem Buch um die angeblichen Erinnerungen eines kleinen Jungen, der seine als Kind im Konzentrationslager verbrachte Zeit in einer bilderreichen Sprache reflektiert.

Der Autor, der nach dem Erscheinen des Buches mit Lob und zahlreichen Literaturpreisen im In- und Ausland überhäuft wurde, stieß mit seinen „Erinnerungen“ auf ein großes Interesse und wurde überallhin eingeladen und bestaunt. Spielbergs Shoa-Foundation in Los Angeles dokumentierte seine Erinnerungen. Das Buch erklomm die Bestseller-Listen und war Tagesgespräch. Unermüdlich war Wilkomirski unterwegs, um sich und sein Buch dem Publikum zu präsentieren. In der Regel las er bei solchen Anlässen nicht selbst, sondern ließ seine Erinnerungen von jemandem Anderen lesen. Mitunter begleitete er höchstpersönlich den Vorleser, um dem Ganzen eine jüdische Note zu geben, mit der Klarinette.

Im „Fall“ Wilkomirski scheinen Autor und Lesepublikum sich geradezu gesucht und gefunden zu haben. Letzteres konnte sich mit der Leidensgeschichte eines kleinen Jungen identifizieren. Mit Wilkomirskis „Bruchstücken“ bekam das Lesepublikum etwas vorgesetzt, was es als attraktiv und aufregend empfand. Sicher wäre manches anders gekommen, wenn die Leser nicht getäuscht worden wären beziehungsweise wenn sie sich resistenter und kritischer gegenüber den Vermarktungsstrategien des Verlages verhalten hätten. Das aber war nicht der Fall.  

Am 27. August 1998 enthüllte der Journalist Daniel Ganzfried in einem Artikel der in Zürich erscheinenden „Weltwoche“, dass es sich bei Wilkomirski um einen Hochstapler, Lügner und Betrüger handele. In Wirklichkeit, so konnte man lesen, heiße der Autor des „Bruchstücke“-Buches nicht Wilkomirski, sondern Bruno Doesseker, der als Bruno Grosjean 1941 in der Schweiz geboren wurde und nach 1945 von dem Züricher Arztehepaar Doesseker adoptiert und gut bürgerlich erzogen worden ist.

Es war ein außerordentlicher Skandal, der monatelang die Gemüter erregte. Die Feuilletons der Zeitungen überschlugen sich mit Berichten. Man war sich einig, dass die Enthüllungen Ganzfrieds einem Erdbeben gleichkamen, das am Allerheiligsten gerüttelt hätte: nämlich an der Zeugenschaft, an der glaubwürdigen Erinnerung von Shoa-Überlebenden. Es ist mehr als eine bittere Ironie, dass sich ein Satz, der in Ankündigungstexten zu Auftritten von Bruno Doesseker alias Binjamin Wilkomirski nachzulesen ist, als wahr erweisen sollte: „Die Erinnerungen des Kindes nahm niemand ernst, sie galten den Erwachsenen als Ausgeburten einer wilden Phantasie“.



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Barbara Steiner:

Die Inszenierung des Jüdischen:
Konversion von Deutschen zum Judentum nach 1945.

Wallstein Verlag
Göttingen 2015


352 S.
Euro 29,90


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Das Judentum ist eine Religions- und Volksgemeinschaft, die nicht missioniert und in der aufgenommene Nichtjuden deshalb religiös einen prekären Status haben. Dass ausgerechnet christliche Deutsche nach 1945 vermehrt zum Judentum konvertierten, irritierte die überlebenden Juden.

Barbara Steiner untersucht die Aufnahmebedingungen für Nichtjuden, die Veränderungen der Motive und der biographischen Selbstpräsentation deutscher Konvertiten. Ihre Arbeit basiert neben umfangreichen Archivrecherchen auf der Auswertung von Interviews mit Konvertiten und den aufnehmenden Rabbinern.

Die Akzeptanzprobleme deutscher Konvertiten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die aus ihrem Sonderstatus und dem besonderen historischen Kontext resultierten, werden ebenso erörtert wie deren Reaktionen darauf. Die Autorin kann trotz des von allen Beteiligten gleichermaßen gepflegten Tabus der Konversion erklären, wie es nichtjüdischen Deutschen im Schatten der Schoa gelang, ins Judentum aufgenommen zu werden.

Ausgezeichnet mit dem Potsdamer Nachwuchswissenschaftler-Preis 2014.



Eine fiktive Familiengeschichte, oder: Der Großvater, der angeblich ein Auschwitz-Häftling war

Der Wilkomirski-Skandal in der Schweiz ist nicht ein Einzelfall in unseren Tagen. Von dem SPIEGEL-Redakteur Martin Doerry wurde kürzlich in einem Artikel eine Betrugsgeschichte öffentlich gemacht, über die der Leser nur noch fassungslos den Kopf schütteln kann. Doerry deckte mit Hilfe einer Expertin für internationale Personenrecherche auf, dass es sich bei der deutschen Historikerin und Bloggerin Marie Sophie Hingst um eine Hochstaplerin handelt, die sich kunstvoll eine jüdische Familiengeschichte zurechtphantasiert habe. Sie sei, so behauptet sie, Kind einer jüdischen Familie, die zahlreiche Angehörige im Holocaust verloren habe.1 

Was diesen Fall ebenfalls zu einem Skandal machte, ist die von Marie Sophie Hingst in ihren Blog „Read on my dear, read on“ verbreitete Story, nach der 22 Menschen ihrer Familie zu Opfern des NS-Regimes wurden. Um das glaubhaft zu machen, fälschte Hingst Unterlagen und sandte diese der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Wie Doerry ermittelte, haben von den 22 dort von ihr gemeldeten Opfern nur drei Personen tatsächlich gelebt. „Keiner von ihnen“, so Doerry, „war Jude, keiner wurde ermordet“.

Ihrem Großvater sowie ihrer Großmutter dichtete Marie Sophie Hingst eine jüdische Herkunftsgeschichte an. Rudolf Hingst, der Großvater (seines Zeichens ein Pastor in der Friedrichstädter Gemeinde in der Lutherstadt Wittenberg) so erzählte sie, sei Häftling in Auschwitz gewesen. Ihr Urgroßvater, dessen Ehefrau und deren vier Söhne seien in Auschwitz ermordet worden (nur der fünfte Sohn, der Großvater der Bloggerin, besagter Rudolf Hingst) habe überlebt.

Konfrontiert vom SPIEGEL mit ihren märchenhaft ausgeschmückten Erzählungen ließ Marie Sophie Hingst über einen Anwalt mitteilen, daß die Texte ihres Blogs „ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit“ für sich in Anspruch nähmen. Es handele sich, so die Ausrede, die sie sich zurechtgelegt hatte, um Literatur, „nicht um Journalismus oder Geschichtsschreibung“

Wie sehr sich die Öffentlichkeit gutgläubig durch Erzählungen dieser Art hinters Licht führen ließ, zeigt sich daran, dass Marie Sophie Hingst ähnlich wie Doesseker/Wilkomirski mit Preisen und Ehrungen überhäuft wurde. 2017 wurde sie gar zur „Bloggerin des Jahres“ gewählt und erhielt einen der sechs Preise des „Future of-Europe-Projekts der „Financial Times“. Bei der Preisverleihung erwähnte sie wieder den Leidensweg ihrer Familie und verglich deren Schicksal mit dem der Flüchtlinge, die heute an Europas Küsten stranden. „Es gab“, so Martin Doerry, „starken Beifall“

Um was handelt es sich im Fall von Marie Sophie Hingst? Ist sie nur eine Hochstaplerin und Wichtigtuerin? Oder haben wir es mit dem krankhaften Wunsch einer jungen Frau zu tun, ein jüdisches Opfer sein zu wollen? Es fällt schwer, einen eindeutigen Befund zu konstatieren. Zu Recht, fragt Martin Doerry, ob nicht durch sie und ihre Erzählungen im Nachhinein all jene verhöhnt werden, „die wirklich von den Nazis gequält und umgebracht wurden“.

Dass Menschen, bedingt durch irgendwelche Umstände, in eine andere Rolle schlüpfen, sich eine andere Identität zulegen, ist zwar nicht das Übliche, aber etwas Anormales ist es auch nicht. Träume, Sehnsüchte, häufig auch der Wunsch, sich in einem anderen Licht darzustellen, also etwas Anderes zu sein, als das, was man in seiner Person tatsächlich verkörpert, hat es schon immer gegeben. Die Kriminalakten sind voll von Fällen dieser Art.

Ein Blick zurück in die Vergangenheit zeigt, dass es in der Tat solche Fälle schon immer gegeben hat. Der Publizist und Satiriker Oskar Panizza etwa hatte 1893 eine Novelle mit dem Titel „Der operierte Jud“ veröffentlicht, ein Stück, mit dem er seine Zweifel an der Möglichkeit der Anpassung der Juden an die Umgebungsgesellschaft zum Ausdruck brachte. Es ist die Geschichte eines Juden, der sich um „arischer“ auszusehen und um ein Mädchen „rein germanischer“ Abstammung heiraten zu können, Nase und Gesicht operieren lässt. Als Antwort darauf verfasste der Philosoph Salomo Friedländer, bekannt als Mynona, zu Beginn der Weimarer Republik seine Novelle „Der operierte Goy“.

In dieser heute weitgehend vergessenen Novelle geht es darum, dass sich der Spross eines alteingesessenen preußischen Adelsgeschlechtes mit einer ausgeprägten antisemitischen Einstellung in eine Jüdin vergafft. Er wird zwar nicht operiert, verändert also nicht sein Aussehen, dafür mutiert er zu einem begeisterten Zionisten, geht nach Jerusalem und nimmt den Namen Moische Koscher an. Das Sujet der Verwandlung ist also, was man mit diesem Fall durchaus belegen kann, nicht erst ein Thema der neueren deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte.

Was, so müssen wir uns fragen, macht es so besonders aufregend, in die Rolle des Opfers zu schlüpfen, und zwar eines „jüdischen“ Opfers? Warum legen Menschen falsches Zeugnis ab, vielleicht, so merkwürdig das klingen mag, um von der Gewinner- auf die Verliererseite überzuwechseln? Oder ist es eher umgekehrt, dass die vermeintlichen Verlierer von ehedem in unserer heutigen Zeit als die eigentlichen Gewinner dastehen wollen? Gibt es vielleicht sogar so etwas wie ein weitverbreitetes gesellschaftliches Bedürfnis, sich in jemand anderes zu verwandeln, sich eine Opferrolle anzueignen und sich mit dieser zu identifizieren?

Gehören Fälle wie derjenige von Bruno Doesseker alias Binjamin Wilkomirski und jüngst derjenige von Marie Sophie Hingst in den Bereich der Psychiatrie oder in die Annalen der Kriminalgeschichte? Oder ist es vielleicht doch nur ein modischer Trend, ein Trend, der dem Thema Erinnerung an die Shoa immanent ist? Auf jeden Fall scheint es heute im deutschsprachigen Raum geradezu en vogue zu sein, sich mit den Opfern der Shoa und deren Schicksalen zu identifizieren. Vielleicht handelt es sich dabei um Auswüchse eines übersteigerten und fehlgeleiteten Philosemitismus? Darüber kann man aber nur spekulieren.



Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ)

Das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ), im Jahre 1992 gegründet und nach dem Philosophen und Aufklärer Moses Mendelssohn (1729-1786) benannt, ist ein interdisziplinär arbeitendes wissenschaftliches Forschungszentrum, das historische, philosophische, religions-, literatur- und sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung betreibt.

Als An-Institut der Universität Potsdam ist es maßgeblich am Studiengang "Jüdische Studien/Jewish Studies" beteiligt. Die Mitarbeiter, Fellows und Lehrbeauftragten des MMZ bringen die gesamte Breite ihrer wissenschaftlichen Fragestellungen und Kenntnisse in die Lehre dieses Studiengangs ein.

Weitere Informationen:
Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ)



Auswüchse eines ins Gegenteil verkehrten Philosemitismus: Karin Mylius, Wolfgang Seibert, Irena Wachendorff und Edith Lutz

Es wäre ein Irrtum, zu meinen, die Fälle Doesseker/Wilkomirski und Hingst seien bedauerliche Ausrutscher. Das ist jedoch nicht der Fall. Es gab und es gibt, wie wir mittlerweile wissen, eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Fälle, nicht nur in der alten Bundesrepublik, sondern auch in der seinerzeitigen DDR. Erinnert sei zum Beispiel an den spektakulären Fall der Karin Mylius, die keine Jüdin war, aber steif und fest behauptete, jüdischer Herkunft zu sein. Sie gerierte sich als Überlebende der Shoa, gab an ein jüdisches Findelkind mit dem Namen Karin Morgenstern gewesen zu sein und machte kurzerhand Vater und Mutter zu Adoptiveltern. Ihre leiblichen Eltern und ihr Bruder, erklärte sie, seien vor ihren Augen erschossen worden.

Bei solchen Behauptungen sollte es aber nicht bleiben. Mylius ließ sich zur Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Halle wählen und amtierte als Rabbinerin in Rabbinertracht. Des Hebräischen nicht mächtig, fanden die von ihr geleiteten Gottesdienste in einer Phantasiesprache statt. Sie schmückte sich, um ihre vorgeblichen „Kompetenz“ in Fragen jüdischer Theologie zu belegen, mit dem fiktiven Titel „Dr. theol.“ Dass sie sich den Dr.-Titel selbst verliehen hatte, gab der ganzen Angelegenheit noch ein besonderes Gschmäckle.

Karin Mylius stilisierte sich als Vorzeigejüdin für Nichtjuden. Sie genoss politischen Rückhalt bei den Behörden, was in erster Linie damit zusammenhing, dass sie als systemtreu galt und die Interessen der DDR gegenüber den Juden und dem Staat Israel bedingungslos verteidigte. Obwohl sie schließlich als Lügnerin und Hochstaplerin enttarnt wurde, blieb alles beim Alten. Ein Skandal war nicht erwünscht, weder seitens der DDR-Behörden noch von jüdischer Seite, der die Angelegenheit überaus peinlich war und die darüber den Mantel des Schweigens zu decken versuchte.

Ein ähnlicher Fall wie derjenige von Karin Mylius ist der von Wolfgang Seibert, der zwar nicht in der DDR, aber in Pinneberg bei Hamburg einige Jahre als Vorsitzender der dortigen Jüdischen Gemeinde amtierte. Auch er war ein Täuscher, ein Lügner und Hochstapler, der sich ebenfalls eine jüdische Identität zugelegt hatte. Er behauptete, folgt man den Berichten in den Medien, seine Großeltern hätten Auschwitz überlebt, der Vater sei vor den Nazis nach England geflohen und die Mutter stamme aus der Ukraine.

Es war der SPIEGEL, der schließlich das Lügengebäude zum Einsturz brachte.2 In Wahrheit besaß Wolfgang Seibert, Jahrgang 1947, evangelische Eltern, die keinerlei jüdische Wurzeln hatten. Als er vom SPIEGEL mit seinen Behauptungen konfrontiert wurde, ließ er über seinen Anwalt mitteilen, dass er - man beachte die feine Unterscheidung - leiblich zwar nicht-jüdische Eltern habe, aber von jüdischen Pflegeeltern aufgezogen worden sei. Die Formulierung „nicht-jüdische“ Eltern ist bewusst gewählt und ist ganz offensichtlich der Versuch, sich im Nachhinein von seinen „christlichen“ Eltern zu distanzieren.

Was auch immer. Ein irgendwie geartetes Unrechtsbewusstsein scheint Seibert nicht zu haben. Er nutzte gekonnt, seine Stellung als Gemeinde-Vorsitzender, um sich als Kämpfer gegen Faschismus und Antisemitismus in Szene zu setzen. Ein gewisses Renommee brachte ihm, dass er sich u.a. an der Spitze von AfD-Demos sehen ließ. Seine Behauptung, er hätte in Haft gesessen, weil RAF-Terroristen versteckt habe (tatsächlich hatte er wegen Betruges und Unterschlagung im Gefängnis gesessen!), stieß indes bei dem einen oder anderen, die mit ihm zu tun hatten, auf Skepsis. Aber man schwieg. Die Angst, als Antisemit zu gelten, war wohl der Grund, dass man Seiberts Lügengeschichten widerspruchslos hinnahm und sich nicht weiter über sie echauffierte.

Ein ähnlich gelagerter Fall wie der von Karin Mylius und der von Wolfgang Seibert ist derjenige der Lyrikerin Irena Wachendorff aus linksrheinischen Remagen, die sich als Tochter die Shoa überlebt habender jüdischer Eltern ausgab und gibt. Sie fiel vor nicht allzu langer Zeit durch eine heftig vorgetragene Israelkritik auf. Ihre dabei mit Verve vorgetragenen antizionistischen Positionen rechtfertigte sie mit ihrer angeblichen jüdischen Herkunft und, dass sie als Tochter von Shoa-Überlebenden das Recht dazu habe, sich kritisch mit Israel und dessen Politik auseinanderzusetzen. 

Die von ihr vorgetragenen Begründungen lassen aufhorchen. Ihr verstorbener Vater, so argumentiert Irena Wachendorff, sei ein „orthodoxer“ Jude gewesen, die Mutter hätte Auschwitz überlebt. Beides stimmte nicht, wie die den Fall nachrecherchierende Journalisten inzwischen festgestellt haben. Der Vater war, wie die Recherchen ergaben, ein deutscher Wehrmachtsoffizier, die Mutter keine Auschwitz-Überlebende, sondern eine biedere deutsche Hausfrau. Beide, Vater wie Mutter, waren im Übrigen keine Juden, sondern im Christentum erzogen worden.

Bei diesen Falschbehauptungen sollte es allerdings nicht bleiben. So gab Irena Wachendorff an, nicht nur in der Kölner liberalen Gemeinde Gescher-le-Massoret bei Gottesdiensten sich als Vorbeterin betätigt und, was geradezu abenteuerlich klingt, sie weil auch im israelischen Militär gedient haben. In ihrer Studie „Konversionen von nichtjüdischen Deutschen zum Judentum nach 1945“ bezeichnet Barbara Steiner Irena Wachendorff als den klassischen Fall einer Antisemitin, „die ihre Ressentiments gegen Juden auf Israel projiziere“.

Im Fall der Irena Wachendorff haben wir es ganz offensichtlich mit einer Person zu tun, die unter der Flagge der „falschen Jüdin“ segelt. Sie habe sich in dieser Rolle, so Barbara Steiner, zur jüdischen Kronzeugin nichtjüdischer Antisemiten und Israel-Kritiker entwickelt. Verrückt? Ein Fall für die Psychiatrie? Mag sein. Aber ganz so abwegig, wie sich das anhört, ist der Fall dann auch wieder nicht. Irena Wachendorff steht für eine ganze Reihe vergleichbarer Fälle, die als typisch gelten können.

Auch Edith Lutz, eine sich als Jüdin gebärdende Aktivistin, die für einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern eintritt, wogegen man grundsätzlich nichts einwenden kann, auch wenn die von ihr gegenüber Israel geäußerte Kritik mitunter abstruse Züge hat, ist hier in diesem Zusammenhang zu nennen. Allerdings hat sie ihr Engagement derart auf die Spitze getrieben, dass man sich nur noch verwundert die Augen reibt und anfängt, Fragen zu stellen. Wer ist die Dame? Wo kommt sie her? Ist sie tatsächlich eine Jüdin? Was bezweckt sie eigentlich mit ihrem Engagement?

Edith Lutz, die „Jeanne d’Arc aus Sötenich in der Eifel“, wie Henry M. Broder sie nennt, hat, was ihren persönlichen Hintergrund betrifft, keinerlei jüdische Bezüge. Sie hat zwar Jüdische Studien studiert und bei einem Kollegen der Universität in Potsdam mit einer Arbeit über Heinrich Heine promoviert. Aber das dürfte schon alles sein. Schon damals, in ihrer Zeit als Doktorandin, fiel auf, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Jedoch, wie das in solchen Fällen häufig ist, man hielt es nicht für notwendig, nachzufragen und der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Ihre Behauptung, sie sei zum Judentum übergetreten, und gehöre einer Gemeinde an, ist jedenfalls, folgt man den Recherchen des Journalisten Henryk M. Broder, durch nichts belegt. 

Für einiges Aufsehen sorgte Edith Lutz, als sie in der Gruppe derjenigen auftauchte, die auf der Marvi Marmara Hilfsgüter nach Gaza bringen wollte. In den Medien wurde sie als verantwortliche „deutsche Jüdin“ bezeichnet, die die „Lieferung“ für Gaza mitorganisiert habe. Das Schiff, das die Seeblockade zu durchbrechen versuchte, wurde bekanntlich von der israelischen Marine aufgebracht. Edith Lutz und ihre Mitstreiter wurden vorübergehend In Gewahrsam genommen und dann nach Europa abgeschoben.    

Warum Edith Lutz und Irena Wachendorff sich als Jüdinnen ausgeben, darüber kann man nur spekulieren. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass sie glauben, als Nicht-Jüdinnen würde man sie und ihre Stellungnahmen nicht ernst nehmen. Sieht man sich die Umstände an, warum sie sich als Jüdinnen ausgeben, dürfte damit zusammenhängen, dass sie glauben, dass sie sich mit dem „jüdischen Ticket“ besser Szene setzen können. Das Schlüpfen in die jüdische Opferrolle scheint beiden Frauen als ein als probates Mittel zu dienen, um vor der Öffentlichkeit ihr Engagement als Israelkritikerinnen zu legitimieren.

Als „Alibijuden“, so Barbara Steiner, erfüllen die beiden Frauen, Edith Lutz und Irina Wachendorff, jeweils eine wichtige Funktion. Man sah und sieht sie in Teilen der nichtjüdischen Gesellschaft als Expertinnen fürs Judentum an. Beide agierten, bis zu dem Zeitpunkt ihrer Enttarnung, in einem hauptsächlich von Nichtjuden geprägten Milieu. Sie legitimierten die überzogene Kritik an der Politik Israels, vertraten antizionistische Positionen, „ohne dabei selbst in den Verdacht zu geraten, Antisemitin[nen] zu sein“.  




Der Täter als Opfer: Der Fall Hermann Wilhelm Schmidt

Das sich Aneignen und Zulegen einer jüdischen Identität, hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit häufig auch mit den Bemühungen zu tun, die einstige NS-Vergangenheit zu vertuschen. Da ist beispielsweise der Fall des Hermann Wilhelm Schmidt alias Alexander Eugen Fürth oder Firth, der Mitglied der SS und an der Ermordung von Kriegsgefangen in Polen und geistig behinderten Menschen beteiligt gewesen sein soll. Der Fall ist so schräg, so aberwitzig, dass man ihn kaum zu glauben vermag. Aber den Fall hat es tatsächlich gegeben.

Besagter Hermann Wilhelm Schmidt ist für seine Taten im NS-Regime nach Kriegsende nicht zur Verantwortung gezogen worden, sondern hat sich stattdessen eine Verfolgtenbiographie zugelegt, die es ihm gestattete, unerkannt unterzutauchen. Nach 1945 schlüpfte er in die Rolle eines Überlebenden. Als Arzt, der er nicht war, lebte er, wie es heißt, von 1949 bis 1963 unter falschem Namen im israelischen Ashkelon. Angeblich, so heißt es, hätte er dort sogar als Arzt praktiziert. Später wanderte er nach Argentinien aus, wo sich seine Spuren verlieren.

Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath hat vergleichbare Fälle wie den von Hermann Wilhelm Schmidt aufgegriffen und in seinem 1971 erschienenen Roman „Der Nazi und der Friseur“ verarbeitet. In diesem Roman wird der Leser in die Rolle des Täters versetzt. Der KZ-Aufseher Max Schulz, der Massenmörder vom Lager Laubwalde, verwandelt sich in einen Juden. Ein Arzt entfernt seine SS-Tätowierung unter dem linken Oberarm, ebenfalls die Vorhaut an seinem Geschlechtsglied, „ein letzter Liebesdienst für Führer und Vaterland“, wie Hilsenrath spottend bemerkt – und schon ist aus Max Schulz ein Jude geworden, der allerdings gar keine oder nur eine unzureichende Vorstellung davon hat, was er jetzt nach seiner Verwandlung eigentlich verkörpert.

Was Hilsenrath in seinem Roman thematisiert, sind Vorkommnisse, die es tatsächlich so oder ähnlich gegeben hat und noch gibt, nämlich, dass sich Nichtjuden als Juden ausgeben. Es ist naheliegend, dass auch NS-Verbrecher in der Vergangenheit auf den Gedanken kamen, sich wie Hermann Wilhelm Schmidt eine jüdische Vita zuzulegen. In die Rolle des verfolgten Juden zu schlüpfen, galt vermutlich als ein besonders raffinierter Schachzug, sich der historischen Verantwortung zu entziehen. Kaum jemand kam und kommt auf die Idee, dass jemand so viel Chuzpe besitzt, seine nichtjüdische Identität aufzugeben und sich in einen Juden zu verwandeln. 

Ein ähnlich gelagerter Fall wie der des Hermann Wilhelm Schmidt, ist der des einstigen SS-Mannes Günter Reinemer, der zwar nicht zum Juden wurde, aber sich unter die Juden mischte. Ob er das aus einem Schutzbedürfnis tat oder aus einem anderen Grund, wissen wir nicht. Nach Ende des „Tausendjährigen Reiches“ setzte er sich wie so viele andere Nazi-Schergen nach Argentinien ab, nahm den Namen Hans Georg Wagner an und, man glaubt es kaum, heiratete eine Jüdin. Als er starb, soll seine Witwe bemerkt haben, er hätte sich doch immer wie ein guter Jude verhalten. Sander L. Gilman, der diesen Fall schildert, kommentiert diesen Fall mit den Worten: „Zynisch könnte bemerkt werden, dass es seine ‚Strafe‘ sei, unter Juden begraben zu sein‘“   

Das Abtauchen in die Welt des Judentums, das sich Verbergen im Opferkollektiv, erfordert, wie Barbara Steiner feststellt, einen hohen Grad an Anpassungsfähigkeit und dazu eine gehörige Portion Skrupellosigkeit. Das konnte und kann nur derjenige, so Steiner, der ein gewisses schauspielerisches Talent hat und darüber hinaus auch noch die Fähigkeit besitzt, seine Mitmenschen über seine Aktivitäten derart hinters Licht zu führen, dass sie nicht einmal im Ansatz bemerken, dass sie einer Täuschung aufsitzen. 

Nicht immer fliegt derjenige auf, der in die Rolle des verfolgten Juden schlüpft. Manchmal geschieht es, in der Regel jedoch nicht. Zumeist ist es die eigene Prahlerei, über die jemand stolpert, über das Verlangen, mehr zu sein als man tatsächlich ist. Bei so manchem Zeitgenossen scheint es geradezu ein tiefsitzendes Bedürfnis zu sein, sich eine Verfolgten-Biografie zuzulegen, also jemand zu sein, der bei seinen Mitmenschen bewundernde und gleichzeitig bedauernde Gefühle erregt.

Wird ein solcher Fall einer falschen Identität öffentlich gemachte und gerät er in die Schlagzeilen, geschieht das meist nicht dadurch, dass jemand bekennt, dass er nicht der ist, als der er sich ausgibt. In der Regel geschieht das dann durch einen Zufall, meist dadurch, dass der Betreffende durch einen anderen entlarvt wird, der angibt, er kenne XY aus seiner Schulzeit oder aus seinem Dorf, in dem er groß geworden ist. Das Erstaunen ist dann jedes Mal groß und man fragt sich, was sind die Motive, was geht in einem Menschen vor, der sich als Opfer stilisiert und in eine andere Identität schlüpft.

Otto Paul Uthgenannt - oder: Das zwanghafte Bedürfnis Zeugnis abzulegen


So beispielsweise der im Jahre 2012 für einige Aufregung sorgende Fall des Otto Paul Uthgenannt. Dieser ist ein typisches Beispiel dafür, wie jemand, der sich eine Verfolgtenidentität zugelegt hat, nicht dadurch entdeckt wird, dass ein misstrauisch gewordener Journalist zu recherchieren beginnt, sondern dadurch, dass er selbst durch sein Verhalten seine Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Uthgenannt, das steht fest, wurde nicht von einem findigen Journalisten entlarvt, sondern stolperte über seine zusammenphantasierten Lügengeschichten. Erst dadurch geriet er ins Straucheln und wurde entdeckt.

Uthgenannt, der wie Wilkomirski alias Doesseker angeblich seine Kindheit im Lager verbracht haben wollte, in diesem Fall war es das KZ Buchenwald, zog als ein von allen Seiten gefragter und von Lehrern angeforderter Zeitzeuge mit einer Kippa auf dem Kopf durch die Schulen und legte bei 9. November-Gedenkveranstaltungen mit trauender Miene Kränze nieder. Seinen Zuhörern vermittelte er den Eindruck, er sei ein Überlebender, der Vater, Mutter und Schwester in den Vernichtungslagern verloren habe. Insgesamt, erklärte er den bei seinen Auftritten bestürzt und bedröppelt dasitzenden Zuhörern, seien 72 seiner Familienangehörigen dem Terror der Nazis zum Opfer gefallen.

An seinen Erzählungen war so gut wie alles frei erfunden. Sein Vater war kein Opfer der Shoa, sondern ein deutscher Wehrmachtssoldat, der in sowjetische Gefangenschaft geraten war. Der Mutter hatte der Sohn eine Verfolgungsgeschichte angedichtet, die ebenfalls nicht stimmte und durchweg frei erfunden war. Von ihr wissen wir mittlerweile, dass sie keine irgendwie gearteten Bezüge zum Judentum hatte und schon gar nicht in Auschwitz ermordet worden war, sondern 1961 irgendwo in Deutschland ganz normal verstorben ist.

Uthgenannt selbst ist, wie man einigen Zeitungsberichten zu entnehmen kann, eine verkrachte Existenz, ein Kleinkrimineller, der als Scheckfälscher und Betrüger im In- und Ausland sein Unwesen getrieben hat, aber irgendwann in seinen späteren Jahren seine Berufung als „jüdischer“ Zeitzeuge und Mahner entdeckte. Die von ihm beanspruchte und von der Umgebungsgesellschaft bescheinigte Authentizität legt die Vermutung nahe, wie Barbara Steiner zu Recht meint, „dass er nicht nur ein guter Schauspieler gewesen sein muss, sondern im Moment des Auftretens vor einem Publikum wirklich zum Überlebenden der Shoa wurde und nicht mehr zwischen der Rolle und seiner Person unterscheiden konnte“.

Als die falschen Angaben in Uthgenannts Biographie aufgedeckt wurden, und man ihn deshalb zur Rede stellte, zeigte er sich peinlich berührt, entschuldigte sich aber mit dem Hinweis, er habe doch niemandem schaden wollen, und „er habe es ja nur gut gemeint“. Ihm sei es, so gab er zu Protokoll, doch nur darum gegangen, die Erinnerung an die Verbrechen der Shoa wach zu halten.

Sich so zu äußern, wie er es getan habe, sei eine Gewissensfrage, erklärte er. Er sei kein Spinner, kein Verrückter, sondern eher so etwas wie ein Mahner. Er fühle sich verpflichtet, gegen ein erneutes Aufleben des Antisemitismus etwas zu tun. Auf den Einwand, durch seine Inszenierung als Verfolgter würde er die Überlebenden und deren Erinnerungen bloßstellen, konnte er verständlicherweise keine Antwort geben.

Auffallend ist, dass die Opfer-Sehnsucht bei Kindern von ehemaligen Nazis besonders groß ist. Unter ihnen gibt es zahlreiche Konvertiten, u.a. Söhne ehemaliger SS-Offiziere, die zum Judentum übergetreten sind. Der Wunsch der Verarbeitung der NS-Vergangenheit spielt bei beiden, bei Doesseker/Wilkomirski und Uthgenannt, unterschwellig eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie beanspruchen nämlich, und zwar beide, jeder auf seien Weise bessere Menschen in einer schlechten Welt zu sein. Dafür sind sie bereit, sich mit einer anderen, mit einer entliehenen bzw. gestohlenen Identität auszustatten.


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Der Fall Dieter S. alias Shlomo A. – oder: Wie ein Antisemit sich als Jude tarnt

Das Schlüpfen in die Opferrolle kann aber auch ganz andere Gründe und Motive haben. Verwiesen sei auf den Fall eines Konvertiten, nennen wir ihn Dieter S., der sich nach seinem Übertritt zum Judentum den hebräischen Namen Shlomo A. zugelegte. An seiner Person lässt sich nämlich zeigen, dass die Identifikation mit der Opferrolle eine geradezu perfide Form der Schuldabwehr sein kann. Dieter S., der jetzt den Namen Shlomo A. trägt, ursprünglich ein Nicht-Jude, im Nach-Hitler-Deutschland geboren und aufgewachsen, heute im belgischen Antwerpen lebend, sucht die Nähe ultraorthoxer Kreise in der Hoffnung, in diesen seine antizionistischen Überzeugungen besser ausleben zu können.

Dieter S. alias Shlomo A. der sich nach seiner Konversion den Satmarer Chassiden anschloss, bemüht sich wie ein chassidischer Jude auszusehen. So tritt er im schwarzem Anzug auf, wobei Zizit, Kaftan, Hut und Streimel zeigen oder sagen wir besser zeigen sollen, dass er ganz in seiner neuen Identität aufgeht. Die Nichtjuden bezeichnet Dieter S. alias Shlomo A. als Gojim. Sich selbst sieht er als jemandem an, der sein Leben Avodat HaSchem (Arbeit/Dienst für Gott) verschrieben hat, also dem Dienst an Gott – ohne allerdings auszuführen, was das konkret für ihn bedeutet. Diese Selbstinszenierung scheint für ihn zum Lebensinhalt geworden zu sein.

Die Weltsicht dieses Mannes ist derart verquer, dass er sich nicht nur als Antizionist begreift, der die Existenz des Staates Israel ablehnt, sondern er versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass es überhaupt keinen organisierten Judenmord gegeben habe. Den jüdischen Staat hält er für eine zionistische Erfindung, für ein Geschäftsmodell, das der Staat Israel zu seinem Vorteil gewinnbringend eingesetzt habe.

Der deutsche Staat wiederum, erkenne das aus Verlegenheitsgefühlen nicht und, so die Argumentation von Dieter S. alias Shlomo A., würde sich von irgendwelchen dunklen Mächten erpressen und alles mit sich machen lassen. Die Zionisten, das ist die feste Überzeugung des nun mehr als Satmarer Chassid auftretenden Dieter S., seien das eigentliche Übel der Welt, das es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen gelte. Wenn, so warnt er, das nicht geschähe, sei das Schlimmste zu befürchten.

Alles oder sagen wir besser die Anwendung eines jedes Mittels ist gestattet, das dem Zweck der Verächtlichmachung und Delegitimierung des jüdischen Staates dient. Selbst vor dem Zusammengehen mit Holocaustleugnern wie dem „Historiker“ David Irving und radikalen Muslimen wird dabei nicht zurückgeschreckt. Die Vernichtung des jüdischen Staates ist das erklärte Ziel. Der „Nationalzionismus“, so Dieter S. alias Shlomo A., sei schlimmer als der Nationalsozialismus.

Als Anhänger der Neturei Karta, einer Gruppe fundamentalistischer Ultraorthodoxer, dessen ehemaliger Vorsitzender, Rabbiner Moshe Hirsch (1923-2010), angeblich einst Minister für jüdische Angelegenheiten im Kabinett des einstigen Palästinenser-Präsidenten Yassir Arafat, reist der Antwerpener Konvertit sogar zu den berüchtigten „Holocaust“-Konferenzen in den Iran, wo er sich als Alibijude und Gegner des Staates Israel von dem Politiker Ahmadinedschad und den dortigen Mullas feiern lässt.

Angesichts dieses und anderer hier vorgestellten Fälle fragt man sich, ob wir es nur mit der Spitze des Eisbergs zu tun haben? Hat das Phänomen, „Opfer-sein-zu-wollen“ vielleicht doch noch eine andere, eine tiefere Bedeutung? Der Peinlichkeiten ist offensichtlich kein Ende. Man kann die geschilderten Fälle zweifellos nicht alle über einen Leisten schlagen, sollte sie aber als das ansehen, was sie tatsächlich sind – Phänomene einer Gesellschaft, die geradezu traumatisch an ihrer Vergangenheit leidet.

Die Unfähigkeit, sich der eigenen NS-Vergangenheit oder derjenigen der Eltern oder Großeltern zu stellen, gleitet zunehmend in Dimensionen ab, die als krankhaft bezeichnet werden müssen. Der Chronist, der die Zeitläufte beobachtet und der solche Entgleisungen, wie die geschilderten, zur Kenntnis nimmt, kann eigentlich nur noch staunend den Kopf schütteln und sich wundern über das, was in unserer heutigen Welt an Absurditäten so alles möglich ist.

Normal ist das alles sicherlich nicht, aber, so fragt man sich, was ist in dieser Welt schon normal?



ANMERKUNGEN



* Im Jahre 2001 veranstaltete das Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum eine Konferenz, in der sich die Teilnehmer (u.a. Sander L. Gilman, Stefan Mächler, Daniel Ganzfried, Gabrielle Rosenthal, Lothar Mertens, Henryk M. Broder, Elke Liebs) in ihren Vorträgen mit der Problematik der falschen bzw. eingebildeten Erinnerungen befassten. Die auf der Konferenz gehaltenen Vorträge wurden in dem von Irene Diekmann und dem Verf. herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein“ im Pendo Verlag 2002 veröffentlicht. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die damaligen Vorträge und Debatten und bemühen sich darüber hinaus, noch einige andere inzwischen bekannt gewordene Fälle von in die Opferrolle geschlüpften Zeitgenossen zu berücksichtigen. Erklärungen für das irritierende Phänomen der „falschen“ bzw. „eingebildeten“ Erinnerung finden sich in der Untersuchung von Barbara Steiner, Die Inszenierung des Jüdischen. Konversion von Deutschen zum Judentum nach 1945, Göttingen 2015 (siehe Anzeige oben im Text).

1 Vgl. Martin Doerry, In der Fake-Welt, in: DER SPIEGEL, Nr. 23, 1. Juni 2019
2 Martin Doerry, Der gefühlte Jude, in: Spiegel Online, 26. Oktober 2018.



Der Autor

JULIUS H. SCHOEPS

Prof. Dr., geb. 1942 in Djursholm (Schweden); studierte Geschichte, Geistesgeschichte, Politik- und Theaterwissenschaft in Erlangen und Berlin. 1969 Promotion; 1973 Habilitation. Von 1974 bis 1991 Professor für Politische Wissenschaft und Direktor des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg. 1993-1997 Nebenamtlich Gründungsdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien. Von 1991 bis 2007 Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte). 1991-2015 Gf. Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.


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