Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 37

September 2006

Bei nachfolgendem Text handelt es sich um einen Vortrag von Rabbiner Ludwig Venetianer, den er auf Einladung des Vorstandes der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde am 18. Febr. 1915 im Festsaale des Ingenieur- und Architekten-Vereines gehalten hat.

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Text der Vorlage von 1915 mit freundlicher Genehmigung aus dem Privatarchiv von Dr. Marianna Varga, Enkelin  von  L. Venetianer,  Budapest,  Ungarn.
Printed in Germany
ISBN-10:  ISBN 3-936283-09-5


Online-Extra Nr. 37


Die Messiashoffnung des Judenthums

LUDWIG VENETIANER


An der äussersten südwestlichen Spitze der arabischen Halbinsel, wo die felsige Erdzunge in die schmale Strasse hineinragt, welche das Rothe Meer mit dem Indischen Ocean verbindet, dort wo einst glühende Vulkane das Antlitz der Erde geformt haben und nun ungeheuere Felsenmassen an die erloschene Gluth erinnern, dort will die phantasiereiche Mythenbildung der Araber das Grab Kains, des  ersten  Brudermörders  gefunden  haben. Auf jene Felsenhöhen, über Kains Grab baute England eine Citadelle, angeblich um von hoher Warte aus die Strasse des weltumspannenden friedlichen Verkehrs zu beschützen.

Seit fünfundsiebzig Jahren steht dort die Wacht fest an der vorderen Bastei, doch seit fünfundsiebzig Jahren hat dort das spähende Auge sonst kaum nach etwas anderem ausgelugt, als den Augenblick des täglichen Sonnenuntergangs zu erfassen; denn Tag für Tag verkündet ein Kanonenschuss, dass die Sonne in die Meeresfluthen taucht, was zugleich dem Muezzin als Zeichen gilt, um von der Höhe des Minarets die Herzen zum Gebet zu rufen.War es bloss ein schöner Traum, aus welchem die Edelsten unter den Menschen aufgerüttelt nunmehr nüchternen Blickes über die traurige Gegenwart hinaus hinter den Schleier der Zukunft schauen wollten?

Wir wähnten, Kain sei bereits todt, sein Geist vermag aus der unerschütterlichen Felsengruft nie wieder emporzusteigen; wir vertrauten der Citadelle, die bei Sonnenuntergang die wohlgerüstete Bereitschaft zum Kampf gegen alle Gespenster der Finsterniss kundthat, und nun, von der Citadelle aus öffnete sich der Weg, durch den Kain aus dem Grabe gestiegen und in der Völkerfamilie unsägliche Opfer des Brudermordes heraufbeschworen, - die Sonne ist untergegangen, nicht zur Verscheuchung, zur Begrüssung der schwirrenden Gespenster der Finsterniss entbrannt der Zünder auf dem Festungsgürtel in Aden, - doch die Zeit ruft auch zum Gebet, zum Emporschwingen der Herzenswünsche auf den lauteren Fittigen der Menschheitsideale, um in Hoffnung gestärkt unentwegt des tagenden Morgens zu harren, des Anbrechens jenes Tages, der lange genug währen wird, um mit vorbereiteten Kräften den Bau ganz auszuführen, nicht den Bau der Citadelle aus Mörtel und Felsenblock und mit Kanonengesims, sondern die weltumfassende Citadelle aus Menschenherzen.

Das ist die Messiashoffnung des Judenthums, von der ich heute sprechen will und es dient mir zur besonderen Freude, dieses Thema vor Ihnen besprechen zu dürfen, wofür ich dem wohllöblichen Vorstand der Wiener isr. Cultusgemeinde, dessen höchst ehrenvoller Aufforderung ich gerne gefolgt bin, herzlichst danke.Man muss im Judenthum leben, um es recht begreifen zu können. Mein Lehrer, Prof. David Kaufmann s.A., dem man einmal seine Aversion gegen systematische Theologie vorgeworfen hatte, sagte in seiner ihm eigenen geistreichen Weise: ich kenne kein Judenthum in Spiritus. Das Judenthum ist kein versteinertes, wenn auch zum Diamanten krystallisiertes System, kein steifes Dogmengebilde, das Jahrtausende hindurch konserviert zum Masstab dessen dienen soll, was das Hoffen und Streben der Juden enthalten müsse, das Judenthum ist ein lebendiger Organismus, dessen Stamm infolge anhaltender Stürme nicht immer in geradem Wachsthum nach Oben strebte, an dessen Früchten jedoch die sich stets gleichbleibende treibende Kraft immer erkennbar ist. Diese Kraft ist die Messiashoffnung, die im alten Israel die Grundlage seines Daseinsrechtes bildete, in den Propheten die höchste Schwungkraft entfaltete und im Mittelalter den Geist des jüdischen Volkes über alle Trostlosigkeit des Geschickes hinweg in hochragende Fernen zuversichtsvoller Erwartungen emportrug.

Und trotz alledem konnte man über die Persönlichkeit des Messias und über die an sein Kommen geknüpften national-politischen und universal-ethischen Erwartungen nie zu einem festen Glaubenssatz kommen.

Das Judenthum und die Messiashoffnung des Judenthums lässt sich in gerechter Beurteilung nur durch das Licht der Geschichte erfassen. In diesem Lichte betrachtet sind Judenthum und Messiashoffnung identische Begriffe; oder man kann den Begriff folgendermassen formulieren: Judenthum ist der Inbegriff all` jener Lehren und Ideale, welche die Messiashoffnung in das Stadium der Verwirklichung zu führen anstreben.

Wenn wir jedoch vom Messias sprechen, welches Wort die gräzisierte Form des hebräischen Maschiach ist, so müssen wir vorerst daran denken, dass schon die Benennung selbst verschiedene Wandlungen in der Geschichte erfahren hat.

Selbst Gustav Dalmann, einer der bedeutendsten protestantischen Theologen, gibt zu, dass der Messias in der heiligen Schrift keinen Erlöser, keinen Mittler, keinen Sündenvergeber, keinen Gottessohn bedeute.

Einen Messias, d. h. Gesalbten nennt die Bibel den Hohepriester, der durch Salböl für sein Amt geweiht wurde, so nennt sie einige Könige, wie Saul und David, so nennt sie das ganze Israel, als Gottes Priestervolk und so nennt sie sogar den Perserkönig Kyros.Ethnographische Untersuchungen haben ergeben, dass schon in vorgeschichtlicher Zeit Grenzsteine und Monumente mit Öl bestrichen wurden, um sie vor Verwitterung zu schützen; dieser Gewohnheit entnahm man die symbolische Handlung, Priester und Könige durch Salbung mit Öl ihrem Amte zu weihen, welches sie in fester Unwandelbarkeit verwalten sollen. Der Priester oder der König, in dessen feste Gotteserkenntniss, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit man Vertrauen setzen konnte, und der infolge solcher Eigenschaften zur Ausführung des göttlichen Willens, zum Werkzeug Gottes erkoren wurde, heisst Messias, der Gesalbte Gottes. Und es ist doch eigenthümlich, aber auch höchst bezeichnend, dass die Benennung Messias in der ganzen heiligen Schrift nicht ein einzigesmal auf den angewendet wird, der mit hohen Tugenden ausgerüstet das Land aus politischer Niederung auf die Höhe nationaler Herrlichkeit emporzuheben sehnsuchtsvoll erwartet wurde.

Das Wort Messias in diesem Sinne, in der Bedeutung der persönlichen Fähigkeit, dem Volke Heil zu schaffen, ist eine spät nachbiblische Schöpfung des alexandrinischen Judenthums, das einen hellenistisch-heidnischen Einschlag erhalten hat.Aber das Wort ist von weit geringerer Bedeutung, als die Vorstellung, die während des ganzen biblischen Zeitalters, welches ein ganzes Jahrtausend umfasst, stets vorherrschend und für die erhaltende Kraftprobe des Judenthums bis zum heutigen Tag bestimmend war. Denn die Idee des Messianismus ist älter, als der Messias. Der Messianismus ist der Grundzug der jüdischen Religion, die Idee der verwirklichten Zukunftshoffnung, die Idee der Weltbeglückung, die Idee vom Ende der Tage, da alle Schatten der Betrübniss vom Erdreich fortgescheucht und alle Menschenkinder sich in ungetrübter Glückseligkeit des Daseins freuen werden; diese Idee ist jüdischen Ursprungs, sie ist keine vorübergehende Träumerei der israelitischen Propheten, sie lag tief eingebettet in der Volkspsyche unserer Ahnen, sie ist die unmittelbare und unbedingte Folge der Erkenntniss des reinen, ethischen Monotheismus.Die Messiashoffnung im Judenthum ist nicht die Narkose des Leidenden, und sie entspross nicht aus der Ethik der Unterdrückten. Wohl ist es wahr, dass wer keine Gegenwart hat, in der Zukunft lebt, und wer unter der Ruthe der Tyrannen ächzt, von einer Welt der Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen träumt, und verstünden wir die Sprache des Vogels, dessen Gesang uns entzückt, so würden wir vielleicht die Besingung der Freiheit in allerliebsten Tönen aus den Käfig heraus vernehmen. Auch das Judenthum hat Grund genug gehabt, über eine trostlose Gegenwart hinaus sehnsuchtsvolle Blicke in eine lichte Zukunft zu werfen und in der tiefdunklen Kammer seines Herzens das farbenreiche Bild des gewünschten Heils hervorzurufen, aber die Saat der Zukunftshoffnung wurde auf dem Felde des Judenthums nicht erst in den Jahrhunderten der Verzweiflung ausgestreut, sondern sie keimte bereits, als es in der Person des ersten Urahnen, Abrahams, auf dem Boden der Weltgeschichte erschienen war, und sie war schon zum vollbelaubten Baum emporgewachsen, als es, zur selbstständigen Nation geworden, in die Reihe der Völkerfamilien eingetreten war, und zur vollen Entfaltung ist sie gerade damals gediehen, als der israelitische Staat das goldene Zeitalter in vollster Blüthe erreicht hatte.Diese Entwicklung begann mit Abraham, an den die göttliche Aufforderung und zugleich Verheissung erging, dass durch ihn und seine Nachkommen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen. Kennt denn die Weltliteratur noch einen Nationalhelden, der seine Laufbahn nicht mit dem Flammenschwerte der Eroberungen, sondern mit dem einzigen Ideal begonnen hätte, wie es Abraham gethan, nicht der Fluch der Menschen, sondern ein Segen der Menschheit zu werden? Ragt denn aus der Weltgeschichte, aus den Führern und Gesetzgebern der Völker, eine solche Persönlichkeit hervor, welche unserem Mose gleichkäme, der sein Volk nicht zur Überhebung über andere Völker, nicht zur Unterdrückung anderer Menschenmassen heranziehen will, sondern zu einem Priestervolk werden lässt, das als Lehrer und Erzieher des ganzen Menschengeschlechts um das Wohl und Heil aller Erdenwaller besorgt sein müsse? Wie erhaben steht vor uns der weise König Salomoh, der auf dem Höhepunkt der politischen Entwicklung Israels das erste Nationalheiligthum in Jerusalem erbaut, es jedoch nicht zur unversiegbaren Quelle nationalen Stolzes, sondern zum Zentralheiligthum der ganzen Menschheit weiht, indem er seinem Weihegebet die ergreifende Bitte einfügt: „Aber auch auf den Fremdling, der nicht zu Deinem Volke Israel gehört, wenn er aus fernem Lande kommt um Deines Namens willen, denn sie werden hören von Deinem grossen Namen, wenn er kommt und vor diesem Tempel betet, so wollest Du hören im Himmel, der Stätte, da Du thronest und alles das thun, worum der Fremde Dich anruft, damit alle Völker der Erde Deinen Namen erkennen, dass sie Dich ebenso fürchten, wie Dein Volk Israel, und dass sie inne werden, dass dieser Tempel, den ich gebaut habe, nach Deinem Namen genannt sei.“ (I. Kön.  VIII.  41-43.)







LUDWIG VENETIANER
Jüdisches im Christentum.
Erinnerung an Ludwig Venetianer / Emlekezes Venetianer Lajosra.



Reprint, 1913.
Mit 11 Fotos.
Sprachen: Deutsch u. Ungarisch.
Peter W. Metzler Verlag
September 2004
- kartoniert - 151 Seiten - Euro 25,-

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Inhalt: Ideen und Lehren, Kultus, Feste, Weihnachtsfestkreis, Osterfestkreis, Pfingstfestkreis, Sonntag, Gebete, Sakramente.


Mit einer Erinnerung an Ludwig Venetianer, Emlékezés Venetianer Lajosra, in deutscher und ungarischer Sprache von Marianna Varga, Enkelin von L. Venetianer.

Bibliographie: Die wissenschaftliche Tätigkeit von Ludwig Venetianer in einer Bibliographie seiner ungarischen und deutschsprachigen Publikationen, zusammengestellt von Marianna Varga.

L. Venetianer weist in dieser Studie darauf hin, "... daß die römische Kirche ... mehr ..." jüdischen Kultus "...als die katholischen Kirchen des Orients..." erhalten hat. Der Kultus des "...altkatholischen Ritus...", "...der katholischen Kirche..." wird "... zum Leitfaden der Untersuchung...".


Weitere Titel
aus dem Peter W. Metzler Verlag



Vollauf bewusst war diese glühende Hoffnung, die in Abraham entstanden, durch Moses Gesetze gefördert, und durch Salomoh zu solchem Ausdruck gebracht wurde, dass an ihr weder die Sehnsucht des Erdrückten, noch der Mangel an Gegenwart zu erkennen ist. Ein Segen der Menschheit zu werden, ein Priestervolk zu sein im Dienste aller Erdenbewohner, ein Zentralheiligthum zu errichten für alle betenden Herzen der Welt, diese Ideen sind Schöpfungen Israels in der klaren Erkenntniss des göttlichen Wesens, dessen Alleinigkeit die Einheit des Menschengeschlechts bedingt, dessen Liebe sich über alle Menschenkinder ergiesst und durch dessen Anerkennung das Wohl Aller erfolgen wird, die auf  Erden wandeln.Dies war die Zukunftshoffnung in Israel und aus diesem Gemeinbewusstsein schöpften die Propheten, als sie in den unheildrohenden Tagen nationaler Erschütterung das Volk zum Ausharren aneifern wollten. Nur aus diesem, im Volke tiefgewurzelten Gemeinbewusstsein heraus lässt es sich erklären, dass die Propheten Micha und Jesaja dasselbe Bild von der Zukunftshoffnung mit denselben Worten entworfen haben; nicht von einander haben sie das Bild übernommen, beide haben dem festgegründeten Gemeinbewusstsein Ausdruck verliehen, als sie verkündeten: „Am Ende der Tage, d. h. am Ende des gewaltigen Ringens der Völker, wird der Tempelberg des Ewigen fest gegründet stehen und als der höchste unter den Bergen und über die Hügel erhaben sein und strömen werden zu ihm die Völker. Viele Nationen werden sich aufmachen und sprechen : Auf, lasst uns zum Berge des Ewigen, zum Tempel des Gottes Jakobs hinaufsteigen, damit Er uns über seine Wege belehre und wir auf seinen Pfaden wandeln. Denn von Zion wird die Lehre ausgehen und das Wort des Ewigen aus Jerusalem, und Er wird zwischen vielen Völkern richten und starken Nationen bis in weite Ferne Recht sprechen, sie werden ihre Schwerter zu Sensen umschmieden und ihre Spiesse zu Winzermessern, kein Volk wird mehr gegen das andere das Schwert erheben und nicht mehr werden sie Krieg erlernen. Jeder wird unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum sicher wohnen, ohne dass sie jemand aufschrecken würde.“ (Micha  IV.,  1-4, Jesaja  II., 1-4).

Alles, was Menschen Edles und Erhabenes je gedacht, um die Menschheit auf der weiten Erde in ungestörter Glückseligkeit zu wissen, ist in diesen Worten ausgedrückt : Der Geist des Brudermordes wird von der Erde schwinden, über dessen Grab erhebt sich von allen Völkern bemerkt und ersehnt die Hochburg der reinen, die ganze Welt umfassenden Gotteserkenntniss, die Werkzeuge der Verheerung werden in Werkzeuge erspriesslicher Culturarbeit umgeschmiedet werden, man wird keine Kriegskunst mehr erlernen, der Segen des Weltfriedens wird seine Fittige über alle Menschenkinder ausbreiten.In diese universal-ethische Zukunftshoffnung, welche auch heute aus unserem Herzen einen sehnsuchtsvollen Seufzer erpresst, brachte der Prophet Jesaja zu einer Zeit, da der politische Bestand des jüdischen Staates äusserst gefährdet war, einen neuen Gedanken, die Hoffnung des nationalen Erstarkens.

Das Einheitsreich war getheilt, dynastische und politische Sonderinteressen schürten das Feuer, welches das einst blühende Reich verzehren werde, das Vordringen Assyriens, dieser nach Weltmacht strebenden vorderasiatischen Grossmacht, war unaufhaltsam, vergeblich verbündeten sich die kleinasiatischen, aramäischen und palästinensischen Kleinstaaten, sie alle mussten ihre Waffen strecken, auch das israelitische Nordreich war unter dem schweren Tritt der Riesenmacht zermalmt, nur das kleine Juda vermochte sich durch rechtzeitige tributpflichtige Unterwerfung vorläufig zu retten. Diese düstere Gegenwart legte dem Propheten Jesaja die Aufgabe auf, das Volk vor Verzweiflung zu bewahren, in ihm die zuversichtige Gewissheit der zukünftigen Herrlichkeit zu erwecken, hat doch der Ewige nicht allein mit Israel einen ewigen Bund geschlossen, sondern Er liess auch an David die Verheissung ergehen (II. Sam. VII. 16), dass sein Thron für alle Zeiten feststehen werde, das Reich wird wieder erstehen, ein Spross Davids wird abermals das Gesamtreich Israels herstellen, das Heiligthum wird inmitten des von allen Sünden geläuterten Volkes die Quelle des Lichts für alle Menschen werden, die nationale Wiedergeburt wird unter Führung des von aller Welt anerkannten gerechten Herrschers den Weltfrieden herbeiführen. Der Mittelpunkt dieses prophetischen Gesichtes ist selbstredend Israel, der Prophet spricht zu seinem Volk, aber im Rahmen der Gesamtwelt, wodurch der Prophet zeigen will, wie sich Israels Lage ausgestalten wird in der universalen Bekehrung.

„Da wird der Wolf neben dem Lamme wohnen, beim Böcklein lagert der Pardel, Kalb und junger Leu und Mastvieh werden zusammen weiden und ein kleiner Knabe leitet sie. Und da weiden Kuh und Bär, neben einander lagern ihre Jungen, und der Löwe, wie ein Kind, frisst Stroh. Der Säugling spielt an der Höhle der Otter, und der kaum Entwöhnte legt die Hand auf das Auge der Natter. Sie werden keinen Schaden und kein Verderben zufügen in meinem ganzen heiligen Berglande, denn die Erde wird von der Erkenntniss des Ewigen voll sein, wie von Wassern, die das Meer bedecken.“ (Jes. XI. 6-9.)

Es ist eine herrliche Ergänzung jener universal-ethischen Zukunftshoffung, die im Gesamtbewusstsein des auserwählten Priestervolkes unter der Wucht der politischen Verhältnisse zusammenzustürzen drohte; das Priestervolk, das sich so sehr vergangen, wird sich wiederfinden, wird die Höhe seiner weltgeschichtlichen Aufgabe erklimmen, wird das Licht der Welt werden und alle Menschen strömen zu dieser Lichtquelle, die reine Gotteserkenntniss hat Aller Augen geöffnet, hat Aller Herzen gezähmt, das Thierische im Menschen ist lahmgelegt, nichts Böses wird gethan, die Sonne des Weltfriedens untergeht nimmermehr. Diese Hoffnung beseelte das Volk Judäas, als das Verhängniss des Unterganges nicht mehr abgewehrt werden konnte, dies verlieh dem Volke den Lebenswillen in der Gefangenschaft, und diese Hoffnung erfüllte die Herzen mit strahlender Wonne, als ein blasser Schein der Morgendämmerung in dem Erlass des Perserkönigs Kyros erschienen war, welcher die Rückkehr ins heilige Land und den Wiederaufbau des Heiligthums gestattete.

Begeistert kam die gotterfüllte Schaar, jubelnd legte man den neuen Grund des Tempels, „dessen Herrlichkeit grösser sein werde, als die des ersten war, denn dieser wird die feste Burg des ewigen Friedens werden“ (Haggaj II. 9), wird doch dieser Tempel die ersehnte Zeit endlich herbeiführen, „wo der Ewige wird der König über die ganze Erde sein und an jenem Tage wird der Ewige einig und sein Name einig sein“ (Zak. XII. 9.) Eitel war die Hoffnung, vergeblich die sehnsüchtige Entzückung, und nun kam erst die Zeit für das jüdische Volk, da es ohne Gegenwart nur in der Zukunft, für die Zukunft lebte. Die hochauflodernden Flammen der inneren Kämpfe äscherten auch den zweiten Tempel ein, und der Sturm der Zerstreuung hat das Judenthum in die Weltarena geschleudert, wo es nunmehr seit zweitausend Jahren für das Menschenthum blutend als Gradmesser für die Sittlichkeit der Menscheit die schönsten Träume der Zukunft träumt. Und mochte auch die Lieblosigkeit noch so schwere Opfer vom Judenthume fordern, es war unerschütterlich im Glauben an die Zukunft und schlürfte täglich dreimal Muth mit voller Seligkeit aus dem Gebete:

„Unser ist die Pflicht, uns liegt die Aufgabe ob, zu preisen den Herrn des Weltalls . . . Darum hoffen wir auf Dich, bald zu schauen den Glanz Deiner Herrlichkeit, dass Du fortschaffest die Götzen von der Erde und all die eitlen Wahngebilde gänzlich tilgest, dass alle Fleischgeborenen Deinen Namen anrufen, dass die Bewohner des Erdenrundes erkennen und einsehen, dass vor Dir sich beugen müsse jedes Knie, schwören müsse jegliche Zunge . . . und Du wirst herrschen über sie in Ewigkeit, denn Dein ist das Reich und in alle Ewigkeit wirst Du regieren in Herrlichkeit, wie es in Deiner Thora heisst: Der Ewige regiert immer und ewig und Gott wird als König der ganzen Erde erkannt und verehrt werden“ (Olenu).

Und wenn das Jahr um war und der Jude am Neujahrsfeste, am Tage der Erinnerung, die düstern Bilder der Erlebnisse vor sich vorüberziehen liess, und sich ein glückliches Neujahr herabflehte, da bildete den Mittelpunkt seines schwärmerischen Wunsches die innige Bitte: „Lasse kommen, Ewiger unser Gott, Ehrfurcht vor Dir über alle Deine Geschöpfe, und Bangen vor Dir über alles, was Du erschaffen, auf dass Dich ehrfürchten alle Geschöpfe und vor Dir sich neigen alle Wesen, auf dass sie alle zu einem Bunde werden, Deinen Willen zu thun mit ganzem Herzen.“ (Tefilla). „Hätten die Völker gewusst, - sagte ein Lehrer des dritten Jahrhunderts, - wie gut die Stiftshütte und der Tempel für sie waren, dann würden sie dieselben zum Schutze mit einem starken Feldlager umgeben haben, um sie zu erhalten“ (Wajikra rab. I.) Aber man wollte das nicht wissen, man war stets bestrebt, den Juden in die Verzweiflung zu treiben, ihm jede Hoffnung zu nehmen, was jedoch für keinen Augenblick gelungen war.

Aber zu verwundern ist es gewiss nicht, wenn in der traurigen Geschichte der Juden so viele bewusste und unbewusste falsche Erlöser aufgetreten sind, deren Heilsverkündigungen stets grosse Scharen hingebungsvoll folgten.Wie jenem, der in dunkler Nacht dahinzieht und sich ein um das andere Mal ein Licht anzündet, um sich den Weg zu erhellen, es aber immer wieder vom Winde ausgelöscht sieht, bis er zuletzt zum Entschluss kommt, geduldig auf den anbrechenden Tag zu warten, wo er des Lichtes nicht mehr bedarf, so erging es Israel mit seiner Zukunftshoffnung, die so oft erloschen und immer von neuem angefacht werden musste, um in unverwüstlich frischer Kraft auszuharren, bis es wird sprechen können : In Deinem Licht, oh Herr, sehen wir Licht (Pesikto p. 134.) Wann die Erlösung kommen wird? ist ein Geheimniss, - sagen die Weisen, - gewiss ist nur, dass sie an einem Sabbath kommen werde (Erubin 43 a) und – nach einem andern Spruch der Weisen, - wird sie gerade damals kommen, wenn man sie eben nicht erwartet (Synhedrin 97 a); wenn schon Ruhe und Frieden über die Erde lagern und die Menschen von Gotteserkenntniss erfüllt einander nichts Böses thun. Mag auch die wellenförmige Entwickelung der Menschheit noch viele und abgrundtiefe Senkungen erfahren, sie wird, sie muss einmal doch ans Ziel gelangen, denn – so lautet die Lehre der jüdischen Weisen (Nedarim 39 b) – unter den Dingen, welche Gott vor der Welt erschaffen hat, befindet sich auch der Name des Messias; es war im Plane der Schöpfung gelegen, dass die auf Gotteserkenntniss gegründete ethische Vervollkommung die Erlösung durch den Weltfrieden werde. Dieses Zukunftsideal hat das Judenthum geschaffen und damit der Weltgeschichte Ziel und Endzweck gegeben.Der Midrasch erzählt Folgendes: Als Gott den Stammvater Abraham aufgefordert hatte, seinen einzigen Sohn zu opfern, da begab sich der Vater mit seinem Kinde unverzüglich auf den Weg, ohne jedoch zu wissen, wo er den Altar wird errichten müssen. Erst am dritten Tage der Wanderung erblickte er den Ort, der ihm als Zielpunkt seiner Berufung dünkte. Woran hat er es denn gemerkt, dass eben jene Stelle der Ort sei, wo er mit voller Hingebung dem Ewigen zu dienen habe? Er sah in der Ferne eine Feuersäule, die von der Erde bis zum Himmel ragte, und glaubte darin das von Gott gesandte Wahrzeichen zu erkennen, dass er dort das Ziel seiner Wanderung finden werde. Er schlug nun diese Richtung ein, doch kaum vorwärtsgelangt, fesselte seinen Blick eine andere Erscheinung: er sah einen schönen waldbekränzten, von üppigen Fluren und blühenden Gärten bedeckten Berg; da ist der Ort, dachte nun Abraham, wohin ich dem Rufe Gottes folgen soll, dort zwischen den Blumenbeeten steige der Weihrauch meines Herzens zum Himmel empor. Er lenkte nun seine Schritte dahin, doch plötzlich zog eine neue Erscheinung seine Aufmerksamkeit auf sich, er erblickte einen Altar, auf welchem zum Opfer bereit ein gefesselter Löwe lag.

Wie gebannt blieb er stehen, und nach kurzem Sinnen rief er strahlenden Auges aus: dahin, dahin müssen wir ziehen. Festen Schrittes ging er nun auf die Stelle los, errichtete dort den Altar, und da ward ihm die Verheissung zutheil: Durch deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde gesegnet sein. Der Weg Abrahams ist der Entwickelungsgang des Menschengeschlechts; es sucht das Ziel, es ringt nach Erkenntniss des wahren Lebensinhalts.Hat der Mensch, hat die Menschheit ein Ziel, wonach gestrebt, was einst erreicht werden muss? Ist es die Feuersäule der geistigen Erleuchtung, welche das Erdreich mit dem allumfassenden Himmelsgewölbe verbindet und deren Strahlen mit der Kraft des gegenseitigen Verständnisses die Menschenherzen vereinigt?

Ist es der hohe Berg der materiellen Cultur, wo ein jeder für die Gesamtheit und die Gesamtheit zum Wohle eines jeden Einzelnen auf den fruchtbringenden Fluren der immer höher steigenden Cultur arbeiten wird? Wohl sind geistige Erleuchtung und materielle Cultur die Hauptetappen auf dem Wege zum Ziele, das Endziel jedoch hat Abraham erkannt, als er den Altar erblickte, auf welchem zum Opfer bereit der gefesselte Löwe lag. So lange die Bestie im Menschen nicht gefesselt auf den Opferaltar gebracht werden wird, so lange der Mensch nicht rein Mensch werden kann, so lange wird auch Kain unter den Menschen wandeln und wird noch viel Unheil stiften. Dass aber eine Zeit kommen werde, wo die allmählich fortschreitende Cultur im Lichte der reinen Gotteserkenntniss die Menschheit derart sittlich läutern wird, dass ein Jeder mit vollem Verständniss dem Andern gegenübersteht, wodurch dann Kains Geist in die Unterwelt hinunterfahren, über seinem Grabe die aus festgefügten Menschenherzen gebaute Feste sich erheben und auf deren Bastei die in Gott erkannte Menschenliebe die ewige Wache halten wird, - das ist die lebendige, unverwüstliche und arbeitsfreudige Messiashoffnung des Judenthums.





Der Autor

LUDWIG VENETIANER

Rabbiner Ludwig (ungarisch: Lajos) Venetianer, geboren am 19. Mai 1867 in Kecskemét, gestorben am 25. November 1922 in Újpest (Neupest). Studium in Breslau (1888/1889 Jüdisch-Theologisches Seminar)  und Budapest. 1891 Promotion, 1892 Ordination zum Rabbiner.

Gymnasiallehrer für Ungarisch und Deutsch,
1896 bis 1922 Oberrabbiner in Újpest (Neupest), 1912 bis 1922 Dozent am Franz-Joseph-Rabbiner-Seminar / Landes-Rabbinerschule in Budapest.

Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Literatur und Geschichte des Judentums, Studien zum jüdischen und christlichen Kultus.