Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 276

November 2018

Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, kam es im ganzen Deutschen Reich zu inszenierten Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung, bei denen 267 Synagogen und mehr als 7.000 jüdische Geschäfte in Brand gesetzt und geplündert wurden. 91 Menschen wurden getötet und ca. 30.000 in Konzentrationslager verschleppt.

Der Novemberpogrom gilt gemeinhin als Auftakt zur Vernichtung der Juden. Viele Elemente, die den Novemberpogrom charakterisieren, finden sich in der Folge im Kontext von Verfolgung und Ermordung der Juden in systematisierter Form wieder. Zutiefst erschreckend bleibt die selbst zu diesem relativ frühen Zeitpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft weitgehend passive Reaktion des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung. Einmal mehr zeigte sich, was schon am Ende der Weimarar Demokratie deutlich wurde: Dass Gewalt, Terror und Fanatismus die Oberhand gewannen, hatte seinen Grund nicht allein in der Radikalisierung der politischen Ränder, sondern gründete sich maßgeblich auch auf die Schwäche, Widerstandslosigkeit und mangelnde Zivilcourage der bürgerlichen Mitte in Gesellschaft und Politik. Insbesondere diesem Aspekt sollte m.E. auch im Blick auf gegenwärtige Entwicklungen, die ebenfalls eine Radikalisierung der politschen Ränder begleitet von einem illiberalen Populismus erleben, unsere größte Aufmerksamkeit gelten.

Aus gegebenem Anlass veröffentlicht COMPASS heute einen Text des israelischen Historikers Yehuda Bauer, einem der renommiertesten Holocaust- und Antisemitismusforscher weltweit: "Der Novemberpogrom - Historische und aktuelle Kontexte". Der Text fußt auf einer Rede, die Bauer im Jahre 2002 in der Synagoge zu Münster hielt und die m.E. nichts an ihrer historischen Akkuratesse, Aktualität und Eindringlichkeit verloren hat. Erstmals publiziert wurde sie von JCRelations (www.jcrelations.net), dem fünfsprachigen Online-Journal des Internationalen Rates der Christen und Juden (ICCJ), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von JCRelations als ONLINE-EXTRA Nr. 276 erneut publiziert.

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Online-Extra Nr. 276


Der Novemberpogrom - Historische und akteulle Kontexte  


YEHUDA BAUER

Ich möchte Ihnen zwei Geschichten erzählen. Die erste ist aus Dinslaken, das war damals eine Kleinstadt von 29.000 Einwohnern. Da gab es ein jüdisches Waisenhaus, das einzige eigentlich mehr oder weniger in ganz Westdeutschland. Es wurde geleitet von einem Herrn Hirsch. Am 10. November in der Früh kamen die SA-Leute, sie drangen in das Haus ein und fingen an, es zu zerstören. Die verstörten und verängstigten Kinder wurden auf eine Hintertreppe geführt, von dort mußten sie herunter in den Hintergarten. Der war verschlossen, sie konnten nicht auf die Straße. Sie mußten sich ansehen, wie die SA-Leute das ganze Haus zerstörten, alles aus den Fenstern warfen, was herauszuwerfen möglich war, Stühle und Tische inbegriffen, natürlich auch das persönliche Eigentum der Kinder.

Johlend und brüllend zogen die SA-Männer von einer Stube zur anderen und schließlich in den großen Eßraum, wo wieder alles zerstört wurde, was zu zerstören es gab. Dann wurden Herr Hirsch und die Kinder gezwungen, auf die Straße zu gehen, auf die Hauptstraße. Dort standen schon Karren bereit. Herr Hirsch berichtete, daß er – das war ja nicht so weit – den Rauch von der brennenden Synagoge sah. Die kleinen Kinder wurden auf die Karren geladen, die großen, die 15, 16 Jahre alt waren, wurden gezwungen, diese Karren durch die Straßen zu ziehen, bis auf den Hauptmarkt. Die Bevölkerung Dinslakens stand auf beiden Seiten der Straße und schwieg und schaute sich das an. Keiner der Väter, keiner der Mütter protestierte. Niemand rührte sich. Man schaute zu, wie die Kinder auf den Karren durch die Straßen gezogen wurden, von einer SA-Bande aufgehetzter Jugendlicher begleitet, bis zum Marktplatz. Dort waren schon die männlichen Mitglieder der jüdischen Gemeinde versammelt worden, um sie dann ins Gefängnis und in die Konzentrationslager zu bringen.

Später wurden die Kinder zurückgeführt. Herr Hirsch kam mit den Kindern wieder in das Waisenhaus herein, in das zerstörte Waisenhaus. Der Polizeipräsident kam und wollte dem Herrn Hirsch etwas Trost spenden. Als er anfing mit ihm zu sprechen, erschien im Raum einer der SA-Bengel, der noch geblieben war, um in dem Haus herumzustöbern. Er brüllte den Polizeipräsidenten an: „Was läßt du dich mit diesem jüdischen Schweinehund noch ein?" Der Polizeipräsident änderte plötzlich sein ganzes Benehmen und schrie den Herrn Hirsch an – und verließ das Haus.

Die zweite Geschichte stammt aus einer sehr kleinen Stadt, eigentlich ein großes Dorf, ungefähr 60 km westlich von Stuttgart, es heißt Oberdorf. Dort lebten seit dem 13. Jahrhundert Juden, Landjuden, die betrieben Landwirtschaft, Kleinhandel und Handwerksgeschäfte. Am 9. November lebten wohl an die 100 jüdische Familien in Oberdorf. Da war auch eine Kneipe, die wurde vom SA-Führer von Oberdorf geleitet, der hieß Herr Böhme. Am Abend kamen die SA-Leute aus der Umgebung und sagten dem Böhme: „Da hast du doch eine Synagoge," – die stammte aus dem 16. Jahrhundert – „verbrenn die!“ Und da sagte der Herr Böhme: „Hast du eine schriftliche Weisung des Regierungspräsidenten?“ Der SA-Kommandant starrte den Böhme an und fragte: „Bist du wahnsinnig? Ein schriftliches Dokument willst du haben?" Und der Böhme sagte: „Ja, ohne ein schriftliches Dokument brenne ich kein Haus nieder.“ Die SA-Leute zogen ab; und am nächsten Morgen kamen sie wieder und sagten dem Böhme: „Da hast du doch 100 Judenfamilien im Dorf, zerstör die!“ Herr Böhme sagte: „Ich habe mit diesen Leuten, mit den Männern, im (1.) Weltkrieg gedient, ich bin mit ihnen zur Schule gegangen. Ich mache das nicht.“ Da sind die SA-Leute zur Synagoge gegangen, haben das Fenster eingeschlagen, haben Lappen hereingeworfen, die sie mitgebracht und mit Benzin übergossen hatten, und haben das angezündet. Dann sind sie brüllend und singend abgezogen.

Schnell sammelten sich Juden und Deutsche und löschten den Brand. Das ist eine der wenigen Synagogen, die noch heute steht, von der damaligen Zeit.

Kein Kommentar ist nötig. Was wissen wir über den Pogrom eigentlich? Wir wissen sehr viel, denn am 12. November, also zwei Tage danach, versammelten sich die obersten Nazis in Berlin beim Hermann Göring im Luftfahrtministerium. Diese Begegnung wurde stenographisch dokumentiert. Das ist die einzige Nazi-Beratung, von der ein stenographischer Report überhaupt existiert, so daß wir ganz genau wissen, was man dort gesagt hat. Anwesend waren Joseph Goebbels, Innenminister Frick, Reinhard Heydrich von der SS, Fischböck vom Wirtschaftsministerium, der Finanzminister Schwerin-Kosigk, da waren andere, es war eine große Versammlung, und Göring führte sie. Er begann die Versammlung mit einem Bericht, daß der „Führer“ mit ihm dreimal gesprochen hätte, direkt oder indirekt; einmal telephonisch noch am 10. November, da war Göring in Berlin und Hitler in München; das zweite Mal eine schriftliche Weisung, die leider verloren gegangen ist, aber von Göring berichtet wird, durch Martin Bormann; das dritte Mal noch an demselben Morgen, am 12. November, der „Führer“ hätte mit ihm telephonisch noch einmal gesprochen, damit der Göring auch ganz genau weiß, was er da zu tun hatte. Was Hitler sagt, dreimal binnen drei Tagen, persönlich interveniert, ist völlig klar, es geht auch ganz klar hervor, daß der Hitler die Pogrome freudig bewilligt hat, durch Goebbels vorgeschlagen. In dem stenographischen Bericht steht etwas Hochinteressantes drin, nämlich daß der „Führer“ sich denkt, sich vorstellt, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, daß man mit den Westmächten darüber verhandeln kann, daß die Juden aus Deutschland verschwinden – wohin, klar gesagt, nach Madagaskar, November 1938, nicht Sommer 1940.

November 38! Durch eine Vereinbarung. Die Juden werden dann herausgeschmissen! Und klar, sehr klar eigentlich, die Indizien für den kommenden Krieg, der ja von Hitler persönlich an Göring schon im August 1936 avisiert wurde, in einem Memorandum, das einzige Mal übrigens, das Hitler ein Memorandum während seiner Herrschaft geschrieben hat, und das ist überliefert. Er sagt, binnen vier Jahren muß Deutschland bereit sein, gegen das internationale Judentum den Krieg zu führen. Denn hinter allen Gegnern Deutschlands steckt doch die jüdische Weltverschwörung. Natürlich besprach man auch, wie die Juden zu enteignen sind. Das Ziel war aber nicht die Enteignung, das Ziel war nicht das jüdische Geld, das Ziel war die Vertreibung der Juden. Natürlich, wenn die mal vertrieben sind, gehört das Eigentum uns. Aber das war nicht der Grund dafür.

Nun fragt man sich, warum eigentlich die Pogromnacht ausbrach. Das wurde doch von langer Hand her vorbereitet. Die Nazis errichteten in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald schon vorher die Baracken für die Juden. Man wartete auf eine Gelegenheit, das zu tun. Und da kam die Gelegenheit mit dem Mord an Ernst vom Rath in der Deutschen Botschaft in Paris durch Herschel Grynszpan. Das wurde aufgegriffen. Es gab mehrere Ziele, die mit der Pogromnacht verfolgt wurden.

Erstens, und das ist ganz, ganz klar, war das ein Weg, nun die Juden zu zwingen, Deutschland zu verlassen. Es gab noch keinen Plan zum Judenmord in Europa, die Shoah war noch 3½ Jahre oder 3 Jahre in der Zukunft. Aber man konnte doch keinen Krieg führen, solange der Teufel mitten im deutschen Volke saß. Man war doch fest davon überzeugt, daß die Juden, wie gesagt, die Hauptfeinde sind. Diese Hauptfeinde konnten doch nicht weiter in Deutschland leben, während das deutsche Volk im Namen der nordisch-arischen Rasse einen Krieg anzettelte.

26.000 jüdische Männer wurden von der SS und der SA festgenommen und in Konzentrationslager gebracht. Nicht um sie zu ermorden, obwohl viele in den Konzentrationslagern in den kommenden Wochen und Monaten starben, sondern um die Familien zu zwingen, Wege zu finden, Deutschland zu verlassen. Die jüdische Bevölkerung in dem damaligen schon „großen Reich“ (Deutschland, Österreich und die Sudeten) wollte natürlich nach der Pogromnacht nichts anderes als so schnell wie möglich flüchten, wohin auch immer es ging – nach Shanghai, nach Amerika, nach Palästina, nach Frankreich, in die Rest-Tschechei, wohin auch immer. Es gelang vielen Tausenden mit Mühe und Not zu entrinnen. Jeder Jude wollte Deutschland verlassen. Aber für viele war es zu spät. Es ging nicht mehr; die Welt war verschlossen.

Nur Großbritannien nahm fast 10.000 jüdische Kinder an und viele Tausende andere, das einzige Land, das in einem relativ großen Maßstab Juden annahm. Nach Shanghai gingen 15.000 Juden, in die Vereinigten Staaten ca. 30.000, nach Palästina, das eigentlich schon von den Engländern geschlossen war, gingen 20.000, und andere in andere Länder. Es blieben noch über 200.000 Juden übrig in dem damaligen „Großdeutschland“. Dazu gesellten sich natürlich nach dem 15. März 1939 die Juden im sogenannten „Protektorat“ Böhmen und Mähren.

Das zweite Ziel der Pogromnacht war die Vorbereitung des Krieges. Man wollte nicht mit Großbritannien kämpfen, man wollte, daß die Engländer sich aus dem zukünftigen Krieg heraushalten. Hitler spielte im November/Dezember 1938 mit der Möglichkeit, mit dem autoritären Regime in Polen gegen Sowjetrußland zu gehen. Denn man wollte den sogenannten „Lebensraum“ haben für die deutsche Bevölkerung. Wenn es nicht so ginge gegen Polen, spielte man schon mit dem Gedanken, irgendwie sich mit Sowjetrußland doch wenigstens temporär zu verständigen. Um die Engländer herauszuhalten, mußte man ihnen drohen, denn wer regierte Großbritannien? Das waren doch die Juden, nicht wahr? Und wenn man gegen die Juden ging, so war das ein Zeichen für die Engländer, sie sollten darauf achten, nicht mit der deutschen Übermacht in einen Konflikt zu geraten. Hitler kannte schon den Herrn Chamberlain, er hielt nicht viel von ihm. Und von den Franzosen schon gewiß nichts. Aber er wollte jetzt keinen Krieg mit dem Westen haben. Wenn aber doch, so wollte man natürlich erst einmal die Juden herausjagen. Die Pogromnacht war also, teilweise wenigstens, eine Kriegsvorbereitung.

Die Engländer haben das verstanden. Einen Tag nach dem Münchener Abkommen von Ende September 1938 gab Chamberlain schon die Weisung an die britischen Militärs, sofort und so schnell wie möglich aufzurüsten. Der amerikanische Gesandte in Berlin wurde nach der Pogromnacht zu Konsultationen nach Hause berufen. Roosevelt verstand ganz genau, was da vor sich ging. Aber er war ja nicht frei zu agieren, denn die Isolationisten in Amerika hatten die Oberhand. Er konnte nur sein Volk langsam darauf vorbereiten, daß diese Gefahr aus Europa fürchterlich war.

Hitler dachte, das wissen wir heute, im November 1938 auch daran, daß er schon an die 50 Jahre alt war und daß nur er, der charismatische „Führer“, den Sieg garantieren würde. Man konnte nicht mehr warten, das mußte jetzt alles ganz schnell geschehen. Und wie er so in seiner ganz typischen Sprache sagte, diesmal wollte er, daß kein „Schweinehund“ ihn daran hindern würde, einen Krieg anzuzetteln. Die deutsche Wehrmacht war eigentlich noch nicht bereit, aber sie war weiter entwickelt, als es die Westmächte waren. Die polnische Armee, wenn überhaupt man gegen die Polen kämpfen würde, war von keiner Wichtigkeit. In dieser Situation wollte man Krieg führen, entweder gegen Polen, oder mit den Polen gegen Rußland; Rußland hatte doch sein eigenes Militär geköpft durch die Ermordung der Generäle unter Stalin. Das also war das Gesamtbild.



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Das dritte Ziel, das kannte man zu dem Zeitpunkt nicht. Das können wir erst heute im Nachhinein beobachten. Es ist eigentlich nicht ein Ziel, sondern eine Frage. Wurde da eine Weiche gestellt zu der Shoah, zu dem Genozid an den Juden? Ich habe schon gesagt, daß damals kein Plan bestand für einen Völkermord. Aber sehen Sie, in der nationalsozialistischen Ideologie war der Mord schon inbegriffen, als Kern, obwohl nicht explizit, so wie in einem Schlangenei die Giftschlange schon da ist, aber man sieht sie noch nicht. Und das ging dann ziemlich schnell. Drei Jahre später war das schon bewußt.

Ist die Shoah denn einzigartig? Ich benütze dieses Wort nicht mehr. Ich habe das getan, viele Jahre lang. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß das falsch ist. Jedes historische Ereignis ist einzigartig. Und Einzigartigkeit würde bedeuten, daß das eine einmalige Erscheinung in der Geschichte ist. Man kann es also vergessen. Denn wenn es einmal geschehen ist, kann man beten, kann man weinen. Aber sich damit befassen ist doch überflüssig, es wird doch nicht wiederkommen. Das ist falsch. Es kann wiederkommen. Nicht nur gegenüber Juden, nicht durch Deutsche, sondern alle von uns sind anfällig, ob als Opfer, als Täter oder als Zuschauer, das sind wir ja alle. Denn Völkermorde gibt es ja auch nach der Shoah.

Aber die Shoah war präzedenzlos, das heißt also, daß die Shoah ein Präzedenzfall ist, und das wieder heißt, daß sie sich wiederholen kann. Denn sie ist nicht durch einen Gott oder einen Teufel gemacht worden, sondern durch Menschen. Und was Menschen tun, können sie auch wiederholen. Das wissen wir. Das wollen wir oft nicht wissen. Die Elemente, die präzedenzlos sind an der Shoah, sind nicht das Leiden der Opfer. Juden haben nicht mehr gelitten und nicht weniger als andere Opfer von anderen Genoziden. Kindermord, Folter, Mord an Menschen, Erniedrigungen – das alles war schon vorher da. Das ist nicht das, was die Shoah präzedenzlos macht. Was die Shoah präzedenzlos macht, ist die Totalität, das Verlangen der Nazis nach jedem einzelnen Menschen, den sie als Juden definierten: nämlich ihn zu registrieren, zu markieren, zu erniedrigen, zu enteignen, zu konzentrieren, zu transportieren, zu ermorden – jeden einzelnen Menschen. Das ist vorher noch niemals da gewesen. Das zweite ist die Globalität, nämlich daß der Genozid nicht nur in Deutschland, in Polen, in Frankreich, in Sowjetrußland und auf dem Balkan stattfinden sollte, sondern überall in der Welt. Es konnte doch die nordisch-arische Herrscherklasse oder -rasse nicht die Welt regieren, wenn auf dieser Erdkugel noch Juden sind. Das ging doch nicht. Dieser Vernichtungswille – universell – war präzedenzlos.

Die Ideologie war unpragmatisch, sie beschuldigte die Juden einer Weltverschwörung. Das kommt vom christlichen Antisemitismus her, vom Mittelalter und früher. Aber das Christentum hat niemals einen Genozid der Juden geplant. Und wenn Morde an Juden stattfanden, wie sie z. B. hier stattfanden im Mittelalter, so mußten dann sehr oft die Bischöfe und Päpste die Juden vor den Schlußfolgerungen, vor den Resultaten ihrer eigenen Hetze gegen die Juden verteidigen. Man durfte ja eigentlich Juden nicht töten, denn es waren Menschen, die Seelen hatten; das war eine Sünde.

Dann kam die Aufklärung, die Säkularisierung. Vom christlichen Antisemitismus wurde das Christentum abstrahiert, es blieb der pure Antisemitismus übrig. Das können Sie bei den Enzyklopädisten, bei Voltaire z. B., in seinen 52 Büchern nachlesen, wenn Sie unbedingt wollen. Und da wurde das Christentum angegriffen, weil es von den Juden herstammt, und das Judentum, weil es angeblich korrupt und verwerflich ist. Und dann kommt der Rassenantisemitismus hundert Jahre später und dann der Nationalsozialismus, der das benutzt.

Das ist völlig unsinnig, eine reine Phantasie! Das hat doch mit der Realität, mit den realen Juden überhaupt nichts zu tun. Das zeigte sich dann im 2. Weltkrieg. Da mordete man eigene Arbeiter, die Waffen schmiedeten für die deutsche Wehrmacht, in Berlin z. B. In der Industrie in und um Berlin gab es im Februar 1943 noch 16-17.000 jüdische Zwangsarbeiter, deutsche Juden. Die brauchte man jetzt. Das ist nach Stalingrad, Stalingrad ist einen Monat vorher. Jetzt wußte man doch, daß man jedes Paar Hände brauchen würde. Da nahm man am 27. Februar diese 16-17.000 Arbeiterinnen und Arbeiter von den Arbeitsplätzen weg, während des Werktags, lud sie auf Lkws, dann wurden die Familien noch dazu gepackt. Sie wurden zum Bahnhof gebracht und nach Auschwitz deportiert – in den Tod. Und das soll „pragmatisch“ sein, das ist „cost effective“, das ist „modern“? Das ist doch Unsinn. Diese Art von Ideologie war präzedenzlos.

Was war der Nationalsozialismus eigentlich? Das war eine ganz neue Revolution, die wollte etwas ganz Neues, was noch nie dagewesen war, eine Umordnung der ganzen Menschheit auf sogenannte Rassen. Die gibt es doch gar nicht! Es gibt doch keine Rassen. Wir kommen doch alle ursprünglich aus Afrika. Nur haben ein paar von uns einige hunderttausend Jahre in nördlichen Klimata verbracht, da sind wir ein bißchen bläßlicher geworden. Aber ursprünglich kommt die ganze Menschheit aus Afrika – es gibt keine Rassen, das ist Pseudowissenschaft! Und auf dieser Phantasie wollte man eine neue Menschheit aufbauen, mit der nordisch-arischen Rasse oben und dann die ganze Hierarchie runter – ohne die Juden, die werden nicht mehr da sein. Das ist ganz neu gewesen. Die Präzedenzlosigkeit der Shoah stammt meiner Meinung nach zu einem großen Teil von der Präzedenzlosigkeit des Nationalsozialismus. Und dann die Juden. Fragen Sie bitte einen Juden nicht, was die Juden sind. Sie wissen es nämlich nicht. Juden sind ein Volk, dessen Kultur auf immerwährender gegenseitiger Diskussion basiert.

Die Einigkeit des jüdischen Volkes besteht eben darin, daß man sich um die Tradition streitet – ein dialogisches Volk. Ein Volk, das nur dann bestehen kann, wenn es weiter mit sich argumentieren kann – wild argumentieren kann. Und diese Kultur, diese jüdische Zivilisation – die existiert wie bekannt seit einigen tausend Jahren, noch immer. Die Römer und die Griechen sind verschwunden, dort wohnen andere Völker, sprechen andere Sprachen, beten andere Götter an, schreiben andere Literaturen. Aber meine Enkel können Texte lesen – ohne Wörterbuch, die vor 3.000 Jahren geschrieben worden sind. Versuchen Sie das mal mit Walther von der Vogelweide, sehen Sie, wie weit Sie da kommen! Und wenn der Nationalsozialismus sich gegen alles, was Menschlichkeit war, aufbäumen mußte, um zu regieren, so war es doch eigentlich, wenn Sie es so sagen wollen, natürlich, daß man sich gegen die Juden wandte. Und der Novemberpogrom ist deswegen eine Weiche gewesen, eine Weiche für einen radikalen Einschnitt in die Menschheitsgeschichte.

Frau Frankenthal hatte völlig recht, als sie sagte, oder implizit sagte, daß man heute von der Shoah nicht sprechen kann, ohne den 11. September, ohne die zwei Türme in New York vor sich zu sehen. Wir sprechen von Fundamentalismus; der Nationalsozialismus war eine fundamentalistische Ideologie – ob Fundamentalismus nun politisch oder religiös gefärbt ist, tut doch nichts zur Sache. Der Nationalsozialismus – wie der Kommunismus auch – war eine terroristische Ideologie, bevor sie zu einem terroristischen Staat wurde. Der heutige islamische Fundamentalismus, das ist die radikale Minorität einer riesigen nichtradikalen Gemeinschaft. Und gegen diesen radikalen Terrorismus kann man nur durch die nichtradikale Mehrheit ankommen. Gegen den Nationalsozialismus hätte die deutsche Rechte agieren sollen, aber die gab es nicht, es gab keine demokratische Rechte am Ende der Weimarer Republik mehr. Gegen den Kommunismus kämpfte die Sozialdemokratie mehr oder weniger erfolgreich. Gegen den islamischen Fundamentalismus und gegen jeden Fundamentalismus muß man sich an die nichtradikale Mehrheit wenden. Denn die kann man zum Kampf gegen eine solche universelle Utopie aufbieten. Im Nationalsozialismus versprach man den Deutschen und den anderen Germanen eine wunderbare Volksgemeinschaft, einen Frieden, der auf Herrschertum basiert; das war doch ein Konsens über eine Utopie in der deutschen Gesellschaft, bestimmt schon 1938/39.

Sehen Sie, das ist äußerst wichtig sich zu merken: Universelle Utopien sind mörderisch. Radikale universelle Utopien sind radikal mörderisch. Wir müssen uns vor universellen Utopien bewahren, die sind menschengefährlich. Wir haben die Wahl: Wir können entweder der feige Polizeipräsident von Dinslaken sein und die SA-Bengel da, die das taten. Wir können Herr Böhme sein, aus Oberdorf. Es gab viel zu wenig Böhmes damals in Deutschland und später in ganz Europa. Aber es gab sie. Das gibt uns das Recht, diesen Vormittag zu begehen. Das gibt uns das Recht, denn wir können hoffen, und von der Hoffnung her die nächsten Generationen unterrichten. Es gibt ein kleines Licht – wie man so schön auf amerikanisch sagt – am Ende des Tunnels, und wir hoffen, es ist nicht die Eisenbahn, die uns entgegenkommt. Und wenn wir dieses Licht schüren wollen zu einer großen Flamme, so ist es möglich – schrecklich schwer, wahnsinnig kompliziert, aber die Hoffnung besteht. Deshalb können wir unseren jüngeren Generationen sagen: Erinnert euch, denn es ist sowohl eine Warnung, als auch eine kleine, aber doch – Hoffnung.




Der Autor

YEHUDA BAUER

Yehuda Bauer wurde am 6. April 1926 unter dem Namen Martin Bauer in Prag geboren. Sein Vater war Ingenieur, seine Mutter Modedesignerin. Als Zionisten emigrierte die Familie am Tag der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten im März 1938 über Rumänien und die Türkei schließlich nach Palästina. Martin (Yehuda) besuchte die höhere Schule in Haifa, wurde Mitglied der Palmach und studierte, unterbrochen vom Kampf im Arabisch-Israelischen-Krieg 1948, an der Universität Cardiff in Wales Geschichte. Danach war er unter anderem im Kibbutz Shoval als Melker tätig, vollendete aber parallel dazu seine wissenschaftliche Laufbahn und wurde 1960 an der Hebräischen Universität in Jerusalem in Geschichte mit Untersuchungen über das britische Mandat in Palästina promoviert. Danach lehrte er am Institute for Contemporary Jewry der Hebräischen Universität und erwarb sich in der Folge den Ruf als einer der führenden Historiker in der Erforschung des Holocaust. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören u.a.: Jüdische Reaktionen auf den Holocaust (Berlin 2012); Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945 (Frankfurt 1996); Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen (Frankfurt 2001); Der Tod des Schtetls (Berlin 2013). 


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