Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 243

Juli 2016

Welche Auswirkungen haben Holocaust und Nationalsozialismus, Verfolgung und Vernichtungskrieg auf das Selbstbild, die Identität der Kinder von "Täter-" und "Opfergeneration"? Wovon sind sie geprägt, wovon traumatisiert, und wie leben sie auf dem Boden ihrer Herkunft und im Geflecht der Geschichte ihrer Familien? Von welchen Fesseln ihrer Prägung haben sie sich befreien können, und welche Fesseln beschränken ihr Leben noch immer?

Nea Weissberg und Jürgen Müller-Hohagen haben 30 Betroffene - Nachkommen von Verfolgten und Nachkommen von Verfolgern - gebeten, ein Porträt ihrer Identität zu verfassen, um derlei Fragen und Probleme transparent werden zu lassen und einen Eindruck zu gewinnen, welche Auswirkungen das Naziregime auf das Selbstverständnis nachfolgender Generationen gezeitigt haben. Nachzulesen ist das nun in dem Band "Beidseits von Auschwitz - Identitäten in Deutschland nach 1945", der im vergangenen Jahr im Lichtig-Verlag erschienen ist.

Der Berliner Historiker und Journalist Dr. Martin Jander hat das Buch für COMPASS gelesen und sich mit der dabei zutage tretenden Problematik beschäftigt. Seine eingehende Rezension, die in der Sache zu einem ebenso nachdenklichen wie bedenklichen Fazit führt, sei Ihnen nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 243 nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.

COMPASS dankt Martin Jander für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2016 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 243


Nach Auschwitz. Identitätssuchen in Deutschland nach 1945 


MARTIN JANDER

Eine Rezension zu
Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.):
Beidseits von Auschwitz,
Lichtig Verlag, Berlin 2015
346 Seiten, 21.50 €uro



Als Hannah Arendt 1950 in die Bundesrepublik Deutschland kam, war sie verblüfft.1 Sie hatte mit vielen Dingen gerechnet, aber nicht mit dem, was ihr damals entgegenschlug: Gefühllosigkeit. Wissenschaftlich gesprochen, die Unfähigkeit zur Empathie. Damit verbunden sei, so schrieb sie, eine Unfähigkeit Verantwortung zu übernehmen und eine Flucht aus der Wirklichkeit.

In einem Bericht über diesen Besuch in Deutschland ermuntert Arendt ihre Leser, ein Experiment zu machen: „Das einfachste Experiment besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich daß man Jude sei. Hierauf folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause; und danach kommt – keine persönliche Frage, wie etwa: ´Wohin gingen Sie, als sie Deutschland verließen?`, kein Anzeichen für Mitleid, etwa dergestalt: ´Was geschah mit ihrer Familie?` – sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten (was sicher stimmt, aber nicht hierhergehört); und wenn die Versuchsperson dieses kleinen Experiments zufällig gebildet und intelligent ist, dann geht sie dazu über, die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zu verstehen gibt, daß die Leidensbilanz ausgeglichen sei und daß man nun zu einem ergiebigeren Thema überwechseln könne.“2     

65 Jahre später haben Nea Weissberg und Jürgen Müller-Hohagen ein vergleichbares Experiment gemacht. Sie sind zwar nicht nach Deutschland zu Besuch gefahren, beide leben hier, aber sie haben 28 Menschen, geboren zwischen 1935 und 1987, mit einer Herkunft aus Deutschland (BRD, West- und Ost-Berlin), der Schweiz, Rumänien, Österreich, Polen und Israel eingeladen, über ihre Identität nach der Shoah zu schreiben. Unter den Eingeladenen sind jeweils zur Hälfte Kinder und Enkel der überlebenden jüdischen Opfer der Nazis und Nachfahren und Erben der Kinder und Enkel der Nazi-Täter.

Aus den Beiträgen haben die Herausgeber das Buch „Beidseits von Auschwitz“ zusammengestellt. Es ist ein Kompendium, das in dieser Form seinesgleichen sucht. Bei der Lektüre stellte ich mir unwillkürlich die Frage: Und? Wird das Ergebnis eine Wiederholung der Erfahrungen Arendts bei ihrem Besuch 1950 abbilden? Hört die Generation der Täterkinder und Täterenkel tatsächlich zu und fragt nach? Oder wischen sie, wie ihre Eltern bereits kurz nach 1945, mit dem Verweis auf eigene Leiden, die Erfahrungen ihrer Gegenüber einfach vom Tisch und rechnen auf?



Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hg.):
Beidseits von Auschwitz - Identitäten in Deutschland nach 1945


Lichtig-Verlag
Berlin 2015
346 Seiten

ISBN: 978-3-929905-34-2
EUR 21,50


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Inwieweit hat die Shoah mit ihren Folgen, hat das Naziregime mit seinen Auswirkungen die 30 Identitäten der Frauen und Männer geprägt, die in diesem Buch Einblick in ihre Lebensgeschichte geben? Worüber haben sie nachgedacht, als sie nach ihrer Identität gefragt wurden?

Identität auch in dem Zusammenhang, unausweichlich durch die Herkunft an eine der beiden Seiten gebunden zu sein: Beidseits von Auschwitz. Nachkommen von Verfolgten – Nachkommen von Verfolgern. Auch Nachkommen von Tätern und Tatbeteiligten nehmen die Gelegenheit wahr, ihre Einsichten sichtbar zu machen, wie sich die Verbrechensbeteiligung ihrer Vorfahren bis heute auf ihr Leben auswirkt. Mit Bedacht haben wir ans Ende des Buches einen Beitrag aus dem Kontext des politischen Widerstands gesetzt.

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Nach Auschwitz: In Deutschland

Eine erste Antwort auf meine Frage erhielt ich bereits bei der Lektüre der Artikel der beiden Herausgeber des Bandes. Nea Weissberg wurde 1951 in Berlin in einer jüdischen Familie geboren. In den Familien ihrer beiden Eltern wurden, so erlauscht sie als Kind, etwa 120 Menschen ermordet.3 Ihre Eltern waren angesichts antisemitischer Pogrome in Polen 1946 aus Krakau nach Berlin geflohen. 1977 bis 1986 unterrichtete sie an einer Gesamtschule in West-Berlin. Als Jugendliche und Erwachsene lernte sie in vielen verschiedenen Ländern die überlebenden Mitglieder der Familie ihrer Eltern kennen. Während ihrer Zeit in einer Gesamtschule begann sie Unterrichtsmaterialien zu entwickeln, die eine Auseinandersetzung mit der Shoah ermöglichten.

Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin war sie mit verschiedenen kulturellen Initiativen von Juden der zweiten Generation in West- und Ost-Berlin vernetzt und begann Bücher zu publizieren.4 Der Beruf einer Lehrerin wurde ihr zu eng. 1993 gründete sie den bis heute bestehenden Lichtig-Verlag, der vorwiegend jüdische Literatur und anspruchsvoll gestaltete jüdische Wandkalender im Programm hat und in dem auch dieser Sammelband erscheint.5 Ihr besonderes Anliegen als Verlegerin und Herausgeberin gilt der Förderung des Dialogs zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Seit 1992 beschäftigt sie sich mit Psychodrama und nimmt an internationaler Gruppenarbeit zum Thema „Konfrontation mit den Folgen der Shoah und des Dritten Reichs“ teil.

In ihrem Beitrag im Band erläutert Frau Weissberg ihre Entwicklung. Es heißt da: „Ich habe mich bis zur Maueröffnung 1989 als jüdische Berlinerin bezeichnet. Mittlerweile hat sich mein Selbstverständnis dahingehend verändert, dass mein Jüdisch-Sein und mein Deutsch-Sein sich angenähert und zueinander gefunden haben. (…) Ich lebe als Jüdin nicht religiös, bin aber der jüdischen Tradition sehr zugeneigt. (…) Meine Eltern sprachen mit uns Kindern ein gebrochenes Deutsch, das von ihrer Muttersprache, jiddisch und polnisch, stark gefärbt war. Diese weiche Sprachmelodie und die Klangfarbe wärmen mir heute noch in der Erinnerung das Herz.“6

Der Mitherausgeber Jürgen Müller-Hohagen wurde 1946 in einer westfälischen Kleinstadt geboren.7 Er studierte Psychologie, Philosophie und Soziologie in Bonn und München und schloss mit einem Diplom in Psychologie ab. Seine Promotion erwarb er in Philosophie. Neben einer Tätigkeit an einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik der Universität München arbeitete er auch an der Ambulanz des Kinderzentrums München. Von 1986 bis 2011 leitete er eine in diakonischer Trägerschaft stehende Erziehungs-, Jugend- und Familienberatungsstelle und publizierte zum Thema Psychotherapie und Behinderungen. 1982 zog er mit seiner Familie von München nach Dachau und begann sich im Vorstand des zeitgeschichtlichen Vereins Zum Beispiel Dachau zu engagieren.

Aus der Kombination von Erfahrungen am "Lernort" Dachau mit der täglichen psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit begann er seit 1983 mit der Erforschung der seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit. 2001 gründet er gemeinsam mit seiner Frau das Dachau Institut Psychologie und Pädagogik, es wird von beiden gemeinsam geleitet. Über die Geschichte seiner Familie im Nationalsozialismus und seinen eigenen Umgang damit, einen Prozess beständiger Selbstbefragung, wird der Leser im Beitrag Hohagens sehr ausführlich informiert.

Hohagen hält das Konzept von Identität selbst für äußerst problematisch, fasst aber seinen Standort dann doch zusammen: Er schreibe als einer der Nachkommen der ehemaligen nationalsozialistischen „Volksgenossen“. Das sei „eine Teilidentität, die uns mit unserer Geburt als ein Gehäuse zuteil“ werde, „das wir nicht verlassen können.“ Und er fügt hinzu: „Analoges gilt für die andere Seite, die Nachkommen der Überlebenden. Wir beide haben keine Wahlmöglichkeit, die Gehäuse unserer jeweiligen Herkunft zu verlassen.“8 Lediglich in der Auseinandersetzung und gemeinsamen Gespräch über diese Vergangenheiten und diese Gehäuse, da habe man „Optionen“.9 Worin diese „Optionen“ genau bestehen, führt er nicht aus.

„Im gebrochenen Spiegel der Anderen“

Der Arbeitstitel des Sammelbands lautete: „Im gebrochenen Spiegel der Anderen. Identitäten in Deutschland nach der Shoah“.10 Die Grundannahme der Herausgeber war offenbar, dass sich beim Schreiben der Texte selbst und im Prozess der Produktion des Buches so etwas wie ein Dialog herstellen könnte. Die Annahme war, dass man sich wechselseitig im „gebrochenen Spiegel“ des Gegenübers erkennen und aufeinander einlassen könne. Wieso die Herausgeber am Ende den Buchtitel in die sehr viel statischere Formulierung „Beidseits von Auschwitz“ verwandelt haben, wird in den publizierten Texten nicht erläutert, erschließt sich aber demjenigen, der die Texte von Anfang bis Ende liest durchaus.

Die Texte des Bandes sind nicht in Rubriken wie z. B. Täterkinder/Täterenkel bzw. Überlebendenkinder/Überlebendenenkel oder Widerstandskinder/Widerstandsenkel sortiert, es wurden Überschriften gewählt, die solche Zuordnungen nicht gleich erkennen lassen. Die Abteilungen des Bandes heißen: „Identitäten“ [Jürgen Müller-Hohagen, Yaakov Naor, Karin Weiman], „Lebensverläufe im Spannungsfeld privater und öffentlicher Welt“ [Nea Weisberg, Eva Nickel, Norma Drimmer], „Nach 1945: Der Neubeginn der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ [Miriam Magall], „Distanzierungen“ [Beate Niemann], „Identität und Öffentlichkeit“ [Sandra Kreisler, Karsten Tryke], „Ent-Wicklungen“ [Annina Truninger, Ursula Sperling-Sinemus, Thomas Nowotny, Johanna Ofori Attah, Daria Gan, Monika Blanchy], „Zwischen den Welten“ [Hilde Gött, Hagar Levin, Evelyn Köhler, Leah Carola Czollek, Alfred Ullrich, Krzysztof Rajzman], „Über Generationen hinweg“ [Gabriel Berger, Anni Söntgerath, Dorothea Stolle, Petra G., Jürgen Müller], „Geraubtes: Zurückgeben“ [Marguerite Marcus], „Verfolgung und Widerstand“ [Gabriel Berger, Regina Szepansky] und „Schluss“ [Halina Birenbaum].

Hat der Leser alle Beiträge gelesen, wird sich aber eine solche Zuordnung dennoch herstellen. Etwas vereinfacht gesprochen findet man in den meisten Beiträgen von Täterkindern oder Enkeln, ganz ähnlich wie im Artikel des Herausgebers Jürgen Müller-Hohagen, längliche Beschreibungen über den Versuch, sich von der Identifikation mit den Eltern zu lösen. Die „andere Seite“, die Anwesenheit der Überlebenden und ihrer Kinder, oder gar die Geschichte Israels tauchen in diesen Beiträgen nur am Rande oder überhaupt nicht auf. Die Autoren scheinen sich, wie Jürgen Müller Hohagen in seinem Beitrag schreibt, in einem „Gehäuse“ weitergegebener Denk- und Verhaltensmuster aufzuhalten, das sie maximal über den Weg einer Introspektion aufzuschlüsseln vermögen, aber offenbar nicht verlassen können. 


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„Die Tochter wird damit leben, dass es so war“

Ein gutes Beispiel für eine solche Introspektion ist der Artikel von Dorothea Stolle mit dem Titel „Kriegstagebuch“, der sich in der Abteilung „Über Generationen hinweg“ findet. Der Artikel, den Frau Stolle als eine Beobachterin ihrer selbst verfasst hat, handelt davon, dass sie ein Kriegstagebuch ihres Vaters findet und es mit wachsendem Entsetzen durchliest. „Warum“, fragt sie sich selbst ganz zu Beginn ihres Aufsatzes, „findet sie diese Geschichten jetzt plötzlich interessant, hat auf einmal das Gefühl, einen Menschen zu entdecken, der mit dem Vater, den sie erlebte, nur wenig zu tun hat? Diesem gläubigen Mann, der jeden Tag mit frommer Lektüre und Gebet begann und dessen gesamtes Leben von einer gottergebenen Haltung geprägt war?“11 

Im Kriegstagebuch des Vaters findet die Tochter eine Erklärung für die Gewalt, die sexuellen Übergriffe, denen sie in ihrer Jugend von ihrem Vater selbst ausgesetzt war. So wie der Vater einerseits Frömmigkeit demonstrierte sich aber gleichzeitig an seiner Tochter verging, so war er offenbar guter Laune in den Krieg gezogen und genoss „die wärmende Sonne Südosteuropas beim Baden im Schwarzen Meer und in kleinen Flüssen und das Kampieren im Zelt den gesamten Sommer über.“

Dieser Vater hat offenbar ein Problem mit der Wahrnehmung seiner Verantwortung: „Zerstörte Städte und Dörfer beschreibt der Vater, verwüstete Landschaften und erwähnt nicht, dass seine ruhmreiche Armee das verursacht hat.“ Die Autorin liest sich immer weiter in das Tagebuch des Vaters ein und zieht Landkarten und Bücher zu Rate, um genau zu verstehen was geschah und wo sich ihr Vater aufhielt. „Sie will wissen, was weiter geschah und sie will versuchen, wenigstens sich selbst den Raum zu geben, dem anderen, das er ausblendete, ausblenden musste offenbar, um weiterleben zu können.“

Je weiter Dorothea Stolle im Kriegstagebuch liest, umso wütender wird sie. Ganz besonders in den Passagen, in denen der Vater beschreibt, wie er beim Rückzug vor der heranrückenden Front verschiedenen Leiden ausgesetzt gewesen sei. Sie erkennt in dem gegenüber seinen Kindern sehr gewalttätigen Vater die Wut über den verlorenen Krieg. Im Alter von 40 Jahren fasst sie sich ein Herz und konfrontiert den Vater mit den sexuellen Übergriffen und der Gewalt, die er ihr angetan hat.

Die Autorin hat zu ihrem Text einen „Epilog“12 verfasst. Einen Text nach dem eigentlichen Text. In diesem beschreibt sie, dass ihr bei ihren anfänglichen Reflektionen über das Kriegstagebuch ihres Vaters nicht aufgefallen sei, dass die Kriegshandlungen ihres Vaters etwas mit dem Mord an den europäischen Juden zu tun haben könnten: „Die Tochter hat begonnen, sich zu interessieren für ihn, hat kritische Fragen gestellt über vermeintlich Ausgeklammertes und hat dabei selbst etwas ausgegrenzt. Unbewusst, es ist ihr nicht eingefallen. Es ist so, als hätte der Genozid an den Juden nichts mit Vaters ´Kriegsabenteuer` zu tun. Könnte, dürfte mit ihm nichts zu tun haben. Nach ihrer ersten Betroffenheit über diesen ´Lapsus` versucht sie zu verstehen, was das bedeutet.“

In den folgenden Passagen denkt die Autorin darüber nach, warum sie diese Abtrennung vorgenommen hat. Sie gelangt zu der Erkenntnis, dass es offenbar auch in ihr selbst „Schweigemauern“ gäbe, in denen „Tabuisierungen“ weitergegeben würden. Sie schließt ihren Artikel mit den Worten: „Die Tochter wird damit leben, dass es so war. Und mit erhöhter Wachsamkeit wendet sie sich wieder ihrem gegenwärtigen Leben zu.“13   

Bis zum Ende des Textes schafft es die Autorin kein einziges Mal „ich“ zu sagen. Die so deutlich am Vater kritisierte Unfähigkeit zur Übernahme von Verantwortung reproduziert sich hier offenbar auch sprachlich. Nicht zu denken ist in diesem Text an irgendeine Form des Nachdenkens über Verantwortung, über das was die Opfer ihres Vaters wohl gefühlt haben mögen, oder was die Situation der überlebenden Opfer wohl in der Gegenwart sein mag. Auch wenn dies zugegebenermaßen einer der radikalsten Täterkindertexte in diesem Sammelband ist, in dem die Autorin sich vorwiegend um sich selbst dreht, seine Elemente finden sich in den meisten anderen Beiträgen von Täterkindern und –enkeln wieder.

„Tikkun Olam“

Eine ganz andere Tendenz findet sich häufig in den Beiträgen von Menschen der zweiten und dritten Generation der Überlebenden. Sie werfen, bei aller Reflektion der an sie von ihren Vorfahren weitergegebenen Traumata, einen offenen Blick auf die Gesellschaft in der sie leben und formulieren für sich eine fragmentierte Identität, ganz ähnlich wie dies Nea Weissberg in ihrem Beitrag tut.

Ein gutes Beispiel ist der Beitrag von Norma Drimmer, die 1945 in einem Camp für „Displaced Persons“ in Berlin Schlachtensee geboren wurde und von 1986 bis 2001 im Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wirkte. Ihre Eltern stammten aus Polen. Der größte Teil ihrer Angehörigen wurde während der Shoah ermordet. Ihre Eltern wollten eigentlich nach Polen zurückkehren, wurden aber von jüdischen Freunden 1945 gewarnt, dorthin zurückzukehren. Die Stimmung sei, so warnte man sie ganz richtig, trotz der Niederlage und dem Abzug der Deutschen, sehr gegen Juden gerichtet.

Es brauchte erst einige Jahre bis Norma Drimmers Eltern sich entschieden, überhaupt in Berlin und im Land der Täter zu bleiben. Auch die Tochter, die Autorin, durchlebt viele Lebensabschnitte, in denen sie sich vor ihrer deutschen Umwelt zutiefst fürchtet und deshalb abschließt. Erst als es im Jahr 1967, während des 6-Tage-Krieges, zu Sympathiekundgebungen für das „kleine belagerte israelische Land“ kommt, fühlt sie sich bestätigt, „in Berlin bleiben zu wollen“.14   

Einen Deutschen heiraten will sie nicht, sie erlebt im Freundeskreis, dass die nicht-jüdischen Partner von Juden dies nur tun, um den Eltern eins auszuwischen. Die verschiedenen Wellen des Antisemitismus in den beiden Nachkriegsstaaten, die Vertreibung vieler Juden aus der DDR  1952/53, die Zusammenarbeit deutscher und palästinensischer Terroristen, all diese Ereignisse bettet die Autorin in einen Kurzabriss der Geschichte der beiden deutschen Staaten und der Stadt Berlin ein und schildert ihre langsame Annäherung an Berlin und Nachkriegsdeutschland.

So sehr sie überzeugt ist, dass ihre Arbeit in der jüdischen Gemeinde in verschiedenen Bereichen hilft, und so sehr sie überzeugt ist, dass nirgendwo so wie in Deutschland aufrichtig Trauerarbeit geleistet werde, so sehr stürzt sie ein Ereignis in eine Lebenskrise. Als Ignatz Bubis kurz vor seinem Tod 1999 artikuliert, er habe fast nichts bewirkt, jüdische und nicht-jüdische Deutsche seien einander fremd geblieben.

Die Entscheidung ihrer Eltern und ihre eigene Entscheidung hier im Land der Täter zu bleiben, ist in Frage gestellt. Sie beginnt seit der Jahrtausendwende ihren Gefühlen in anderer Form Ausdruck zu verleihen. Sie beginnt zu schreiben, nutzt Fotos, Fotocollagen und Videos und beginnt Ausstellungen zu organisieren.

Sie schließt ihren Beitrag mit folgenden Formulierungen: „Wer kann schon sagen, wie viel seine Tätigkeit bewirkt hat oder bewirken wird. Es ist wichtig, wie Sisyphos weiter zu leben und zu hoffen, das eigene Tun möge vielleicht ein wenig zu „tikkun olam“ (Hebräisch: Heilung der Welt“ – d. Verf.)  führen; es ist das Konzept, die Welt durch das eigene Handeln ein wenig besser zu machen.“15 

Weit davon entfernt, die von ihren Eltern ererbten Traumata in Abrede zu stellen, begegnen wir hier einer Autorin, die keine Probleme dabei hat „ich“ zu sagen und eine plastische Schilderung der von ihr übernommenen Aufgaben in der jüdischen Gemeinde zu Berlin zu geben. Ihr Leben wird immer wieder von Panikattacken erschüttert, wenn sich anzudeuten scheint, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik doch nicht so zivilisiert wurde, wie sie das im Laufe der Jahre zu sein schien.


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Hannah Arendt: „Einverstanden, aber …..“

Alles in allem handelt es sich um ein mutiges Buch. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Publikationen, die einen manchmal sehr intimen Einblick in Lebensgeschichten von Juden und Nicht-Juden in Deutschland geben. Wer die Beiträge von vorne bis hinten liest, wird aber erkennen, dass hier ein ziemlich schauriges Ergebnis zu Tage gefördert wird. Die Kinder der Überlebenden, so die Botschaft, tragen bis an ihr Lebensende die Traumata der Eltern mit sich und durchleben tiefe Lebenskrisen, wenn die gesellschaftliche Lage eine Wiederholung der furchtbaren Erlebnisse ihrer Eltern anzudeuten scheint.

Viele der Kinder der Täter dagegen sind mal mehr, mal weniger mutig, die Geschichte und vor allem die Verbrechen ihrer Eltern und Großeltern zur Kenntnis zu nehmen. Die Leiden der Opfer ihrer Vorfahren kommen dabei aber meistens nur sehr oberflächlich in den Blick. Von dem Versuch, sich selbst aus dem von der Familie übermittelten Antisemitismus und Rassismus herauszuarbeiten, ihn bei sich selbst zu erkennen, ist nur wenig zu hören.

Etwas schroff zusammengefasst könnte man sagen, der Band demonstriert den weiterhin von Empathie für die überlebenden Opfer ihrer Vorfahren ungetrübten Blick vieler Nazinachfahren. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich hauptsächlich auf sich selbst. Die Sozialwissenschaftlerin Agnes Müller hat das in einer Untersuchung über deutsche Gegenwartsliteratur die „Unfähigkeit zu lieben“ genannt, die auf der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) fuße.16 

Damit soll die Weiterentwicklung des Gesprächs zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland nicht kleingeredet werden. Die Generation der Nazi-Täter-Kinder hat immerhin begonnen, die Verbrechen ihrer Eltern anzuerkennen. Den Schritt aber, der dem folgen müsste, hat sie, liest man die Beiträge in „Beidseits von Auschwitz“, nicht vollzogen.

Der Schritt der folgen müsste, lag bereits kurz nach dem Ende der Shoah klar zu Tage. Es war wiederum Hannah Arendt, die ihn sehr luzide zur Sprache brachte. In ihrem Briefwechsel mit ihrem Lehrer Karl Jaspers, diskutierte sie dessen 1946 erschienene Schrift „Die Schuldfrage“.17 Sie lobte ihn für die ausführliche Beschäftigung mit dem Thema Schuld und erklärte sich mit den meisten der angesprochenen Themen und seiner Behandlung einverstanden.

Arendt fügte dann jedoch in einem Brief vom 17. August 1946 hinzu: „Einverstanden, aber mit einigen Einschränkungen und Zusätzen. Monsieur18 vor allem insistiert, daß ein Übernehmen der Verantwortung in mehr bestehen müsse als in dem Akzeptieren der Niederlage und den damit verbundenen Konsequenzen. Er sagt seit langem schon, daß ein solches Übernehmen der Verantwortlichkeit, das ja eine Vorbedingung für die Weiterexistenz des Volkes (nicht der Nation) ist, mit einer positiven politischen Willenserklärung an die Adresse der Opfer verbunden sein müsse. Das soll natürlich nicht heißen, daß man versucht gutzumachen, wo nichts mehr gutzumachen ist; wohl aber daß man z. B. den ´displaced persons` sagt: Wir verstehen sehr gut, daß ihr raus und nach Palästina wollt; abgesehen davon aber, sollt ihr wissen, daß ihr hier alle Rechte habt, daß ihr auf unsere volle Hilfe zählen könnt, daß wir in einer künftigen deutschen Republik unsere Abkehr vom Antisemitismus in Erinnerung dessen, was durch Deutsche dem jüdischen Volk geschehen ist, konstitutionell festlegen werden, etwa so, daß jeder Jude, gleich wo er geboren ist, jederzeit, wenn er will, und allein auf Grund seiner jüdischen Nationalität gleichberechtigter Bürger dieser Republik werden kann, ohne darum aufzuhören, ein Jude zu sein.“19 

Hannah Arendt und ihr Mann klagten gegenüber Karl Jaspers ein, dass er sich in seinem Buch nicht damit beschäftige, wie denn die überlebenden Täter den Überlebenden Unterstützung, Solidarität zukommen lassen könnten.

Eben diese Einwände, die Arendt und Blücher gegenüber Jaspers erhoben, lassen sich gegenüber dem Buch „Beidseits von Auschwitz“ erheben. Insbesondere gegenüber den Beiträgen der hier versammelten Täterkinder und Täterenkel. Mehr oder minder mutig robben sie sich an ihre familiären Verstrickungen und die Untaten ihrer Eltern und Großeltern heran. Manche, wie z. B. der Mitherausgeber Jürgen Müller-Hohagen, spüren den von den Eltern übernommenen Verhaltenstradierungen bis in die verborgensten Winkel ihrer Psyche nach. Eine Öffnung gegenüber den Leiden der Überlebenden und ihrer Kinder findet jedoch weitgehend nicht statt. Gedanken an mögliche Hilfen, Unterstützungen für sie, sind in den Artikeln der Täterkinder und Täterenkel nicht präsent.



ANMERKUNGEN



1 Siehe: Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, in: Marie Luise Knott (Hrsg.), Hannah Arendt: Zur Zeit, Politische Essays, Berlin 1986, S. 43ff.
2 Zitiert nach: Ebenda, S. 44.
3 Siehe: Nea Weissberg, Verletzte Herzen, in: Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.), Beidseits von Auschwitz, Berlin 2015, S. 77ff.
4 Siehe eine Liste ihrer Publikationen bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Nea_Weissberg
5 Siehe den Internet-Auftritt des Verlags: http://www.lichtig-verlag.de/
6 Zitiert nach: Nea Weissberg, Verletzte Herzen, in: Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.), Beidseits … a. a. O., S. 108/109.
7 Biografische Informationen siehe: http://www.dachau-institut.de/institut.html
8 Zitiert nach: Jürgen Müller-Hohagen, NS-Nachgeborene – was heißt hier Identität?, in: Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.), Beidseits …. a. a. O., S. 10.
9 Zitiert nach: Ebenda., S. 43.
10 Zitiert nach: Nea Weissberg, Verletzte Herzen, in: Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.) Beidseits … a. a. O., S. 91. (Fußnote 41)
11 Zitiert nach: Dorothea Stolle, Kriegstagebuch, in: Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.), Beidseits … a. a. O., S 299.
12 Siehe: Ebenda., S. 309ff.
13 Zitiert nach: Ebenda., S. 312.
14 Zitiert nach: Norma Drimmer, Das Land, die Stadt und ich, in: Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen (Hrsg.), Beidseits … a.a.O., S 141.
15 Zitiert nach: Ebenda., S. 145.
16 Siehe: Agnes C. Mueller, The Inability to Love – Jews, Gender, and America in Recent German Literature, Northwestern University Press 2015.
17 Siehe: Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg und Zürich 1946.
18 Hannah Arendt nennt ihren Mann Heinrich Blücher in ihren Briefen „Monsieur“.
19 Zitiert nach: Lotte Köhler, Hans Saner (Hrsg.), Hannah Arendt, Karl Jaspers Briefwechsel 1926 – 1969, München und Zürich 1985, S. 88.





Der Autor

MARTIN JANDER

... geb. 1955, Historiker und Journalist. Er unterrichtet deutsche Geschichte im europäischen Kontext im Programm der Stanford University in Berlin und, ebenfalls in Berlin, im Programm von FU-BEST.

Er hat über die Geschichte der Opposition in der DDR promoviert und forscht, gemeinsam mit Dr. Wolfgang Kraushaar, an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur zur Geschichte der linksterroristischen Gruppen in der Bundesrepublik und ihren internationalen Verbindungen. Er schreibt für den Tagesspiegel, die Jüdische Allgemeine und für www.hagalil.com.

Ein Vortrag von Dr. Martin Jander zu seinem laufenden Forschungsprojekt auf Einladung der DIG Berlin und Potsdam handelt von der gemeinsamen Feindschaft der DDR und der westdeutschen Linken zu Israel:
http://publikative.org/2011/10/11/vereint-gegen-israel-die-ddr-und-der-westdeutsche-linksterrorismus.


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