Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 213

Dezember 2014

Rabbiner Eugene B. Korn ist im christlich-jüdischen Dialog in den Vereinigten Staaten wie auch in Israel eine bemerkenswerte Ausnahmepersönlichkeit, denn er ist orthodoxer Rabbiner - und für orthodoxe Rabbiner ist es nach wie vor eher eine Seltenheit, dass sie aktiv am interreligiösen Gespräch teilnehmen. Korn, der 2003 vom israelischen Rabbinat zum orthodoxen Rabbiner ordiniert wurde, studierte Philosophie und Mathematik und promovierte an der Columbia University in Moralphilosophie. Einem breiteren Publikum wurde er u.a. im Jahre 2004 durch seine engagierte Kritik an Mel Gibsons heftig umstrittener Verfilmung der "Passion Christi" bekannt.

Der nachfolgend wiedergegebene Text basiert auf einem Vortrag, den Korn beim 22. Treffen des Internationalen katholisch-jüdischen Verbindungskomitees im Oktober 2013 in Madrid vortrug. In seinem Beitrag benennt Korn eine Reihe von kritischen Herausforderungen, von denen Judentum wie Christentum gleichermaßen betroffen sind. Beide sehen sich durch religiöse Irrationalitäten bedroht, die sich in Form von Extremismus, Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt Ausdruck verschaffen. Gegenüber einem zunehmend militanten Säkularismus sowie in Anbetracht einer wachsenden eigenen moralischen Schwäche innerhalb der jüdischen und christlichen Welt mahnt Korn zu einer verstärkten Betonung der Sinnhaftigkeit des Lebens und einer aktiven Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber dem Leben.

Korns Beitrag erschien in der deutschen Übersetzung von Hans-Hermann Henrix erstmals in der Neukirchener Theologischen Zeitschrift "Kirche und Israel" (Nr. 1, 2014) und wird hier mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Verlag der Zeitschrift als ONLINE-EXTRA Nr. 213 wiedergegeben.

© 2014 Copyright bei Autor, Redaktion
u. Verlag von "Kirche und Israel"
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 213


Aktuelle ethische und religiöse Herausforderungen der Religion

Rabbiner EUGENE KORN



Das Thema der aktuellen ethischen und religiösen Herausforderungen für die Religion verfolgt mich. Es hat mich in ungezählte Tage des Nachdenkens gestoßen und mir viele schlaflose Nächte bereitet. Es ist keine Frage, dass die Religion an allen Orten in der Defensive ist, wo sich moderne Werte eingeschlichen haben – Werte wie Pluralismus, wissenschaftliche Skepsis, Diesseitigkeit, Autonomie und Individualismus. In den zeitgenössischen Kulturen Europas und Amerikas wird Religion oft als unvereinbar mit diesen allgegenwärtigen Werten gesehen. Als ein Ergebnis scheinen religiöse Institutionen kulturell die Schlacht in fast allen Gemeinschaften zu verlieren, deren Mitglieder es ablehnen, sich selbst zu isolieren, indem sie sich in selbstgewählte Ghettos zurückziehen.

Dies ist ein wesentlicher Unterschied zwischen unserem Dilemma und jenen unserer Vorfahren, besonders jenen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit – der Epochen der geistigen Koryphäen, bei denen viele von uns nach Inspiration und Erleuchtung suchen. Diese Autoritäten lebten in Kulturen, die sich nach Religion und theologischen Werten ausrichteten. In diesen Kulturen konnte man annehmen, dass eines Menschen Weltanschauung und tägliches Leben von religiöser Praxis und vom Engagement für die Synagoge oder Kirche durchdrungen waren, es sei denn, ein Mensch machte den radikalen Schritt, ein Häretiker zu werden.

Aber heute ist das Gegenteil der Fall. Das moderne Leben ist überall eine persönliche Wahl, und folglich können Treue zur Religionsgemeinschaft, Glaube und Tradition nicht für selbstverständlich gehalten werden. Tatsächlich liefert das griechische „hairesthai“, das „wählen“ bedeutet, die Wurzel für unseren englischen Begriff für Häresie („heresy“). Alle von uns führen als Anhänger der Moderne ein Leben radikalen Wählens – um sich in unsere Glaubenstraditionen hineinzuwählen oder sich aus ihnen herauszuwählen.1  Die Herausforderungen für das Kulturelle und Moralische und die politischen Herausforderungen für die Religion sind allgegenwärtig, überwältigend und kraftvoll, und wenn wir sie nicht voll und ganz erkennen und keine aktiven Schritte unternehmen, ihnen zu begegnen, dann werden unsere Gemeinden weiterhin schrumpfen und unsere Glaubenstraditionen werden gefährdet sein.

Ich möchte kurz drei kritische Herausforderungen sowohl für das Judentum als auch für das Christentum von heute anschneiden und zwar in der Hoffnung, unter uns weitere Reflexion, Diskussion und Aktion anzuregen. Jeder von uns hier – ob katholisch oder jüdisch – erfährt diese Herausforderungen. Zugespitzter: Christen, Juden und unsere Glaubenstraditionen werden oft ausdrückliche Ziele dieser Bedrohungen. Die erste Herausforderung ist ein weit reichender Säkularismus – und besonders seine ethischen Implikationen. Die zweite ist die religiöse Irrationalität, die sich als Extremismus, Intoleranz und Gewalt mit all ihren schrecklichen menschlichen und politischen Konsequenzen ausdrückt. Diese beiden Heraus-forderungen stammen von den Extremen her – politisch von den „linken“ und den „rechten“. Sie greifen natürlich lang bestehende jüdische und christliche Überlieferungen an, deren Gesetze und intellektuelle Grundlagen den Stempel der Vernunft, Weisheit und Mäßigung tragen.

Diese ersten beiden Bedrohungen sind extern. Die dritte Herausforderung ist intern. Es sind die öffentlichen moralischen Fehler so vieler unserer religiösen Führer und Institutionen und die verheerenden, die Gemeinde betreffenden Wirkungen, welche diese Fehler in ihrem Gefolge hinterlassen. Ich beeile mich hinzufügen, dass meine Gedanken über diese dritte Herausforderung sich in erster Linie aus meinen Überlegungen über die Fehler in meiner eigenen Gemeinschaft, der jüdischen Gemeinschaft, einstellen. Ich habe nicht den Wunsch, andere Gemeinschaften oder ihre führenden Persönlichkeiten in diesem Bereich zu beurteilen. Da wir in einem globalen Dorf leben, vermute ich gleichwohl, dass die Herausforderungen für die Kirche nicht völlig von jenen verschieden sind, die das Judentum und seine Institutionen betreffen.


I.    Säkularismus und seine Ethik

Die moderne Wissenschaft hat uns ermöglicht, eine Welt zu schaffen, in der wir ein gutes Maß an Kontrolle über unsere Umwelt haben, so dass uns ein besseres, humaneres Leben erlaubt ist. Die moderne Medizin, Elektrizität, Computertechnik, Mikrotechnologie, Kommunikation und die effiziente Verteilung von Waren und Dienstleistungen ermöglichen der Menschheit, mit größerer Würde zu gedeihen, als unsere Vorfahren es taten – und dieses Aufblühen sollte als ein Segen in einem tief religiösen und theologischen Sinn verstanden werden.

Doch fördert die Wissenschaft natürlich eine Philosophie des „Szientismus“ – das funktionale, empirische und materialistische Verständnis des Universums. Das Feld der Wissenschaft ist auf messbare Phänomene in Raum und Zeit beschränkt. Es hat nichts mit transzendenten, metaphysischen oder geistlichen Entitäten zu tun. Ihre Weise des Denkens ist skeptisch, positivistisch und letztlich utilitaristisch. So führt das Weltbild des Szientismus oft zu einem Verständnis der menschlichen Erfahrung, das dem einfachen Glauben und der spirituellen Sehnsucht feindlich ist, sich mit dem Ewigen zu verbinden, der jenseits von Raum und Zeit existiert. In der Tat, Gott ist ein Fremder in dieser Welt der materialistischen, quantitativen und ursächlichen Dynamiken, und unsere Kultur als Ganzes hat sich kontinuierlich vom organisierten Glauben gelöst.

Wir haben uns in den modernen Zeiten unvermeidlich vom Göttlichen ent-fremdet. Jüngsten Erhebungen zufolge ist die am schnellsten wachsende religiöse Gruppe in Amerika heute die Gruppe der sogenannten „Nones“ – Menschen, die keine Religion haben. 20 bis 22 Prozent aller Amerikaner behaupten, sie haben keine Religion.2  Die Schätzung ist, dass ein Drittel der als Katholiken geborenen einheimischen Amerikaner die Kirche verlassen haben und zwar meist für keine andere religiöse Institution. Wenn wir die jüngere Bevölkerung betrachten – die „Millennials“3, die nach 1980 geboren wurden –, so steigt ihr Anteil auf 32 Prozent sowohl bei Juden wie bei Christen.4  Obwohl der Laizismus nur in Frankreich offizielle Rechtspolitik ist, ist er eine weite kulturelle und soziale Realität in ganz West- und zunehmend in Osteuropa. 30 Prozent aller Franzosen haben keine Religionszugehörigkeit, während 43 Prozent der Befragten in England die Religion als etwas betrachten, das in ihrem Leben wenig bis gar keine Bedeutung hat.5  In den katholischen Mit-telmeerländern wie Spanien und Italien wächst die Zahl der „Nominellen“ – d.h. derjenigen, die sich als Katholiken identifizieren, aber von der religiösen Praxis weit entfernt sind – exponentiell. All dies bedeutet, dass sowohl die Kirche wie auch die Synagoge Menschen schnell und in dramatischer Anzahl verlieren.

Die tiefste Herausforderung dieses wissenschaftlichen Säkularismus‘ für die Religion ist nicht das Streben nach Kontrolle der Natur – das ist eine gute Sache –, noch die scheinbar unaufhaltsame und unbegrenzte Suche nach Reichtum, die keine Tugend ist. Es sind vielmehr die Auswirkungen auf ein religiöses Verständnis des menschlichen Lebens und der Ethik. Jedes funktionale Verständnis des menschlichen Lebens beraubt den Menschen um das, was in religiösen Begriffen am wertvollsten ist, nämlich die transzendente menschliche Qualität des Zelem Elohim, der Imago Dei, des Bildes Gottes. Diese biblische Lehre – jeder Mensch ist nach Gottes Heiligem Bild geschaffen6  - ist sowohl für das Judentum als auch für die Kirche unumstößlich. Es ist die Quelle des transzendenten menschlichen Wertes und das Fundament unserer religiösen Ethik. Ohne Zelem wird die menschliche Kreatur nur eine weitere biologische Art – und damit ein Phänomen, das beobachtet, quantifiziert, ausgewertet und verzichtbar wird, wenn es die funktionale Wirksamkeit verliert, sei diese als Produktivität, Intelligenz, soziale Nützlichkeit oder durch das Kosten/Nutzen-Verhältnis definiert. Menschliches Leben als ein ausschließlich biologisches oder soziales Phänomen verliert seine einzigartige Ausstrahlung, sein transzendentes Wesen und seinen übergeordneten Wert. Um die jüngste Terminologie von Papst Franziskus zu verwenden: der Mensch wird nur einer von vielen Rohstoffen in unserer „Wegwerf“-Kultur. Wenn dies geschieht, wird das menschliche Leben entwertet, und letztlich werden die Menschenwürde und Heiligkeit mit Füßen getreten.

Das Konzept der Menschenrechte nimmt einen zentralen Platz in der modernen säkularen politischen Theorie ein. Dennoch ist es schwierig zu verstehen, wie dieses Konzept im Laufe der Zeit in einer kompromisslosen weltlichen Sicht der Dinge aufrechterhalten werden kann, da diese Sicht keinen philosophischen oder ontologischen Boden im empirischen Universum hat. Wenn wir diese materialistische Weltanschauung bis zu ihrer logischen Folgerung ausziehen, bröckeln die Ideen der unantastbaren Menschenrechte und der intrinsischen, d.h. von innen her kommenden Menschenwürde unter dem Gewicht des empirischen, funktionalen Denkens. Wir sehen die Anfänge dieser Verschlechterung bereits, da Länder und Gruppen mit erschreckenden Menschenrechtsbilanzen die Idee in den internationalen Gremien verwenden, um freie Länder zu verleumden und zu verurteilen, und es gibt nur wenig Protest gegen diese Korruption der Idee. Letztlich scheint ohne das Beharren auf eine spirituelle Quelle der Menschen eine Spielart der Aussage des empiristischen utilitaristischen Jeremy Bentham unvermeidlich. Er behauptet, „Rechte sind Unsinn, und natürliche Rechte sind ‚Unsinn auf Stel-zen‘.“7

Hier ein erschreckendes Beispiel: ein weltberühmter Moralphilosoph an der Princeton University, Peter Singer, behauptet, dass es Situationen gibt, in denen es ethisch vertretbar ist, ein unschuldiges Bluterkind zu töten, um seinen Eltern ein gesundes Kind an dessen Stelle zu ermöglichen.8  Für den utilitaristischen Singer gibt es keinen intrinsischen Wert des menschlichen Leben: Was das meiste Glück ergibt, definiert, was moralisch ist, ohne Rücksicht auf die Kosten, um es zu produzieren. Gäbe es hier für Juden und Christen, die darauf bestehen, dass Gott jedes menschliche Wesen im Bild Gottes erschuf und jeder Mensch dieser göttlichen Ausstattung wegen ein unverletzliches Recht auf Leben besitzt, etwas Abscheulicheres? Gibt es irgendeinen Denktyp, der bedrohlicher für die religiöse Ethik und unser religiöses Verständnis des menschlichen Wesens ist?

Zum Glück wissen nicht viele in unseren Gemeinden von Peter Singer, aber die meisten Menschen in unseren Gemeinschaften finden die Art des utilitaristischen ethischen Denkens überzeugend, auch wenn es um das Leben des Menschen geht. Dieses Denken ist in weiten Teilen der öffentlichen Diskussion um die Dilemmata vom Anfang und Ende des Lebens stark verbreitet. Und wenn wir uns nicht öffentlich bekennen und nicht für eine bessere Reihe ethischer Werte argumentieren – derjenigen, die im transzendenten Wesen der menschlichen Person verwurzelt sind –, wird der moralische Utilitarismus zur Standard-Ethik in unserer materialistischen Kultur.

Diese Verneinung der intrinsischen Heiligkeit des menschlichen Lebens führt ziemlich schnell zu einem moralischen Relativismus, der eine der am weitesten verbreiteten Überzeugungen unserer Zeit geworden ist. Und vom Glauben an die relative und subjektive Natur aller moralischen Werte ist es nur ein kleiner Schritt bis zu einer völligen Verneinung des Ethischen. Das „Sollen“ und die „moralische Verpflichtung“ sind keine positivistischen, quantifizierbaren oder beobachtbaren Phänomene. Wir sind also mit dem unbestreitbaren Phänomen des Vergnügens und des Strebens danach als einem Wert zurückgelassen. Gewalt gegen Personen füllt die Medien und die populäre Kultur, manchmal erscheinen sie lediglich als eine andere berechtigte Form des Vergnügens. Die hedonistische Kultur ist sehr überzeugend. Es sind nicht die Argumente der populären Atheisten wie Richard Dawkins oder Christopher Hitchens  oder eine Häresie oder Rebellion, die all die „Nones“ hervorbringt. Es ist der Reiz des weltlichen Hedonismus‘ als einer erfüllenden Lebensweise. Dies sollte uns alle bis ins Innere erschrecken. Im 20. Jahrhundert wurden wir Zeugen der tragischen Folgen der Verweigerung der Heiligkeit des menschlichen Lebens bis zu seiner logischen Schlussfolgerung. Das grundlegende Gebot der religiösen Ethik: „Morde nicht“ und seine Begleiterscheinungen, menschliches Leben auch bei hohen Kosten zu schützen und zu retten, wurden von Hitler, Stalin und Mao beiseite geschoben. Heute sind diese unumstößlichen Werte stark geschwächt, wenn nicht oft ignoriert. Und wie Hitler das jüdische Volk als direktes Ziel nahm und die Kirche als indirektes Ziel9 , so kann weder das Judentum noch der Katholizismus gedeihen, wenn die Imago Dei verneint wird, und diese unmoralischen Werte herrschen.

Natürlich ist es logisch, dass dort, wo es keine Imago Dei gibt, es keine Imitatio Dei geben kann — ein Handeln im Bild Gottes, das sowohl die jüdischen als auch die christlichen Überlieferungen als ein Handeln mit caritas und hesed, mit Liebe und Mitgefühl identifizieren. Was bleibt, ist nur nüchterne utilitaristische Politikanalyse auf der Grundlage von Interessen und Ergebnissen. Hier ist ein anderes Beispiel: eine Reihe von westlichen Politik-Analytiker argumentiert, dass die beste Politik bezüglich des tragischen Bürgerkriegs in Syrien ist, beiden Seiten zu erlauben, sich weiterhin gegenseitig abzuschlachten. Schließlich gibt es keine „Guten“ in diesem Krieg und wenn eine der beiden Seiten einen klaren Sieg gewinnt, werden westliche Interessen verletzt sein. Also lassen wir, obwohl mehr als 120.000 Syrer bereits gestorben sind und mehr als vier Millionen ihre Häuser verloren haben, das Töten weitergehen, bis beide Seiten vor Erschöpfung zusammenbrechen und jede zu schwach ist, um westliche Interessen zu bedrohen. Frieden und Wohlergehen der Menschen haben wenig Wert in dieser Realpolitik, die ausschließlich durch Interessen bestimmt wird. Tatsächlich behaupten einige evolutionäre Sozialwissenschaftler nun, dass der Homo Sapiens als eine Spezies „auf Krieg und Töten programmiert“ ist, seit die Kriegsführung ein integraler Bestandteil unserer biologischen Evolution geworden ist.10  Einmal mehr gibt es keinen Wert oder keine Unantastbarkeit menschlichen Lebens und somit keinen ernsten moralischen Imperativ, unschuldige Menschen zu schützen oder das Töten zu beenden.

Diese kulturellen Herausforderungen und ihre Ethik sind für unsere religiösen Traditionen und Gemeinschaften nicht peripher. Sie treffen ins Herz dessen, wie unsere Religionen die Welt und das menschliche Leben verstehen und wie gläubige Juden und Katholiken in unserem Leben handeln sollten.



KIRCHE UND ISRAEL
Neukirchener Theologische Zeitschrift



Herausgegeben von:
Edna Brocke, Hans Hermann Henrix, Rolf Rendtorff, Barbara Schmitz, Ekkehard W. Stegemann, Wolfgang Stegemann, Gabriele Oberhänsli-Widmer, Christina Tuor-Kurth (für die Schweiz), Hans Joachim Sander (für Österreich), unter Mitarbeit namhafter Fachgelehrter


Heft Nr. 1 - 2014
Aus dem Inhalt (Auszug):


Ekkehard W. Stegemann:
Anpassung und Widerstand.
Anmerkungen zu einer neuen imperiumskritischen Lektüre des Paulus.
Daniel R. Schwartz:
Rabbi, Rabban, Name - Zur Rhetorik der Namensgebung in der Mischnah.
Klaus Wengst:
"Gottes Wort bleibt in Ewigkeit"
Die Barmer Theologische Erklärung und die Bibel.
Eugene Korn:
Aktuelle ethische und religiöse Herausforderungen der Religion.


Bestellungen und Verlag:
Neukirchener Verlagsgesellschaft GmbH;
Postfach 10 12 65; 47497 Neukirchen-Vluyn



Internet:
http://www.kirche-und-israel.de



II.     Religiöse Irrationalität und Gewalt

Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sahen eine Zunahme des religiösen Fundamentalismus in der ganzen Welt – wahrscheinlich eine Reaktion auf das aggressive Vordringen des Säkularismus, das ich gerade beschrieben habe. Dieser Fundamentalismus ist unbehelligt von dem mäßigenden Einfluss der Vernunft, und er führt oft zur Intoleranz gegenüber den Anhängern der anderen Religionen. Es gab ein spürbares Anwachsen des Fundamentalismus in streng religiösen jüdischen Kreisen auf der ganzen Welt; und in Israel haben ein paar religiöse, hyper-nationalistische Juden gegenüber Christen und Muslime intolerant gehandelt. Diese Handlungen sind verwerflich, und die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden, und das allgemeine Problem muss umgehend gelöst werden.

Noch abscheulicher ist der tödliche religiöse Extremismus und Terror. In den ersten 13 Jahren unseres jungen Jahrhunderts haben die fundamentalistischen religiösen Kräfte von Gewalt und Terror den Nahen Osten, den asiatischen Subkontinent und darüber hinaus metastasiert. Ich verbringe viel Zeit in New York City, in Sichtweite des „Ground Zero“, wo religiöse Fanatiker fast 3.000 unschuldige Seelen an einem höllischen Morgen im September 2001 töteten. Wir treffen uns heute nicht weit von den Madrid-Bahnhöfen, wo religiöse Extremisten im Jahr 2004 fast 200 unschuldige Spanier töteten. Ähnliche Massenmordattacken geschahen durch religiöse Fanatiker in Frankreich (1995), London (2005) und Mumbai (2008) – neben anderen. Und als ich diese Bemerkungen vor drei Wochen am 21. September vorbereitete, erschossen Al Shabab Dschihad-Terroristen mehr als 60 unschuldige Menschen in einem Einkaufszentrum in Nairobi, Kenia. (Dort erlaubten die Al Shabab Todesschwadronen erkannten Muslimen, frei zu gehen; sie erschossen dann Männer, Frauen und Kinder, die um Gnade flehten).11  Drei Jahre zuvor koordinierte Al Shabab Bombenanschläge, die mehr als 70 Menschen in Uganda töteten, als die Massen die Spiele der Fußballweltmeisterschaft ansahen.12

Im Nahen Osten – von Ägypten über Gaza bis nach Libanon, Syrien, Irak und Afghanistan – geht der Extremismus seinen satanischen Weg, täglich Dutzende von Menschen zu töten. Diese Gewalt geht in erster Linie von radikalen Islamisten aus, die von ihrem extremen Islam-Verständnis angefeuert sind. Sie handeln auf Befehl von islamistischen religiösen Führern, welche die religiöse Rechtfertigung ihres Mordens liefern. Ich realisiere, dass einige diesen Vorwurf des radikalen islamistischen Terrors als eine Form von Vorurteil sehen – „Islamophobie“ –, aber ich glaube nicht, dass dies wahr ist. Es ist nicht der Islam per se, und sicherlich üben nicht die meisten Muslime diese Gewalt, aber eine radikale Minderheit. Dieser Kampf ist nicht: die Muslime gegen die Christen und die Juden. Es ist der Kampf der Extremisten gegen die Gemäßigten aller Glaubensrichtungen. Wie die gegenwärtige Gewalt in Syrien, Irak, Libanon und Afghanistan verdeutlicht, tötet der islamistische Fanatismus mehr unschuldige Muslime als Nicht-Muslime.

Wie ich sagte, ist der allgemeine Trend zur religiösen Gewalt und Intoleranz auf der ganzen Welt so allgegenwärtig geworden – so „normal“ –, dass in intellektuellen Kreisen eine schreckliche These Popularität gewinnt: nämlich, dass jeder Monotheismus in seinem Wesen intolerant ist und der Monotheismus als solcher den Anreiz für Gewalt bietet.

Wir sitzen hier als Christen und Juden, und ich betone, dass sich viel islamistische Gewalt speziell gegen unsere Gemeinschaften im Nahen Osten richtet. Wir sind Zeugen des jüngsten Niederbrennenns von Kirchen und der Ermordung von Kopten in Ägypten durch die Muslim-Bruderschaft, der Tötung von Christen durch Al Nusra und andere Dschihadisten in Syrien.13  Im Gaza-Streifen wurde die Hälfte aller Christen ermordet oder vertrieben, seit Hamas die Kontrolle im Jahr 2007 übernahm.14  Taliban-Extremisten ermordeten am 22. September 2013 85 Christen beim Beten am Sonntagmorgen und brannten die Allerheiligen-Kirche in Peschawar, Pakistan nieder.15

Juden wurden auch vorrangige Ziele des islamistischen Extremismus in Europa und Südamerika. Im März 2012 ermordete ein muslimischer Terrorist in Toulouse (Frankreich) einen Lehrer und seine drei Kinder in einer jüdischen Schule. Angriffe und Drohungen gegen die Juden in Frankreich sind seitdem eskaliert, und viele französische Juden verlassen Frankreich aufgrund dieser Bedrohungen. Am 5. Juli 2013 töteten radikale Hisbollah Schiiten fünf israelische Touristen und ihren Busfahrer in Burgas, Bulgarien. Und natürlich wissen wir alle, dass iranisch beeinflusste Hisbollah-Terroristen das Jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires im Jahr 1994 in die Luft sprengten und 85 Menschen ermordeten, einfach weil sie Juden waren. Natürlich begrüßten Juden auf der Welt sehr dankbar die starke Identifikation mit der belagerten argentinischen jüdischen Gemeinde zur damaligen Zeit durch Kardinal Bergoglio (jetzt Papst Franziskus). In Israel haben muslimische religiöse Extremisten mehr als 5.700 israelische Zivilisten allein zwischen den Jahren 2001 und 2007 ermordet oder zum Krüppel gemacht. Und es setzt sich eine weiterhin unerbittliche gewalttätige Opposition gegen die jüdische Souveränität und Präsenz im Heiligen Land durch die Hamas, die Muslimbruderschaft, die iranischen Ayatollahs und die schiitischen Fanatiker der Hisbollah fort. Heute sind mehr als 100.000 Raketen von der Hisbollah und Hamas auf die Städte Israels gerichtet — auf die jüdische Heimat, wo mehr als jeder zweite Jude in der Welt lebt. Und über all diesem zeichnet sich dunkel drohend die existenzielle Bedrohung für Israelis und das jüdische Volk ab, wenn der Iran eine Atombombe entwickelt.

Dieser religiöse Extremismus ist ein radikaler Monismus, der sich weigert, Frieden, Gleichheit oder Würde einem religiös anderen zu gewähren – Juden, Christen und sogar Sufi-Muslimen. Nahöstliche Christen fliehen in dramatischer Zahl aus der Region. Wie richtig gesagt wird, sind Christen die neuen Juden des Nahen Ostens. In der Tat ist Israel das einzige Land im Nahen Osten, wo die Zahl der Christen in den letzten 60 Jahren gestiegen ist – um fast 400 Prozent!16  Juden waren für 1900 Jahre vor der Gründung des Staates Israel staatenlos, angreifbar und ungeschützt, so dass die ähnliche Bedrängnis der nahöstlichen Christen heutzutage uns zutiefst berührt, und wir fühlen eine Verpflichtung, ihnen zu Hilfe zu kommen. Juden sind bereit, mit christlichen Führern zusammenzuarbeiten, um ihrer Verfolgung ein Ende zu bereiten. Natürlich muss dieses vorsichtig getan werden, um sicherzustellen, dass unsere Bemühungen zur Unterstützung ihre Leiden und Isolation nicht vergrößern.

Aber Juden und Israelis stehen auch unter einer tiefen Bedrohung – und wenn sie nicht fliehen oder nicht systematisch verfolgt werden, ist dies nur deswegen, weil sie gesegnet sind, Israels Verteidigungsstreitkräfte zu haben, die sie vor dem Geschlachtet-werden schützt.

Theologisch verunglimpfen der religiöse Extremismus und die von ihm begangene Gewalt immer unseren Gott, den Gott der Liebe und des Mitgefühls, den Gott, von dem meine rabbinische Tradition mir sagt, dass er durch die Vielfalt seiner menschlichen Geschöpfe verherrlicht wird „Die Rabbanan lehrten: ‚[Adam wurde allein deshalb erschaffen,] um die Größe des höchsten Königs der Könige, des Heiligen, gepriesen sei er, zu verkünden. Denn wenn ein Mensch viele Münzen mit einem Stempel prägt, so sind sie alle gleich, aber wenn der Heilige, gepriesen sei er, alle Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen prägt, gleicht nicht einer dem anderen‘“.17

Politisch tötet und verbannt  islamistische Gewalt Gottes Zeugen – uns Juden und Christen. Einfach ausgedrückt: sowohl Juden wie Christen sind Minderheiten, die von gemeinsamen Feinden belagert werden. Laut der New York Times vom 1. Oktober 2013 ersetzen muslimische Extremisten Kreuze in den syrischen Kirchen durch schwarze Fahnen, und sie lehren syrische Kinder über die Notwendigkeit des Kampfes gegen die „Ungläubigen“ – das heißt gegen jedermann, der kein Muslim ist. 18  Am 15. September 2013 schmierten in Dalga/Ägypten, nachdem die Muslimbruderschaft zwei Kirchen der Stadt und das Kloster der Jungfrau Maria und des Vaters Abraham geplündert hatte, Extremisten an den Wänden, „Ägypten ist muslimisch.“19  Die weiter reichende Botschaft der Islamisten ist, „der Nahe Osten ist muslimisch – und nur für Muslime.“

Wie in den ersten Jahrhunderten der Zeitenwende sind die Schicksale unserer Gemeinschaften wieder untrennbar miteinander verbunden worden. Wenn die irrationalen religiösen Extremisten gewinnen, gibt es für keinen von uns einen Platz in Dar al Islam – und vielleicht darüber hinaus. Aber wenn der jüdische Staat im Nahen Osten letztlich angenommen wird, wird das muslimische Monopol auf Legitimität erschüttert werden und der Grundsatz der religiösen Vielfalt und der Gleichheit der Nicht-Muslime wird in dieser Region hergestellt. Dies würde die Basis für christliches Leben und für christliche Würde in der politischen Kultur des Nahen Ostens stärken. Ebenso sollten die Christen des Nahen Ostens als gleiche und sichere Bürger in arabischen Staaten anerkannt werden, so dass der Pluralismus es Juden leichter machen sollte, in der Region zu leben. Gott hat uns beide zusammengeworfen. Wer weiß, vielleicht hat Gott, wie bei Königin Esther der Bibel, Christen und Juden im Nahen Osten zu dieser Zeit untergebracht, dass sie Toleranz und Menschenwürde für alle in der Region einpflanzen. Aber solange umgekehrt die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel von monistischer islamistischer Intoleranz abgelehnt werden, werden auch den Christen in der Region Gleichheit und Sicherheit vom islamistischen Triumphalismus ver-weigert werden. Wir sind also Partner – nicht nur über die Theologie, sondern auch wegen der brutalen politischen Dynamik des Nahen Ostens.20



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III.    Religiöser Skandal

Drittens gab es vor kurzem eine Welle öffentlicher Skandale, die ein Schlaglicht auf schwere moralische Versäumnisse einiger Religionsführer warfen. Die Skandale schlossen finanzielle Unregelmäßigkeiten, sexuellen Missbrauch, institutionellen Schutz der Missbrauchstäter und Äußerungen eines rassistischen Vorurteils und Hasses ein. Diese Vorfälle treten zu häufig auf, um zu bloßen statistischen Ausnahmen oder Nebensächlichkeiten für religiöse Institutionen heruntergestuft zu werden. Mit der heutigen fortgeschrittenen Kommunikationstechnologie in den Händen von so vielen bleibt nichts verborgen – am allerwenigsten die von religiösen Repräsentanten begangenen Sünden. Und wenn diese individuellen und institutionellen Mängel an die Öffentlichkeit kommen, gibt es weit verbreitete und schwer aggressive Konsequenzen. Das schreckliche Verhalten von religiösen Gestalten schwächt den Glauben der Gläubigen, es treibt Agnostiker weiter von der Synagoge und Kirche weg, und es stärkt die Argumente der Menschen, die bereits der Religion gegenüber feindlich sind. Es gibt keine Notwendigkeit, sich über die schrecklichen Auswirkungen dieser Vorfälle weiter auszulassen. Gewiss, wir sind alle nur Menschen und der Sünde ausgesetzt, aber diese Fehltritte von religiösen Führern und Institutionen gehen über persönliches Versagen hinaus. Sie spiegeln direkt die Aussagekraft unserer Glaubenstraditionen sowie unseres Engagements für das heilige Leben, von dem gemäß unserer Verkündigung Gott von uns wünscht, dass wir es führen. Tatsächlich sind sie Entheiligungen des heiligen Namens Gottes, welche die Glaubwürdigkeit unseres Glaubens untergraben und eine weit verbreitete Flucht aus unseren Gemeinden verursachen. Um einer alten theologischen Kategorie eine neue Bedeutung zu geben: sie sind die mächtigen „negativen Zeugen“ unserer Zeit.


IV.     Fazit

Sicherlich können Juden und Christen viel tun, um uns und unseren Glauben gegen diese Bedrohungen zu schützen. Und wir können davon vieles zusammen tun. Juden und Christen sollten einander als Partner in Gottes Bund mit Abraham, unserem biblischen Patriarchen sehen. Als Mitglieder dieses Bundes muss sowohl das Judentum wie auch das Christentum eine sichere Zukunft  haben und eine zentrale Rolle bei der Ausweitung des Segens für die ganze Menschheit spielen. „Durch dich werden alle Nationen der Erde gesegnet werden“, sagt Gott zu Abraham.21  Jüdische Theologie hat immer behauptet, dass – wenn, Gott bewahre, das jüdische Volk und Judentum verschwinden – die Welt und die menschliche Zivilisation enden werden. Und ich würde mich wundern, wenn die katholische Theologie nicht das Gleiche über die Kirche behauptet. So können wir es uns nicht leisten, diesen mächtigen Herausforderungen zu erlauben, uns und die Zivilisation zur selben Zeit zu besiegen.

Gott erlaubt uns nicht, in der Geschichte stumm zu sein. Wie Rabbiner Jo-seph Soloveitchik es formuliert: „Wir müssen ein Botschaft tragendes Volk sein, zuständig für das Kerygma“.22

Nach dem schrecklichen Anschlag auf Christen in Peschawar erkannten viele Pakistaner, dass sie die grundlegendste Frage stellen müssten: welche Art von Pakistan wollten sie haben? Cyril Almeida, Journalist bei einer Lokalzeitung „Dawn“ (etwa: „Morgenblatt“), erklärte: „Sei es aus Sympathie, aus Angst oder aus Feigheit, niemand ist bereit, gegenüber radikalen Islamisten aufzustehen und zu sagen: ‚Genug ist genug. Wir müssen unser Land zurückerhalten.‘“23

Meine Ausführungen waren in erster Linie der Darlegung gewidmet, wie ich die Herausforderungen sehe. Aber lassen Sie mich wenigstens einige Antworten skizzieren. Wie können wir „unsere Kultur zurückerhalten“ – sie von den Verwüstungen des Materialismus, der religiösen Gewalt und der physischen Gefährdung unserer Völker befreien? Wir haben kein leistungsfähiges Medium, um mit der öffentlichen materialistischen Kultur zu konkurrieren. Anders als im Mittelalter gibt es heute keine metaphysischen oder philosophischen Beweise für Gott, für unseren Glauben oder für die spirituelle Ethik, welche diejenigen der säkularen Kultur überzeugen können. Und wir haben weder militärische Waffen noch die Regierungen oder eine zwingende Macht, den globalen Extremismus und seine Gewalt zu besiegen.
Aber wir haben die geistige Wahrheit - über Tausende von Jahren durch unsere Vorfahren erfolgreich geprüft –, und wir können ein zutiefst verbindliches Leben, wirksame moralische Appelle und die Macht des Zeugnisses in Wort und – noch wichtiger – in Tat anbieten. Sicherlich können Juden und Christen Verbündete in diesem göttlichen Werk sein. Jedoch können wir dies nur tun, wenn wir die Entscheidung treffen, uns mit der Welt zu engagieren, und uns nicht damit zufrieden geben, uns auf die Echokammern unserer zunehmend kleiner werdenden Gemeinden von Gläubigen zurückzuziehen oder ausschließlich in unseren eigenen Systemen der Selbstbestätigung zu denken.

Wir können dies durch Arbeit tun und durch das Zeugnis für die Werte des Bundes Gottes vor der Welt mit einer sehr öffentlichen und wirksamen Stimme. Ich würde dieses Zeugnis folgendermaßen platzieren:

  1. Wir sollten unablässig lehren, dass es ein spirituelles Zentrum des Universums gibt; denn die Welt wurde von einem liebenden Gott erschaffen, der zutiefst mit dem menschlichen Leben verbunden ist und der sich danach sehnt, seine Kinder zu erlösen. Juden und Christen sollten unbefangen Auskunft geben über diese Realität, wie es auch Abraham tat, der Gott als den „Gott des Himmels und der Erde“ bekannt machte. Wir müssen, so gut wir können,  jedem in der modernen anthropozentrischen Kultur zeigen, dass unsere religiösen Überzeugungen dieser Kultur Segen und menschliches Gedeihen bringen können.
  2. Wir müssen auch betonen – überzeugend, aber liebevoll –, dass Gott die transzendente Autorität über das menschliche Leben ist und die Gültigkeit von moralischen Werten begründet. Obwohl die moralischen Werte manchmal schwer umzusetzen sind, sind sie weder relativ noch menschliche Konventionen, sondern intrinsische Teile des Universums, die für das menschliche Gedeihen notwendig sind. Und grundlegende moralische Werte müssen für unser Streben wie auch für das Streben aller Menschen vorrangig bleiben. Der moralische Imperativ muss für uns als Bundespartner sowohl in unserem Verhalten als auch in unserer Theologie leitend sein. Es gibt keine Rechtfertigung für irgendeine teleologische Suspension des Ethischen – sei der Telos oder Zweck theologisch, institutionell, politisch oder finanziell. Und da die Propheten Jesaja, Micha, Jeremia und Amos darauf bestanden, muss das Volk Gottes verstehen, dass die Frucht des religiösen Rituals und des korrekt gelebten Gesetzes die ethische Reinheit ist.
  3. Wir müssen auch unbeirrt verkünden, dass alle Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen sind und daher jedes menschliches Leben eine innere Heiligkeit hat, die sich von dieser spirituellen Qualität herleitet. Weil menschliches Leben diesen transzendenten Charakter hat, kann der menschliche Wert nicht allein in utilitaristischen oder materialistischen Bestimmungen bewertet werden. Unglücklicherweise sind traditionelle Juden und religiöse Katholiken fast allein im Insistieren auf den inneren Wert des menschlichen Lebens, aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Welt dieses Prinzip vergisst. Dies ist heute wichtig, weil jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist, jeder Angriff auf unschuldiges Menschenleben ist ein Anschlag auf Gott, der die göttliche Gegenwart in der Welt verringert.
  4. Unsere Theologien sollten eine informelle Wendung nehmen und sich wie Verhaltensweisen auf der Basis der „Imitatio Dei“ äußern -, dass unsere Religionen in erster Linie weder strenge Regeln noch ein unpersönliches Gesetz oder eine unnachgiebige Beurteilung sind. Wie König David vor langer Zeit sagte: „Olam hesed jibaneh“, „die Welt ist mit Güte gebaut“ (Ps 89,3). Auch wenn sie nicht immer „NGO‘s“ werden, konzentrierten sich ein Rabbinat und eine Kirche mehr auf die Linderung der Not der Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinschaft, der Opfer der Ungerechtigkeit, der Armen und Bedürftigen, dann würden sie ein überzeugendes Argument für den Wert des religiösen Lebens auch gegenüber zeitgenössischen Säkularisten bilden - viel mehr als irgendeine formale Theologie oder irgendein religiöses Gesetz. Sprach nicht der heilig-moralische Charakter des R. Israel Meir Kagan (Chafez Chajim) und das beeindruckende Leben der Mutter Teresa lauter, und hatten sie nicht mehr Einfluss auf die vielen als alle anspruchsvollen und obskuren Theologien, die nur wenigen bekannt sind? Irgendwie müssen wir in der Lage sein zu zeigen, dass ein Leben der Verantwortung und des Sinns erfüllender ist als ein dem Vergnügen gewidmetes Leben. Wir haben dafür bisher einen schlechten Job gemacht.
  5. Schließlich lernte Abraham aus der Prüfung der Bindung Isaaks, dass Gott das menschliche Leben liebt und den Tod verabscheut. So müssen Abra-hams Kinder des Bundes lehren, dass das Töten im Namen Gottes im Gegensatz zum Gott Abrahams steht und dass alle Formen von religiöser Gewalt Götzendienst sind, den die Welt zurückweisen muss. Wir müssen offen bekennen, dass – wenn religiöse Gewalt auftritt – wir auftreten, um sie religiös zu besiegen und aktiv diejenigen unterstützen, die daran arbeiten, sie physisch zu besiegen. Wenn wir ernsthaft glauben, dass alle Menschen in der imago dei, im Bild Gottes, und in der geheiligten Natur des menschlichen Lebens erschaffen sind, dann müssen wir erneut die Mäßigung im Denken und in der Politik verfolgen und dafür arbeiten, um die Stimmen der moderaten Muslime zu stärken – ja aller Gemäßigten überall.

Durch den heiligen Bund, den er mit uns geschlossen hat, fordert Gott sowohl Juden als auch Christen auf, danach zu streben, die Welt zu vollenden. Unser Glauben muss die Überzeugung und die Verpflichtung einschließen, dies zu tun. Ist das nicht der ganze Sinn unseres messianischen Glaubens? Mit Weisheit, Zusammenarbeit und natürlich mit Gottes Hilfe können wir die Herausforderungen von heute erfüllen und die Bedrohungen für Christen und die Kirche, für das jüdische Volk und Judentum und für alle, die sich für das Gedeihen der gesamten Menschheitsfamilie einsetzen, bezwingen.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von
Hans Hermann Henrix



ANMERKUNGEN



1 Die umfangreichste Erklärung dieses modernen Phänomens ist: Peter Berger, The Heretical Imperative: Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, New York 1980 (Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980).
2 Siehe die Studie „Nones on the Rise“ („Ungläubige auf dem Vormarsch“) des amerikanischen Pew Research Center vom Oktober 2012: http://www.pewforum.org/2012/10/09/nones-on-the-rise/.
3 Der Begriff der „Millennials“ (wörtlich etwa: die Jahrtausender) meint in der Soziologie die Generation, deren Mitglieder um das Jahr 2000 herum zu den Teenagern gehörten und als ers-te Generation mit dem Internet und mit der mobilen Kommunikation aufgewachsen sind. Man spricht von ihnen auch als der Generation Y (Anmerkung des Übersetzers).
4 Studie „Nones on the Rise“.
5 Siehe Andrew M. Greeley, Religion in Europe at the End of the Second Millennium: A Socio-logical Profile, New Brunswick, NJ 2009.
6 Genesis 1,26f., 9,6.
7 Jeremy Bentham (1748-1832), Three Anarchical Fallacies: An Essay on Political Authority, Cambridge 1998. Benthams vollständige Bemerkung war: „Natürliche Rechte sind einfach Unsinn: natürliche und unantastbare Rechte, rhetorischer Unsinn, Unsinn auf Stelzen“.
8 Peter Singer, Practical Ethics, Cambridge 2011 (Praktische Ethik, Stuttgart 1994).
9 Vgl. „The Nazi Master Plan: The Persecution of the Christian Churches”, vorbereitet vom US-Bürostrategischen Dienste 1945. Auch unter „The Nuremberg Project of Rutgers University Law School”: http://lawandreligion.com/volume-1.
10 David P. Barash, „Are We Hard-Wired for War?“, in: New York Times, 28. September 2013, in: http://www.nytimes.com/2013/09/29/opinion/sunday/are-we-hard-wired-for-war.html und Dominic Johnson, Bradley A. Thayer, “What Our Primate Relatives Say About War”, in: The National Interest, 29. Januar 2013, in: http://nationalinterest.org/commentary/what-our-primate-relatives-say-about-war-79976?page=2.
11 Vgl. http://www.theguardian.com/world/interactive/2013/oct/04/westgate-mall-attacks-kenya-terror.
12 Vgl. http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/07/12/AR2010071200476.html.
13 Vgl. http://www.investigativeproject.org/4181/al-qaida-linked-rebels-desecrate-churches-in.
14 Im Jahr 2007 waren etwa 3000 Menschen in Gaza christlich. 2011 betrug die christliche Bevölkerung des Gazastreifens weniger als 1400. Vgl. http://www.nbcnews.com/id/22380080.
15 Vgl. http://www.nytimes.com/2013/09/23/world/asia/pakistan-church-bombing.html.
16 Als Israel 1948 gegründet wurde, gab es 35.000 bis 40.000 Christen in Israel. Heute gibt es in Israel selbst etwa 155.000 Christen. Siehe: http://mfa.gov.il/MFA/AboutIsrael/People/Pages/Christians_in_Israel-Christmas_2011.aspx.  Die christliche Bevölkerung Israels ist in den letzten zehn Jahren be-ständig um etwa 2.000 je Jahr gestiegen.
17 Babylonischer Talmud, Sanhedrin 38a.
18 Vgl. http://www.nytimes.com/2013/10/02/world/middleeast/in-pushing-its-own-agenda-for-syria-a-qaeda-franchise-turns-rebels-into-enemies.html?pagewanted=1.
19 Vgl. die New York Times vom 16. September 2013: http://www.nytimes.com/2013/09/17/world/middleeast/in-islamist-bastions-of-egypt-the-army-treads-carefully-and-christians-do-too.html.
20 Siehe: Eugene Korn, The Jewish Connection to Israel, the Promised Land. A Brief Introduc-tion for Christians, Woodstock, VT 2008, 153-159.
21 Genesis 12,3.
22 Joseph Soloveitchik, Worship of the Heart, edited by Shalom Carmy, Jersey City, NJ 2003, 73.
23 Vgl. http://www.nytimes.com/2013/09/24/world/asia/pakistan-christians-demand-protection-after-church-bombing.html.



Der Autor

Rabbiner EUGENE KORN

Rabbiner Dr. Eugene Korn gehört dem israelisch-jüdischen Rat für interreligiöse Beziehungen (IJCIR) an und ist der amerikanische Direktor des Instituts für jüdisch-christliche Verständigung und Zusammenarbeit in Israel. Er wurde durch das israelische Rabbinat zum orthodoxen Rabbiner ordiniert und erhielt seinen Ph.D. in ethischer Philosophie an der Columbia University in New York. Seine Buchpublikationen gelten u.a. den Themen der jüdischen Verbindung zum Land Israel, der Frage nach den beiden Glauben von Judentum und Christentum und dem einen Bund sowie einer jüdischen Theologie der Weltreligionen. Er nahm als Mitglied der Delegation des Internationalen Jüdischen Komitees für Interreligiöse Konsultationen (IJCIC) am 22. Treffen des Internationalen katholisch-jüdischen Verbindungskomitees vom 13. bis 17. Oktober 2013 in Madrid teil. Die Beratungen galten dem Thema „Die Herausforderungen des Glaubens in der modernen Gesellschaft“. Rabbiner Korn trug dort den hier in deutscher Übersetzung folgenden Beitrag zu aktuellen ethischen und religiösen Herausforderungen vor. 

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