Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 211

Oktober 2014

"Scheiß-Juden, wir kriegen euch", "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein", "Zionisten sind Faschisten, töten Kinder und Zivilisten". Die judenfeindlichen Parolen bis hin zu tätlichen Übergriffen gegen erkennbar jüdische oder israelische Personen, die im Sommer dieses Jahres auf deutschen Straßen und streckenweise europaweit zu erleben waren, haben tiefe Wunden in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Europa geschlagen und alte, längst für obsolet geglaubte Ängste wiederbelebt. Mit dem Ende des Gaza-Krieges, der  Anlass und Alibi für die Wiedergeburt solcher antisemitischer Parolen bot, scheint der judenfeindliche Furor vorüber, die Debatte um seine Auswüchse ist verstummt - aber die tief verletzende, annähernd traumatische, in vielerlei Hinsicht ernüchternde Erfahrung, die durch eine nur bescheidene Gegenwehr der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft in Deutschland noch genährt wurde, diese Erfahrung ist bei vielen Jüdinnen und Juden nach wie vor präsent, während die Mehrheitgesellschaft sich längst wieder anderen Aufregern zugewendet hat.

Der nachfolgende Beitrag des Frankfurter Rabbiners Andrew Steiman repräsentiert auf bedrückende Weise diese Präsenz neuer Ernüchterung und alter Ängste. Steiman, der seit Jahrzehnten zu den unermüdlichsten Verfechtern des interreligiösen, insbesondere christlich-jüdischen Gesprächs in Deutschland gehört, schildert in seinen sehr persönlichen Worten die tiefe Verunsicherung, die durch die judenfeindlichen Attacken des Sommers 2014, seine unheiligen Allianzen zwischen islamistischen und rechtsradikalen Kräften hervorgerufen wurde. Und vor allem spricht er die schwerwiegende Frage nach dem Nutzen eines interreligiösen Dialogs an, wenn dieser doch in den entscheidenden Momenten offenbar nicht die Kraft entfaltet, den Weg aus den gepflegten Hallen des akademischen Gesprächs hinaus in die rauhe Realität der Straße zu finden. Steimans nachfolgenden Gedanken zu den "Kollateralschäden nach einem hasserfüllten Sommer auf deutschen Straßen" geben einen beredten Einblick in die Verfasstheit der jüdischen Seele in Deutschland. Seine beschwörenden Schlußworte am Ende seines Beitrags verdienen vor diesem Hintergrund nicht nur tiefen Respekt, sondern sollten zugleich als Weckruf und Mahnung an jeden von uns gelesen werden: "Dabei sind wir alle bedroht. Das interreligiöse Gespräch ist nötiger denn je."  

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2014 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 211


Interreligiöser Austausch und Zivilgesellschaft:
Kollateralschäden nach einem hasserfüllten Sommer auf deutschen Straßen


Rabbiner ANDREW STEIMAN


Das interreligiöse Gespräch wird oft medial belächelt, dabei gehört es zu den Bausteinen unserer Zivilgesellschaft. Wie sehr, ist gerade dann zu sehen, wenn dieses Gespräch versagt. Was aber ist das interreligiöse Gespräch überhaupt? Und das in einer Zeit, in der auf unseren Straßen sich blanker Hass gegen eine religiöse Minderheit ausbreiten kann, ohne dass sich die Zivilgesellschaft darum schert. Vielleicht ist „eine Art Schadensbegrenzung“ (Habermas) noch möglich.  Hier ein Versuch aus einer jüdischen Perspektive. 



„Zwei Juden, drei Meinungen“ lautet ein Spruch, den Juden gerne über sich selbst bemühen. Wenn es aber einige wenige Dinge gibt, worin sich so ziemlich alle Juden einig sind, dann ist bestimmt auch die Tatsache darunter, dass alle genervt sind vom Antisemitismus und von Missionaren – in dieser Reihenfolge. Beides zusammen nervt umso mehr. Schließlich missionieren wir auch nicht andere; soll doch jeder auf seine Facon selig werden – diese Überzeugung wäre dann ein weiteres einende Band zwischen Juden aller Couleur. Mit den anderen reden, ja; überreden nein.  Unjüdischer ginge es nicht. Wenn überhaupt, versucht eine Handvoll von eifrigen Juden, andere Juden zu überreden, so eifrig zu sein wie sie. Wer in diesem Spiel nur ein Gebot weniger erfüllt, wird gleich zum „Goj“ abgestempelt; eines mehr, und man ist ein „Fundamentalist“.

Das sind Spielchen, die eben entstehen, wenn der Glaube das Missionieren bei anderen nicht zulässt: wer den Drang zum Missionieren verspürt, der missioniert dann irgendwie fast zwangsläufig unter seinesgleichen. Die Chabad-Bewegung ist ein Beispiel dafür. Weltweit ist Chabad tätig, im wahrsten Sinn eine jüdische „innere Mission“ globalisierten jüdischen Ausmaßes, und das nicht immer unumstritten bei anderen Juden (die oft in ihrem Gegeneifer eine eigene Mission erfinden). Der Dialogpartner ist dann der jeweils andere Jude; nicht die Nichtjuden. Aus jüdischer Perspektive sind Nichtjuden als Dialogpartner mit Juden nie Missionssubjekte anderer Glaubensbekenntnisse. Umgekehrt kommt es aber immer wieder vor, dass Nichtjuden, vornehmlich Christen, den Dialog dazu nutzen, Juden zum Christentum bekehren zu wollen. Solch ein Dialog ist keiner. Punkt. Schade, dass immer wieder darauf hingewiesen werden muss. Vielleicht wird das irgendwann akzeptiert und respektiert.

Echter Dialog ist nun mal nur auf Augenhöhe möglich, das heißt dann: den anderen akzeptieren, wie er ist. Das ist nichts Neues. Den anderen zu akzeptieren wie er ist, schließt auch das Verständnis der Motive zum Dialog und ihre Akzeptanz mit ein. Diese dürfen durchaus unterschiedlich sein. Während Christen oft Motivation zum Dialog mit dem Judentum darin finden, ihr eigenes Christentum besser zu verstehen oder eine Aussöhnung mit dem Volk Jesu zu suchen, geht es den Juden freilich um etwas anderes. Judentum gab es auch ohne Christentum, und es kann auch theologisch ohne Christentum existieren; umgekehrt ist das nicht der Fall. Man kann nicht oft genug im Dialog darauf hinweisen, dass das Christentum aus dem Judentum heraus entstanden ist.

Was also ist die jüdische Motivation zum Dialog? Für meinen Vater (er war Jahrgang 1917) war es mit einem Wort: Sicherheitsbedürfnis. Das brachte er auf den Punkt und zum Ausdruck in einem einzigen Satz, der mich seit meiner Kindheit begleitet: „Wenn die Christen uns Juden besser verstanden und gekannt hätten, hätten sie sich selbst von Anfang an besser gekannt und verstanden.“ Und weiter: „Dann hätten sie uns nie verfolgt. Uns wäre eine Menge Leid erspart worden – und ihnen eine Menge Schuld und Scham“. Diese Aussage bekommt umso mehr Dramatik, Gewicht und Tragik, wenn man bedenkt, dass mein Vater nur zwanzig Jahre vor dieser Aussage noch auf der Flucht vor den Nazis war und mehrfach von Christen, auch befreundeten, verraten wurde. Als Einziger seiner Familie hat er überlebt. Nach dem Krieg schaffte er es, eine neue Familie zu gründen. Für ihn galt es, diese Familie, dieses neue Leben – also auch meines - zu schützen und für alle Zukunft zu sichern. Dieses verständliche Bedürfnis nach Sicherheit war seine Motivation zum Dialog, und natürlich teilte er dieses Bedürfnis mit meiner Mutter. Für sie ging Dialog durch den Magen: kein Feiertag, kein Fest ohne christliche Nachbarn, Kollegen und Freunde. Zu Tisch wurde über Gott und die Welt philosophiert, dazwischen Trinksprüche und Segenswünsche ausgetauscht, auch Geschichten und Witze. Was für eine wunderbare Atmosphäre! Viele schöne Erinnerungen verdanke ich damit meinen Eltern seligen Andenkens und unseren christlichen Gästen – alles wunderbare Leute, die mich sicherlich auch auf ihre Art prägten. So habe ich Dialog gelernt und als Kind schon genossen. Nun muss ich erwerben, was ich ererbt habe.

Dieses Erbe gibt es nicht umsonst. Im Gegenteil. Der Preis ist hoch. In den zurückliegenden zwei Jahren musste ich feststellen, wie hoch. Vor allem mit Einsamkeit und Frustration bezahlt man als Jude in Deutschland, wenn man ernsthaft Dialog treibt. Das Gefühl, alleingelassen zu sein, auch und gerade von Freunden, ist unter Juden in Deutschland weit verbreitet, und damit wieder einer der wenigen Punkte, worauf sich Juden in Deutschland bei aller Unterschiedlichkeit einig sind.



Henry und Emma Budge Stiftung

Ein würdevolles Leben für Juden und Christen, das war 1920 der Wunsch des Stifterehepaares Henry und Emma Budge.

Seit nunmehr neunzig Jahren betreut die BUDGE-STIFTUNG gemäß dem Auftrag des Stifterehepaares ältere, hilfs- bedürftige Menschen jüdischen und christlichen Glaubens, um ihnen im Alter ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Das einmalige Stiftungskonzept ist weit über die Grenzen Frankfurts hinaus bekannt.
http://www.budge-stiftung.de

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Was haben wir für Freunde hier, auf die wir zählen können? Die Kundgebung gegen Judenhass in Berlin war wichtig, es waren auch viele Freunde dort vertreten, aber warum musste der Zentralrat der Juden die Initiative dafür alleine ergreifen und die Organisation übernehmen? Wieso nicht andere gesellschaftliche Gruppen oder Verbände, an denen es ja nicht mangelt? Wieso nicht von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens? Aus Politik, Kunst, Forschung, Lehre, Unterhaltung? Aus der Welt des Sports oder der Geschäftswelt? Wieso haben die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften keine Initiative ergriffen? Und ja, wieso nicht der Deutsche KoordinierungsRat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit? Sicher, sie alle waren auch auf der Kundgebung vertreten, sehr prominent sogar  –  aber eben auf Einladung hin, nicht aus eigener Initiative. Immerhin gab es Unterstützung aus der Wirtschaft. Beispielhaft die der Wall AG, die in Berlin für die Bekanntgabe der Veranstaltung auf ihren Werbeflächen ein deutliches und sichtbares Zeichen setzte, und die Lichtinstallation auf dem Springer-Verlagsgebäude. Wenn aber aus vereinten Kräften alle zusammen aufgestanden wären und als Zivilgesellschaft zu so einer Demonstration aufgerufen hätten! Nicht von ungefähr rief der Zentralrat: „Steh auf!“

Über zwanzig Jahre ist es har, als es den „Aufstand der Anständigen“ mit Lichterketten nach ekelhaften rassistischen Anschlägen gab. Die „Anständigen“ standen nur kurz pflichtbewusst auf - und haben seither wieder Platz genommen. Unter den Initiatoren waren damals übrigens auffallend viele Juden. Werden aber Juden selbst zur Zielscheibe eines ekelhaften Mobs, gibt es weder Lichterketten noch Mahnwachen oder andere Formen des Aufschreis aus dem Arsenal des zivilen Protests. Weder Bildungsbürger noch Gutmenschen sehen sich dafür offenbar in der Pflicht. Im Gegenteil. Gerade aus in ihren Reihen, in der Mitte der Gesellschaft, ist der Judenhass auch daheim. Niemand von ihnen schrie auf, wenn der Nebenmann auf einer anti-Israel-Demo plötzlich „Juden ins Gas“ rief. Rechtsradikale, Linksradikale, Islamisten – und brave Bürger mittendrin. Machen mit. So etwas hat die Bundesrepublik nie gesehen. Unheiliger kann keine Allianz sein. 

Der interreligiöse Dialog und alle anderen zivilen Mühen, die zum Aufbau und Erhalt unserer offenen Gesellschaft beitragen, konnten das nicht verhindern. In letzter Konsequenz droht hier eine mühsam aufgebaute Zivilgesellschaft in sich zu implodieren. Die Juden sind bloß die ersten, die das zu spüren bekommen – in tragischer historischer Konstanz. Mein Vater, der auch einige Zeit als Bergmann schuftete, pflegte zu sagen: „Die Juden sind für eine Zivilgesellschaft das, was die Kanarienvögel für uns Bergleute waren. Wenn es sie erwischt, sind wir alle in Lebensgefahr.“ Immerhin haben Bergleute ihre Kanarienvögel dafür immer geschätzt und geschützt. 

Bevor aber niemand aufruft, rief eben der Zentralrat auf – und erntete dafür genau deswegen aus den eigenen Reihen bittere Kritik. Das war den Verantwortlichen im Zentralrat wohl auch durchaus von vornherein bewusst. Dennoch machten sie es möglich – letztendlich für ebenjene Zivilgesellschaft, die uns Juden (mal wieder) im Stich gelassen hat. In dieser Zivilgesellschaft leben wir alle, für sie müssen wir streiten, und wenn es sein muss, eben allein, ganz im Sinn der talmudischen Weisheit: „Da wo kein Mensch ist, sei Du ein Mensch“ (Mischna Awot, 2:5).

Noch beeindruckender ist kaum zum Ausdruck zu bringen, wie sehr interreligiöser Dialog hier versagt. Er steckt in einer tiefen Krise. Offensichtlich haben die Dialogpartner nicht begriffen, was sie voneinander erwarten. Sie reden dann aneinander vorbei. Ein Partner schaut auch gelegentlich noch immer (aus Gewohnheit?) zum anderen hinab. Auf Augenhöhe ist da nichts – oder bestenfalls nichts mehr. So viel Ehrlichkeit muss sein. 

Beispiele dafür gibt es viele – leider, und sie häufen sich. Selbst auf der Kundgebung gegen Judenhass in Berlin waren sie deutlich sichtbar. Unübersehbar und exemplarisch dafür war ein großes rotes Transparent mit dem Spruch: „Rette Dich – komm‘ zu Jesus!“ Für Juden ist das an Zynismus nicht zu überbieten, und an Chuzpe; ausgerechnet mitten auf einer Kundgebung gegen Judenhass. Selbst dort ist man als Jude nicht sicher vor Anfeindung. Die auf der Kundgebung prominent vertretenen Kirchen haben dazu geschwiegen; selbst Kirchenvertreter, die sich in der Vergangenheit mehrfach gegen die Judenmission ausgesprochen haben. Hier ist eine Gelegenheit, die Missionare direkt zu konfrontieren, vertan worden. Hier hätte ein beherztes Eingreifen dem vor sich hin dümpelnden Dialog einen bedeutenden Impuls verleihen können. Aber es passierte – nichts. Selbst auf einer Kundgebung gegen Judenhass müssen Juden erkennen: sie sind auf sich allein gestellt. Und es wird nicht besser. Die Enttäuschung und die Einsamkeit wachsen. Und das nicht erst seit gestern. 

Bevor auf deutschen Straßen ekelhafte Rufe wie „Judenschwein“ oder „Juden ins Gas“ aus tausenden Kehlen hallten, war der Begriff „Jude“ bereits schon lange auf deutschen Schulhöfen ein Schimpfwort. Die jungen Männer, die 2014 so grölten, waren vor zehn, zwanzig Jahren auf deutschen Schulen, wo sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit keinen einzigen jüdischen Schulkameraden hatten. Religiöse Anteile aus der Geschichte sowohl  christlicher als auch muslimischer Kulturen sind hier sehr offensichtlich zusammen am Werk; Anteile, die in unserer modernen Zivilgesellschaft als überwunden geglaubt galten. Bis jetzt.  

Hier geht es nicht nur um religiöse Begriffe; dabei sind auch religiöse Motive, die als längst überwunden galten. Traditionell werden in religiös geprägten Gesellschaften Angehörige anderer Gruppen (vor allem Minderheiten) abfällig betrachtet und behandelt. Bezeichnet werden sie oft unter dem Sammelbegriff „Gottlose“, und aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen ausgeschlossen. Genau das macht auch der „Islamische Staat“ (IS), wenn er Andersgläubige enthauptet. Vom Prinzip her aber nichts anderes, wenn junge Männer in Deutschland „Juden ins Gas“ grölen. Hier wird mit Feuer gespielt – und mit viel mehr. Vor unseren Augen und in Echtzeit vollzieht sich im Hier und Jetzt eine Verschmelzung von christlichem und muslimischem Antijudaismus, und die Zivilgesellschaft versagt. Ein Gruselkabinett.

Die Wurzeln liegen tief; viel tiefer als die des zarten Pflänzchens, welches „Interreligiöses Gespräch“ heißt. Im Christentum wurden die angeblich gegen Gott treulosen, „perfiden“ Juden in die Rolle der „Gottlosen“ gedrängt, verfolgt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Ihr Elend hielt dann als Beleg her für ihre Gottlosigkeit, also für die geltende christliche Wahrheit (diese Verkehrung von Ursache und Wirkung ist ein Kennzeichen des Judenhasses bis heute, von links bis rechts). Bei innerchristlichen Konflikten (vor allem in der Zeit der Glaubensspaltung) wurden die jeweiligen Gegner schnell als „Juden“ beschimpft, also als Gottlose. Die Verbindungslinien sind verschlungen und hartnäckig bis zu den deutschen Schulhöfen von heute. Dort treffen sie auf eine muslimische Entsprechung und gehen eine ganz neue Verbindung ein, die sich dann auf unseren Straßen in aller Heftigkeit letzten Sommer entladen hat. Der Gaza-Krieg war lediglich der Auslöser.



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Im Koran kommen Juden in Geschichten vor, die sich in ihrem historischen und regionalen Kontext erschließen. Ohne diesen Kontext entstehen antijüdische Bilder, und genau diese Bilder werden in unserer hochmodernen technisierten Welt über Satellit in die Wohnstuben frustrierter junger Männer ausgestrahlt. Jugendliche mit Migrationshintergrund, die hier aufgewachsen sind und keinen Zugang zum Hocharabischen haben, können diese Bilder der Judenfeindschaft nicht entziffern. Sie sind auf die Interpretationen eines Lehrers angewiesen, oder eben dessen, was sie per Satellit eingetrichtert bekommen (und das ist erschreckend). So lange es hier keine muslimische Theologen gibt, die alternative Interpretationen anbieten, werden eben die in den arabischen Medien allgegenwärtigen judenfeindlichen Bilder nicht nur weiter wirken, sondern eben auch auf christliche Bilder vom gottlosen Juden treffen und sich zu einem unentwirrbaren Knoten verknäulen. So entsteht ein Potenzial, welches für unsere Gesellschaft und ihre demokratischen Werte gefährlich werden kann. Sehr gefährlich.
 
Diesen Knäuel zu entwirren ist eine Herausforderung von ungeahnter Tragweite. Sie kann nur gelingen, wenn sie auch dort angegangen wird, wo sie entstanden ist: im religiösen Raum. Das interreligiöse Gespräch ist von existenzieller Bedeutung. Erstmals für uns alle – nicht nur für Juden.

Dabei sollten nicht aus Panik oder blindem Aktionismus heraus alle auf einmal in diesem Gespräch mitreden. Wie beim Entwirren eines hartnäckigen Knotens kann nur Strang für Strang entwirrt werden. Eine andere Lösung gibt es nicht – die gordische eingeschlossen. Das wäre zu einfach. Viele Dialoge statt eines Trialogs zwischen Judentum, Christentum und Islam sind da schwieriger, aber effizienter. Und nötig. Eine Alternative für Deutschland gibt es nicht – auch auf diesem Gebiet nicht. Was in USA oder England möglich ist, kann nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen werden. Die „Interfaith Amigos“ etwa, ein amerikanisches Trio bestehend aus einem Priester, Imam und Rabbiner, die auf hohem Niveau humorvoll über Gott und die Welt reden, würden in Deutschland nicht weit kommen.

Weiter kommen hier ganz andere, und sie sollten zu guter Letzt hier auch unbedingt erwähnt werden, denn sie strahlen Hoffnung aus, sind aber über ihren eigenen, sehr kleinen Zirkeln hinaus völlig unbekannt. Eigentlich sollten gerade sie dann mit Preisen überschüttet werden: erstens, weil sie es verdienen, und zweitens, weil sie dringend einer breiteren Bekanntheit bedürfen. In der Einsamkeit, die uns Juden dieser Tage in Deutschland und Europa umhüllt, geben sie mir persönlich jeden Tag aufs Neue Kraft und Hoffnung. Jeden morgen muss meine kleine Tochter an bewaffneten Posten vorbei in den jüdischen Kindergarten. Die jeweilige Bedrohungslage ist abzulesen am Ausmaß der Polizeipräsenz. Vor drei Jahren war das noch ein einzelner Posten. Inzwischen ist daraus ein voll ausgerüsteter und bewaffneter Mannschaftswagen geworden. Ohne diese bewaffneten Wachen würden meine Tochter, die anderen Kinder und ihre Erzieher wohl nicht einen einzigen Tag unbeschadet überleben. Der Hass wird ernst genommen. Da draußen sind böse Leute, das müssen wir auch den Kindern so erzählen. Und wieder ist sie da, die Einsamkeit. Die einzige wirkliche Unterstützung, die einzige echte Hilfe dagegen, kommt von den christlichen Eltern und Kindern, die dennoch in unseren Kindergarten gehen, und von den Erzieherinnen und Erziehern bei uns. In den jüdischen Kindergärten sowie in den jüdischen Schulen (bundesweit ganze 20) gehen wie selbstverständlich nämlich auch nicht-jüdische Kinder und Lehrer. Sie sind unsere Helden, und ich liebe und respektiere sie dafür, mitsamt den nicht-jüdischen Eltern. Für sie ist es selbstverständlich unsere Bedrohung mitzutragen und zu ertragen, und sie haben sich an die Bedrohungslage schon so gewohnt wie wir. Aber das müssen sie ja nicht. Und niemand dankt es ihnen. Auch die alten Leuten im einzigen christlich-jüdischen Altenheim bundesweit, der Budge-Stiftung, bekommen keine gesellschaftliche Anerkennung für ihre einmalige Leistung, täglich christlich-jüdische Zusammenarbeit im besten Sinn zu leben. Lange wird es sie nicht mehr geben, die Generation, die erleben musste, was es heißt, wenn eine Zivilgesellschaft zusammenbricht. Ihr Zeugnis wird dann nicht mehr lebendig gehört werden können. Dann bleiben immerhin die Kinder, die zusammen in den Kindergarten gehen und alles zusammen teilen und erleben – selbst die Bedrohung.

Dabei sind wir alle bedroht. Das interreligiöse Gespräch ist nötiger denn je.  



Der Autor

Rabbiner ANDREW ARYEH STEIMAN

geb. 1958 in New York. Grundschule in den USA; Gymnasium in Frankfurt/M. Studium der Volkswirtschaftslehre, Pädagogik und Philosophie in Frankfurt/M. und der Religionspädagogik in Jerusalem. 1982 bis 1996 Religionslehrer und Kantor in der Militär-seelsorge der US-Streitkräfte in Frankfurt/M. und Ramstein/Pfalz. 1997 bis 2003 Religionslehrer an der Jüdischen Oberschule in Berlin und dem Stadtgymnasium in Dortmund. Seit 2003 Altenheimseelsorger und Leiter der Jüdischen Abteilung im Frankfurter Altenheim der Henry und Emma Budge-Stiftung. 

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