Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 193

November 2013

Der gestrige Reformationstag (31. Oktober) rückte einmal mehr die Lutherdekate zum Reformationsjubiläum in den Blickpunkt. In diesem Jahr 2013 steht die Dekade unter dem Leitthema „Reformation und Toleranz“. Als Erläuterung heißt es dazu auf der Homepage der Lutherdekade (http://www.luther2017.de/):

„Glaube und Gewissen sind grundsätzlich frei, so die Auffassung der Reformatoren. Luthers Forderung nach gewaltloser Auseinandersetzung wurde jedoch nicht immer befolgt. Und auch seine eigene Toleranz hatte Grenzen, die weit enger waren, als Menschenrechte oder Grundgesetz sie später zogen. […]“

Wohl wahr. Das wird sicher nirgends so deutlich wie in Luthers umstrittener Haltung zum Judentum mit all seinen fatalen Folgen bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein - und darüber hinaus.

Im vorliegenden Text setzt sich der evangelische Theologe Martin Stöhr mit dieser Problematik auseinander. Stöhr, einer der Pioniere des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland und langjähriger Präsident des Internationalen Rates der Christen und Juden (ICCJ) sowie des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), gehörte zu den ersten Theologen, die die judenfeindlichen Seiten des Reformators und der Reformation im Blick auf eine Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses bereits Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre thematisierte und theologisch aufarbeitete.

Das heutige ONLINE-EXTRA basiert auf einem aktuellen Vortrag von Stöhr, den er dankenswerter Weise COMPASS zur Veröffentlichung überlassen hat und der hier anlässlich des gestrigen Reformationstages erscheint.


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Online-Extra Nr. 193


Luther und die Juden

"Luther und die Toleranz" in der Lutherdekade 2013


MARTIN STÖHR


I Drei Erinnerungen an tödliche Spätfolgen theologischen Denkens

1. 1910  hatte die Ev.-Theol. Fakultät der Breslauer Universität einen wissenschaftlichen Wettbewerb ausgelobt. Der jüdische Theologiestudent (des Breslauer Jüd.-Theol. Seminars) Reinhold Lewin gewann den ersten Preis – mit einer Arbeit „Luthers Stellung zu den Juden“. Sie war so gut, dass Lewin sie nicht nur zu einer Dissertation an der Philos. Fakultät ausbaute. Sie wurde auch in der Schriftenreihe der Ev.-Theol .Fakultät „Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche“ (Hg von N. von Bonwetsch und R. Seeberg – D. Bonhoeffers Doktorvater) veröffentlicht. Lewin  amtierte bis 1938 als Gemeinderabbiner in Leipzig und Königsberg. 1942 wurde er mit seiner Frau und den Kindern, wie seine Gemeinden schon vorher, in einem Vernichtungslager ermordet.

2. Als der Internationale Strafgerichtshof in Nürnberg nach 1945 die Größen der Wehrmacht und der Wirtschaft, der NS-Partei und der Medien aus der Nazizeit verhört, ist  auch der Chefredakteur des antisemitischen Wochenblattes „STÜRMER“ Julius Streicher angeklagt. Er verteidigt sich: Sein Blatt habe nur aufklären wollen, seit Jahrhunderten habe es doch antisemitische Presseerzeugnisse gegeben, zB besäße er ein Buch von Luther, um dann zu sagen: „Dr. Martin Luther säße sicher heute an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagebehörde in Betracht gezogen würde.“ Es handelt sich um Luthers späte Schrift von 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“. Ihm entnimmt Streicher für sein Hetzblatt Argumente und für ein Kinderbuch auch das Motto: „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud‘ bei seinem Eid.“

Ich werde diese Schrift ausführlich darstellen wie auch das 20 Jahre vorher erschienene, projüdische  Buch  „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei.“ Luthers Pamphlet erlebt in der Nazizeit  viele Nachdrucke. Der Thüringer Bischof M. Sasse ließ es nach dem November-Pogrom 1938 (die meistens an Luthers Geburtstag stattfanden) neu drucken - mit der Überschrift:  „Martin Luther und die Juden – weg mit ihnen!“ Luthers Autorität gibt der deutschen Regierung und der Mehrheitsgesellschaft ein gutes Gewissen für ihr Tun, Nichtstun und Mitläufertum,  als der völkische, soziale oder rassistische Judenhass in Deutschland in die Regierung gewählt wurde und eine Minderheit, nämlich die Juden, Freiwild zum Jagen und Töten werden.

3. Der religiös unterfütterte Hass gegen Juden wurde auch auf jene  Menschen jüdischer Herkunft übertragen, die – oft seit Generationen -  Mitglieder der christlichen Kirchen waren (nach Ursula Büttner / Martin Greschat „Die verlassenen Kinder Kirche“ etwa 300 000 bis 400 000). 1942 veröffentlicht das Amtsblatt der Ev. Kirche in Nassau-Hessen – wie andere Landeskirchen - ein Verbot, dass diese evangelischen Gemeindeglieder nicht mehr am Gottesdienst teilnehmen dürfen. Begründung: „Die nationalsozialistische deutsche Führung hat mit zahlreichen Dokumenten unwiderleglich bewiesen, dass dieser Krieg (der Zweite Weltkrieg) in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt worden ist…Von der Kreuzigung Christi bis zum heutigen Tag haben die Juden das Christentum bekämpft…Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden…nichts geändert. Rassejüdische Christen haben in ihr (in der Kirche) keinen Raum und kein Recht “


II Von den Jüden und ihren Lügen - 1543

Ich werde an zwei Schriften Luthers Stellungnahme, seine positive und seine negative Haltung zu den Juden deutlich machen. In der Geschichte hat Luthers üble Veröffentlichung stärker als seine positive gewirkt. Drei Jahre vor seinem Tod, 1543,  schreibt er eine hemmungslose Schmähschrift. In Briefen und Predigten schlägt er kurz vor Lebensende ähnlich widerliche Töne an.  Ich zitiere seine Vorschläge. Er nennt sie einen „treuen Rat“:


1 „dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke,
2 dass man ihre Häuser zerbreche, dafür mag man sie wie die Zigeuner in einen Stall tun,
3 dass man ihre Gebetbücher und „Talmudisten“ nehme,, worin Abgötterei gelehrt wird,
4 dass man ihren Rabbinern verbiete, zu unterrichten,
5 dass man ihnen das freie Geleit auf den Straßen nehme
6 dass man ihnen den Wucher (=Zinsnehmen) verbiete und ihnen Silber und Gold nehme,
7 dass man den jungen und starken Juden und Jüdinnen gebe Flegel, Axt, Hacke, Spaten, Spinnrocken und Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße ihrer Nasen.“ 


Seit mit dem vierten Jahrhundert das Christentum beginnt, Staatsreligion zu werden, ist der Staat als „Gottes“ Instrument verantwortlich für die Verfolgung der Ketzer und Juden. Die Kirche stellt „nur“ die Abweichung von der reinen Lehre fest, als deren alleinige Verwalterin mit einem Papstamt – mit den Hierarchie-Strukturen des Römischen Reiches sie sich sieht.

Der Macht- und Mehrheitsgewinn der Christenheit verlangt eine einheitliche Theologie, sozusagen eine einheitliche Weltanschauung. Im Christlichen Abendland, im Corpus Christianum werden christliche Ketzer, Juden und später Muslime als Abweichungen von der Norm wahrgenommen. Eine pluralistische Gesellschaft erscheint unvorstellbar. Bürger wie Regierungen lieben religiös oder weltanschaulich geschlossene Gesellschaften. Duldung für Minderheiten konnte zum Glück in manchen Zeiten gewährt werden, Anerkennung nicht. Sie würde in den Augen der Herrschenden eine öffentliche Anerkennung von Unglauben und  Lüge bedeuten.

Welche Gedanken stehen hinter Luthers Programm eines Pogroms von 1543?

1 Erstens soll der Glaube der Christen gestärkt werden. Er redet in der Pose des sicheren Besitzers: Wir haben den Messias, den Christus. Wir haben die Heilige Schrift. Was uns Christen zur Freude gereicht, gereicht den „verblendeten“ Juden zur Schande. Er redet  über die Juden, nicht mit ihnen. Er hat sie längst abgeschrieben. “Dass die Juden dem Messias nicht glauben, danach fragen wir nichts,“, sie sind ihm egal. Ein Gespräch ist so, als „wenn du einer Sau, das Evangelium predigst.“

2 Luther hält den Glauben der Juden, den er als Unglauben dem eigenen Messias gegenüber versteht, für ansteckend. Wir wollen nicht auch ungläubig werden. Luther gibt sich keinen Illusionen über seinen eigenen Glauben und dem der Christen hin. Er ist radikal kritisch und selbstkritisch und sieht die Glaubensschwäche im eigenen Lager. Steht für die Christen das Urteil Gottes im Jüngsten Gericht aber noch aus, gegen die Juden ist es in aller Härte gefällt: „Verworfen!“ Eine Hoffnung hat er nicht, er sieht das Weltende sehr nahe und pflanzt gerade nicht das oft beschworene Apfelbäumchen, das er hoffnungsvoll auch pflanzen will, wenn morgen die Welt unterginge.

3 Luther will die Ehre Gottes und Jesu Christi wahren – als ob sie es nötig hätten, dass Menschen sie vor abweichenden Einstellungen anderer schützen. Ich frage: Wird der Glaube sicherer und glaubwürdiger wird, wenn er durch Anschwärzen anderer zum Glänzen  gebracht wird?

4 Luther meint, dass der christliche Glaube überall bekannt sei. Die Juden haben also keine Ausrede, als hätten sie vom Evangelium nie etwas gehört. Ist dann ihr „Unglaube“ nicht Ausdruck ihrer Bosheit? Muss die christliche Gesellschaft nicht einschreiten und zwar durch jenen Teil, der für Recht und Ordnung zuständig ist, nämlich die Obrigkeit? Sie hat „scharfe Barmherzigkeit“ zu üben und das Sieben-Punkte-Programm auszuführen. Der Landgraf von Hessen tut das sofort, die sächsischen Herrschaften hatten die Juden, wie England, Spanien und Frankreich, schon  eine Generation vor Luther längst ausgewiesen.   

5 Luther bestreitet den Juden, dass sie ein Recht auf das Alte Testament, ihre Bibel, hätten. Es ist für ihn nichts anderes als exklusiv verstandene christliche Zeugnis des Messias. Das Alte Testament redet nur vom kommenden Christus. Es gehört also nicht mehr der dem jüdischen Volk. Eine andere Gemeinde hat kein Recht an dem christlichen Monopolbesitz und an der Deutungshoheit  der  Bibel. (1933 spricht der wackere Streiter der Bekennenden Kirche Hans Asmussen, dass mit dem Christentum das Ende des „Germnanentums und des Judentums gekommen sei. Der Münchener Kardinal Faulhaber verteidigt in seinen regimekritischen Adventpredidigten 1933 das als Judenbuch geschmähte Alte Testament als Buch der Christen. Es sei nicht mehr das Buch der Juden, denn Gott habe den Bund, die Ehe mit Israel gekündigt).


III Erbschaften

Luthers Gedanken sind nicht neu. Er  greift auf eine breite, christliche  Überlieferung der Judenverachtung zurück.

1. Melito von Sardes (ca 160 nChr), ein kleinasiatischer Bischof, interpretiert das Alte Testament derart, als rede es überall von Christus und nicht zuerst von  und an Israel. Seit Jesus Christus, der es erfüllt habe, hätten die Juden jedes Anrecht auf ihre Bibel verspielt. Er wirft dem jüdischen Volk mit großem Pathos vor, Gott selber auf Golgata getötet zu haben. „Hört alle Geschlechter der Völker, und seht es: Ein nie dagewesener Mord geschah in Jerusalem, in der Stadt des Gesetzes, in der hebräischen Stadt, in der Stadt der Propheten…Der die Himmel aufhängte, ist selber aufgehängt worden, der das Weltall festgemacht hat, ist selber am Holz festgemacht worden…Gott ist getötet. Der König Israels ist durch Israels Gesetz beseitigt worden.“

2.  Tertullian wehrt sich in einer Zeit massiver Christenverfolgung durch den Kaiser Septimus Severus (193-211 nChr). Die kaiserlichen Behörden verfolgen die junge Christenheit mit den widerlichsten Vorwürfen. Und das Volk glaubt die Vorurteile, die verbreitet wurden:  „Die Christen sind an allem schuld, sie praktizieren Ritualmord an Kindern, um Blut für das Abendmahl zu gewinnen. Unzucht und Unredlichkeit“ wird ihnen vorgeworfen. Die einst selbst erlittene Verleumdung wirft man später den Juden vor. 

3. Der Mailänder Bischof Ambrosius (339-397 nChr) hat nicht nur die christlichen Gesangbücher bereichert (Luther übersetzt sein schönes Adventlied „Nun komm der Heiden Heiland“). Er hat auch die Erlaubnis gegeben, Synagogen straflos niederzubrennen - mit der rhetorischen Frage: kann man Orte des Unglaubens und der Lüge etwa dulden?

4. Augustinus definiert die Juden und ihr Schicksal durch den folgenschweren Satz: „Sie sind Zeugen ihrer Lüge und unserer Wahrheit!“ Weil sie diesen Zeugendienst – wie Ahasver, die christliche Erfindung des „Ewigen Juden“ ohne Heimat – ewig leisten müssen, dürfen sie nicht umgebracht werden. Ihre Leidensgeschichte ist Strafe genug. Bei Augustinus aber gibt es auch eine andere Deutung, die zu dem schmalen Schatz positiver Deutungen des Judentums gehört: Augustinus legt das Gleichnis vom (gar nicht) Verlorenen Sohn so aus: Der ältere Sohn ist Israel, beim Vater geblieben, die Heiden sind der entlaufene Sohn, der aber zum Vater zurück kehrt.

5. Obwohl den Juden – gegen den Bibeltext - immer der Rachegedanken „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (eine biblisch-humane Entschädigungsregel, die gegen die Blutrache argumentiert) vorgehalten wird, prägt der Rache-Gedanken das christliche Verhalten gegenüber den Juden: Sie müssen – so Papst Leo der Große (395-461 nChr) - für die „Scheußlichkeit der Untat“ leiden, Jesus gekreuzigt zu haben. 

6. In vielen mittelalterlichen Kirchen – auch im Kölner Dom oder an der Stadtkirche in Wittenberg - -ist eine Judensau zur Beleidigung der jüdischen Nachbarn angebracht. Die Bilder stellen die Juden als Verehrer von Schweinen dar. Auch die, die sich haben taufen lassen. Zum Dom zu Freising gehört  die Inschrift: „So wahr die Maus die Katz nit frisst, wird der Jud kein wahrer Christ.“

7. Das vierte Laterankonzil beschließt  1215, dass die Juden sich durch einen gelben Fleck zu kennzeichnen haben,  eine von muslimischen Staaten übernommene Praxis. Im darauffolgenden Jahrhundert wurden die Juden bezichtigt, die Brunnen vergiftet zu haben und so die Pest verursacht zu haben. Obwohl Juden wie Nichtjuden an der Pest sterben, trifft sie Vertreibung und Pogrom. Immer häufiger wird das verbunden mit dem Vorwurf der Ritualmorde – ein Vorwurf, den der römische Kaiser und die Bevölkerung früher gegen die christliche Minderheit erhoben hatten.

8.   Zu diesem reichen antijüdischen Erbe gehört unmittelbar vor Luthers Auftreten eine Schmähschrift, das Buch des zum Christentum übergetretenen Rabbiner-Sohns Margaritha „Der ganze jüdische Glaube“. Luther benutzt das Werk eifrig, da es ihm eine authentische Kenntnis des Judentums zu liefern scheint. Aber das Buch bedient nicht nur christliche Vorurteile, zB zum Thema „die Juden und das Geld“. An einer Stelle will er zu ihrer Überwindung beitragen.

Margaritha geht auf das Zinszahlen, den Wucher, ein  Margaritha argumentiert differenziert. Luther hält mit vielen Vorgängern, mit Theologen und Juristen, mit Päpsten und Fürsten,  den Wucher, dh auch das Zinsnehmen für unchristlich, da in der Bibel verboten. Aber, wie fast alle Zeitgenossen, schreibt er es den Juden als deren besondere Bosheit zu. Genauso wie die Tatsache, dass Juden weder Ackerbau noch Handwerk ausüben. Margaritha zeigt allerdings, wie Luther selber 20 Jahre vorher, die Ursachen nicht bei  den Juden, sondern in der Mehrheitsgesellschaft  suchte:


• Die Christen schoben den Juden die Geldgeschäfte zu, die sie sich selbst verboten hatten,
• die Handwerker-Zünfte und Kaufmannsgilden waren durch Gottesdienste und Prozessionen christlich konstituierte Vereinigungen,
• und Landbesitz zu erwerben, war den Juden nicht erlaubt (außer im mittelalterlicch liberalen Polen).


Margaritha wendet sich an die Regierungen. Sie sollten den Juden endlich verbieten, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Dann würden die Juden frei, wie alle Menschen andere Berufe zu haben als die des Geldgeschäfts, zB Handwerker und Bauern sein. Man lässt sie die Sünde tun, die man selber nicht tun will und schafft sich damit zugleich die Sündenböcke, die man diffamieren, verfolgen und töten kann, wenn man sie nicht mehr braucht. Luther weiß, dass es die christliche Obrigkeit ist, die den Christen Zinsen zu nehmen verbietet, wie es in der Bibel (2. Mose 22,24) verlangt wird. 

Luther sieht den Mammon, das Geld und die Gier wie Gegengötter. Sie streiten gegen das biblische Gebot der Gerechtigkeit und der Liebe und gegen das Vernunftgebot der Billigkeit, das heißt: der Verhältnismäßigkeit, verkörpert in der Goldenen Regel aus der Bergpredigt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ (Mt 7,12).  Luther verhandelt selbst mit Städten und Fürsten, um den Zinssatz zB von 27 auf 3% zu drücken. Produktivkredite sind möglich, etwa für Flüchtlinge zum Aufbau einer neuen Existenz.

Drei Schriften hat Luther gegen den Wucher geschrieben. Die letzte 1540 fordert die „Pfarrherren“ auf, gegen den Wucher zu predigen.  Luther hält sich treu an das biblische Verbot. Seine scharfen Äußerungen gegen den Wucher macht das vor allem an den großen Kapitalgesellschaften der Fugger und Welser fest. Diese christlichen global player kaufen sich Kaiser und Bischöfe. Luther: „Deutschland wird mitsamt seinen Fürsten und Herren, mit Land und Leuten den Wucherern zu leibeigen werden!“ Kaiser Karl V wie der Mainzer Erzbischof verdankt seine Wahl 1519 wesentlich den Wahlspenden der Welser und Fugger. Sie finanzierten Päpste, Bischöfe und Kaiser.

An dieser Stelle ist ein Blick in die Sozialgeschichte angebracht:

In der Zeit von 1470 bis etwa 1618 kommt es zu einem gewaltigen Ausbau des Geldgeschäfts; Wechsel werden als Zahlungsmittel eingeführt. Es kommt zu einer Preisrevolution, der zu einem Rückgang der Realeinkommen einer verarmenden  Bevölkerung führt. Wer nicht Selbstversorger ist, sondern vom Markt abhängig ist, muss jetzt 70% seines Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben (Heute, in den Entwicklungsländer ebenfalls genau 70%, in Deutschland 12% - so die Weltbank). Ursachen der Preisrevolution waren die Vermehrung des Geldumlaufs um 400%, nicht zuletzt durch Buchgeld, dazu die Preissteigerungen durch expandierenden Rohstoffhandel, der in den Händen weniger Kompanien oder Staaten lag und natürlich durch das Bevölkerungswachstum. Sozial prekäre Zeiten suchen sich gern Sündenböcke.



“Drum immer weg mit ihnen!”

 
Luthers Sündenfall gegenüber den Juden

Eine Ausstellung zum Ausleihen


Die Ausstellung zeigt Luthers ambivalente, intolerante, ja aggressive Haltung gegenüber dem Judentum seiner Zeit. Auch wird die kirchenhistorische Vorgeschichte und die Rezeption des lutherischen Antijudaismus im Dritten Reich aufgezeigt und die Frage nach den Konsequenzen für heute gestellt.


Konzeption und Layout: Hans-Georg Vorndran.
Die Ausstellung umfasst 12 Rollups im Format 85 mal 215 Zentimeter. Sie können freistehend aufgestellt werden.

Weitere ausführliche Informationen zur Ausstellung:
http://www.luther-juden-ausstellung.de/



IV Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei 1523

1523 schreibt Luther ein kleines Buch unter dem Titel „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“.  Es ist - wie manche seiner Schriften - eine Antwort auf öffentliche Anfeindungen. Er muss sich öffentlich verteidigen. Noch ist  er im Kirchenbann, ist nach Reichsrecht vogelfrei, kann überall straffrei erschlagen werden. Er hat das Schicksal des tschechischen Reformers Jan Hus vor Augen, dem man freies Geleit nach Konstanz gab, um ihn dort dann doch zu verbrennen. Wie dieser will er nichts anderes als die Erneuerung, die Reformation der Christenheit, seiner Kirche.

Auf dem Reichstag in Nürnberg hatte der Vertreter des Kaisers Karl V, Erzherzog Ferdinand, ihm vorgeworfen,  Luther lehre, Jesus Christus  stamme leiblich von Abraham ab, sei also ein Jude. Damit leugne Luther doch die Jungfrauengeburt und damit die volle Göttlichkeit Jesu. Nichts liegt aber Luther ferner, er zweifelt  die alten christlichen Bekenntnisformulierungen überhaupt nicht an. 

Andere Gegner bezichtigen ihn, jüdische Irrlehren zu vertreten. Was ich an Beispielen aus der Kirchengeschichte anführe, zeigt, wie gefährlich nahe ihm mit dieser Kritik Inquisition und Scheiterhaufen rücken.

Aber Luther will sich gar nicht als Person verteidigen. Er muss „um anderer willen“, also um der Juden, willen reden. Er nimmt Stellung zum jüdischen Volk, aus dem Jesus doch stammt. Er richtet den Blick auf Jesu Geschwister, die Juden. Er will „aus der Schrift die Gründe erzählen, die mich bewegen, zu glauben, dass Christus ein Jude ist, von einer Jungfrau geboren.“   Vielleicht, so fügt er wie Paulus in seinem Brief nach Rom hinzu, „möchte ich damit einige Juden zum Christusglauben reizen.“ 

Resolut wie Renaissance und Humanisten seiner Zeit bringt er die Quellen zur Geltung – zurück zu den Wurzeln!  Er stellt sich auf den Boden der Heiligen Schrift, legt sie aus, vertraut ihr voll, dass alle, die sie lesen und ernstnehmen, zu demselben Ergebnis kommen müssen, dass nämlich Jesus von Nazaret der im Ersten Testament angekündigte Messias sei.  Das zu entdecken brauche es weder Papst noch Regierungen. (Anders Kardinal Brandmüller: „Lange bevor es eine Bibel gab, gab es die Kirche“ – DIE ZEIT 14.3.2013).

Luther 1523: Gottes Wort läuft allein durch die Lande, wenn man es  frei lässt. Gottes Wort ist jetzt allen zugänglich. Es hat Nachhilfe nicht nötig, nur Nachfolge. Er vertraut sehr gelassen darauf, dass die Wahrheit sich von selber durchsetzt – ohne Druck und Gewalt. Ein Jahr vorher predigt er in Wittenberg „Das Wort Gottes läuft allein durch die Lande, während ich mit/cum Philippo (Melanchton) wittenbergisch Bier trinke!“ Eine andere Deutung der ganzen Bibel ist ihm nicht möglich, als dass das Ergebnis von biblischer Verkündigung der christliche Glaube (oder dessen Ablehnung!) sein muss.

Deswegen begreift er seine Aufgaben als ein „Erzählen“ dieses Wortes. Alle, Juden und Christen, vertrauen der überzeugenden Wirkungskraft von Gottes Wort. Das Büchlein schließt mit dem Gebet: „Gott gebe uns allen seine Gnade. Amen!“

Dass die Bibel der Juden nur das sog. Alte Testament umfasst, stört ihn nicht. Es stimmt traditionell für die Christen mit dem später hinzu gekommenen Neuen Testament voll überein.  Auch die Mosebücher wie die Psalmen, von den Propheten ganz zu schweigen, erzählen von dem einen Gott, von seinem Messias. Er kann sagen, dass  „die Väter von Adam an“ die frohe Botschaft „gepredigt  und getrieben“ haben und „rechte Christen gewesen“ sind. Dergleichen Auslegungspraxis ist heute nach einigen Jahrhunderten historisch-kritischer Bibelwissenschaft und nach einigen Jahren jüdisch-christlicher Neubegegnung nicht mehr möglich.

Aber Luther bleibt ja nicht dabei stehen. Er fragt sich, warum, dann die Juden nicht Christen werden und in Jesus den erwarteten Messias sehen. Er sieht den bleibenden Unterschied zwischen Juden und Christen in der Messiasfrage. Er schmerzt ihn, wie der Pharisäer und Apostel Paulus (Röm 9,1ff) darunter leidet. Warum dieser Riss zwischen Judenheit und Christenheit?
Luther gibt zwei Antworten:

1. Den Juden war – genau wie den Christen  - die Schrift bisher verdunkelt, sie war in der babylonischen Gefangenschaft der „Möncherei und Päpsterei“, dh in Kirchen, für Fachleute eingesperrt, gefasst und verwaltet in den Dogmen der Kirche.  Aber jetzt kann die frohe Botschaft der ganzen Bibel von Juden, Heiden und Christen gehört und gelesen werden – ohne Vorbedingungen, ohne menschliche Deutungshoheit. Die Christenheit steht doch selber am Anfang eines neuen Weges und ist auf tägliche Umkehr und Buße verpflichtet – wie es in den 95 Thesen heißt. Sie sind keineswegs die Besitzer und Verwalter der Heiligen Schrift, sondern wie die Juden ihre Hörer und Schüler.
Der freie Zugang zur Schrift wird alle zu demselben Ergebnis führen: Gott und den Messias zu hören, zu verstehen und nachzufolgen.
Die Freiheit eines Christenmenschen, so Luther in seiner zentralen reformatorischen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ bedeutet: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemanden untertan“ – also auch nicht irgendwelchen menschlichen Gesetzen und Autoritäten. Und dann „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht  aller Dinge und jedermann untertan!“ – in der Liebe dient der von Gott befreite Mensch allen Menschen.


V Wirkungen von  Luthers Neuansatz in seiner Zeit

Innerhalb von zwanzig Jahren, zwischen 1523 und 1543 greift Luther erneut voll in die uralten Kisten der üblichen Verleumdungen. Dabei hatte er auf seine Schrift von 1523 sehr positive Resonanzen bekommen. Er hatte auf die grauenhafte Lieblosigkeit der Christen gegenüber den Juden, auf das gemeinsame Fundament der Bibel hingewiesen, die ein neues Verstehen und eine neue Beziehung ermöglicht. 

Der große  jüdische Historiker Heinrich Graetz schreibt, diese Stimme (Luthers) ist „ein Wort, wie es die Juden seit einem Jahrtausend nicht gehört hatten“.

Aus der Reformationszeit bringe ich nur einige Beispiele auf Luthers Positionen:

Justus Jonas, Luthers Mitreformator, übersetzt die positive Schrift von 1523 sofort ins Lateinische, während die deutsche Fassung  neun Auflagen erreicht. Sie verbreitet sich in rasch in ganz Europa. Auszüge dieser Schrift werden ins Spanische und Hebräische übersetzt. Ein Neuanfang zwischen Juden und Christen scheint möglich. Justus Jonas begründet seine Verbreitung so: „Weil die Juden deshalb ein so edles und heiliges Volk sind, aus deren Fülle wir alle empfangen haben, schulden wir Heiden ihnen fürwahr eine immer währende Dankbarkeit, so dass wir, wie viel auch immer möglich ist, einige von ihnen aus einem Schiffbruch retten.“

Die Amsterdamer jüdische Gemeinde schickt als Dank eine künstlerisch gestaltete Abschrift des 130. Psalms in deutscher Sprache, geschrieben in hebräischen Buchstaben. So begrüßt man das neu beginnende Gespräch über das unterschiedliche und über das gemeinsame Verständnis der jetzt allen zugänglichen Bibel. Dieser Psalm beginnt mit „Aus der Tiefe rufe ich, Gott,  zu dir…“ und endet mit der Stimme der Hoffnung, dass bei Gott  Erlösung sei, er werde Israel von allen seinen Sünden erlösen.

Nach den Erfolgen der Inquisition, nach der blutigen Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal 1492 und der völligen Zerstörung der andalusischen Koexistenz von Juden, Christen und Muslimen verwundert es nicht, dass jüdische Flüchtlinge oder Zwangsgetaufte voller Hoffnung auf den beginnenden Erneuerungsprozess in der Kirche schauen. Rabbi Abraham Farrisol (1421-1525) schreibt: „Alle Christen in vielen Ländern …beeinflusst von diesem edlen Mann (Luther), begegnen den Juden mit Wohlwollen. Während es früher Länder gab, wo jeder reisende Jude umgebracht wurde…laden sie uns nun zum Gottesdienst ein, freudig und mit höflicher Miene.“

Der jüdische Leibarzt des Sultans Suleiman der Prächtige begrüßt die Reformation mit dem Hinweis, dass man zur Bilderlosigkeit zurückkehre, sich von der Anbetung von Götzen abwende und sich allein zur Heiligen Schrift wende.

Spätere Gutachten von evangelisch-theologischen Fakultäten, zB der Universitäten in Frankfurt/Oder und Jena, beziehen sich positiv auf Luthers Schrift von 1523, zB in der Empfehlung an den Hamburger Senat, jüdische Vertriebene aus Portugal und Spanien aufzunehmen.

Eine jüdische Handschrift aus der Reformationszeit, die der Historiker Ben Sasson herausgab, stellt damalige Reaktionen aus den jüdischen Gemeinden zusammen. Darin heißt es zusammenfassend über Luther: „Ein Priester stand auf, er und seine Gefolgschaft sagten, man solle den Juden kein schweres Joch auflegen, mit ihnen liebe- und ehrenvoll umgehen und sie so der Kirche nahe bringen. Er erbrachte den Nachweis, dass Jesus aus jüdischer Familie stamme, doch man spottete über ihn, dass er fast ein Israelit sei. Da reute es ihn und er war darauf aus, sich diesem Verdacht zu entziehen. Und er verkehrte seien Worte  zum Bösen. Er verlegte sich auf Verleumdung.“

Römische Stellungnahmen kennzeichnen Luther als „Semijudaeus“, als Halbjuden, dh einen Irrlehrer.

Der Elsässer Josel von Rosheim, der „Befehlshaber gemeiner Jüdischheit deutscher Nation“, meinte, auf  den Neuansatz Luthers 1537 Hoffnung setzen zu können. Ausgestattet mit einem Empfehlungsbrief des Straßburger Evangelischen Rates, bittet er Luther 1537 um ein Gespräch, um beim Kurfürsten von Sachsen zu erreichen, dass dieser die Durchreiseverbote für Juden aufhebt.  Luther habe sich durch seine Schrift doch um „die ganze Judenheit“ verdient gemacht. Weder der Kurfürst noch Luther  empfangen ihn.  Luther schreibt seinem „guten Freund, dem lieben Josel“, warum er nichts für die Juden bei der Landesregierung tun könne: Sie, die Juden, hätten ihren Mitjuden, Jesus nicht angenommen. Der christologische Hammer schlägt zu.

Auf dem Augsburger Reichstag, auf dem Melanchton die „Augsburger Konfession“, die Zusammenfassung der evangelischen  Lehre, vorlegt (ohne Anerkennung durch Rom),  vertritt Josel die Forderung nach humaneren Rechten für die „Jüdischheit“ im Reich. Ohne Erfolg.

Obwohl Luthers Schmähschrift aus seinen alten Tagen ausdrücklich fordert, man dürfe sich nicht an den Juden „rächen“, kommt es zu Vertreibungen in Braunschweig-Wolfenbüttel, der späteren Arbeitsstätte von Gotthold Ephraim Lessing. In vielen Ausgaben der Lutherschriften fehlen die Texte über die Juden.

Luthers Freund und Schüler Andreas Osiander nennt die Schmähschrift des alten Luther „schmutzig geschrieben.“ Schweizer, Süddeutsche und Straßburger Reformatoren distanzieren sich vom alten, antijüdischen Luther.

Heinrich Heine lobt an Luthers Reformation, dass sie die Freiheit geschaffen habe, auszusprechen, was die Zeit  fühlt,  denkt und bedarf,  und dass die Autoritäten niedergebrochen wurden. Gewiss, Luther hat etwas Tölpelhaft-Kluges, aber jetzt steht „der Mensch allein seinem Schöpfer gegenüber und singt ihm sein. Daher beginnt diese Literatur mit geistlichen Gesängen.“


VI Gründe für Luthers Stellungswechsel?

Es ist klar: Beide Bibelabkömmlinge, Juden wie Christen, sind in der Frage getrennt, ob in Jesus der biblisch verheißene Messias gekommen sei. Luther glaubt mit der Christenheit: „Ja“, in Jesus von Nazaret ist der Messias erschienen. Die Juden können das angesichts der Kirchengeschichte und der nicht erlösten Welt nicht glauben. Verheißt die biblische haben gute biblische Gründe. Die verschiedenen Positionen unterscheiden zwar Juden und Christen, müssen sie aber nicht feindlich trennen. Das Gespräch über das (christlich eindeutig gedachte) Wort Gottes ist – so Luther 1523 – nötig.  Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Verfolgungen und Zwangsdisputationen, die immer mit der Verbrennung von Rabbinern und jüdischen Gebet- und Talmudbüchern endeten, eröffnet Luthers Schrift ein Gespräch nach langen Zeiten einer unchristlichen Praxis, die Luther eher zu einer Sau als zu einem Christen gemacht hätte. Ein respektvoller Umgang der beiden Gemeinden des einen Gottes eröffnet nur für eine kurze Zeit eine bessere Zukunft. 

Aber Luther ändert seine Einstellung. Gegen Ende seines Lebens hat er zunehmend Angst  und Zweifel um die Erneuerung der Kirche. Er hat den Eindruck, das kirchliche Erneuerungswerk sei  gefährdet


• durch  den elementar anderen Messiasglauben der Juden, die in der Jesusbewegung keine Erfüllung der biblischen Verheißungen auf ein welterneuerndes Gottesreich sehen können,
• durch den Streit unter den eigenen, evangelischen Anhängern und Gemeinden, 
• durch Alleinvertretungsansprüche und Kreuzzugsideen des Papstes,
• durch die Türken  / /Muslime nicht nur  vor Wien,
• durch sog. Schwärmer und Wiedertäufer mit ihrer fundamentalistisch-spirituellen Verhaltensweisen und Bibelinterpretationen,
• durch die Bauernaufstände, deren soziale Forderungen Luther klar unterstützt, deren  Waffengewalt gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol er aber ablehnt.


Zum Kontext gehört darüber hinaus:  Einerseits hat sich Luthers Staatsethik auch im Lauf der Zeit gewandelt. Sie war immer situativ-kontextuell entwickelt, nie systematisiert worden. !523 vertritt er die Auffassung (in: Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei), dass das staatliche Gewaltmonopol der gottunmittelbaren Obrigkeit eine Herrschaft des „Rechtes des Stärkeren“ verhindern solle. Dazu gehöre aber eindeutig, dass die Obrigkeit kein Recht habe, zu erzwingen, wer was zu glauben habe, weil „einem jeglichen auf seinem Gewissen liegt, wie er glaubt oder nicht glaubt.“ Der Respekt vor der Gewissensentscheidung, wie jemand glaubt oder nicht glaubt,  wird nicht durch den Respekt vor der Obrigkeit ausgehebelt. Schon wenige Jahre später vertritt er einen solchen Gedanken der Toleranz nicht mehr. Er sieht , dass  „zweierlei Predigt in einem Land oder einer Stadt…Aufruhr und Uneinigkeit“ schaffen. Man verhöre beide Parteien  und entscheide, wer schriftgemäß Gottes Wort lehrt. Wer es „richtig“ tut, darf bleiben, der andere muss gehen. Aber „ausrotten soll man sie nicht.“ Das sagt er ausgerechnet in einer Predigt über das Gleichnis vom „Unkraut unter dem Weizen“ (Mt 13, 24ff) in dem Jesus rät, bis zum Endgericht Kraut und Unkraut wachsen zu lassen. Erst der Augsburger Religionsfrieden lässt 1555 katholische und evangelische Predigt zu. Dem Rest bleibt das „jus emigrandi“, das Recht zum Auswandern.  

Andererseits sieht er eine Einheitsfront derer, die nach seiner Meinung, das Evangelium und seine alleinige Geltung bestreiten, die den Vorrang von Gottes Menschenfreundlichkeit, also seiner Gnade,  durch Kommerzialisierung der Vergebung im Ablasshandel und durch ein hierarchielastiges Kirchenrecht beseitigt hatten. Luther differenziert nicht mehr. Die genannten Gefahren für die kirchliche Erneuerung erscheinen ihm alle als Religionen der Werkgerechtigkeit, die auf menschliche Leistung und Selbstbehauptung vor Gott setzen. Er meint, als sein Vermächtnis Christus gegen dessen angebliche Feinde verteidigen zu müssen. Diese verkehren alle das Evangelium in „Gesetz“. Was er 1523 Gottes Wort überzeugend zutraut, das es schafft, was es verheißt – nämlich den Menschen von Selbstrechtfertigung und Leistungsdruck zu befreien und die Christenheit zu erneuern, damit sie Liebe und Gerechtigkeit lebt und ausbreitet, das ist ihm nicht jederzeit sicher. Von der Osten-Sacken weist darauf hin, dass sein Hass die Kehrseite seiner Zweifel sei. „Wir sind Bettler, das ist wahr“ – sein letztes Wort, zeigt, wie stark er sich immer wieder auf die Anfänge des Glaubens zurück geworfen fühlt.

Hinzu kommt, dass er – wie viele Kabbalisten - offensichtlich das Weltende nahe sieht. Das Gericht Gottes steht bevor und das fängt am Haus Gottes an (1Petr 4,17), auch an dem im Bau befindlichen evangelischen Haus.

Aus einigen Gegenden hört er, dass Christen zum Judentum übertreten, weil sie dort eine klarere Lebensorientierung finden, die sie in der zerstrittenen Christenheit vermissen. Aber diese, historisch nur schwach zu belegende Nachricht erklärt ebenso wenig Luthers Rück- und Sündenfall wie ein altersbedingtes Misstrauen.


VII Wie heute mit Luther umgehen?

Seine späten Äußerungen sind durch nichts zu entschuldigen. Das kommt auch in vielen Stellungnahmen der Lutherischen Kirchen in aller Welt zum Ausdruck. Sie versprechen, dass eine solche Sünde heute und Zukunft in unseren Kirchen nicht mehr begangen werden dürfen. Eine eindeutige Erklärung der EKD steht noch aus.

Ein christliches  Bekenntnis zu Jesus, dem  Christus, dem Messias Gottes lebt glaubwürdig nur in der Nachfolge Christi. Die Beziehung zum Judentum hat frei von jeder Mission zu sein. Das Gespräch mit ihnen und nicht das Reden  über sie ist intensiv einzuüben. Dazu gehört das Hinhören, wie Juden sich selbst in ihren verschiedenen Strömungen und Kulturen selbst verstehen und nicht, wie ich sie definiere.


Thesen zur Diskussion



1. In der Schoa lässt  die Christenheit Israel im Stich, dh ihre keineswegs enterbte oder vergangene  Mutter und ihre lebendige Schwester. Sie tut das nicht unvorbereitet.

2. Das Töten beginnt – nach der Bergpredigt 5,21f – mit dem Schlechtmachen der Mitmenschen. Zu einer solchen Mordvorbereitung gehören auch Luthers Ausfälle aus einem „Wörterbuch christlicher Unmenschen“ - nicht nur von  1543.

3. Luthers Antisemitismus ist für ihn auch theologisch, und nicht nur emotional, verankert: a) Zu Beginn seiner Reformation denkt er: Wenn alle die jetzt allen zugängliche Bibel lesen, kommen alle zu demselben -  christlichen - Ergebnis. b) Das Alte Testament ist nur Voraussage dessen, was das Neue Testament als -  christliche - Erfüllung schildert. Beide Voraussetzungen übersehen, dass Gottes Berufung dieses Volkes gültig bleibt.  

4. Gottes Evangelium an Israel und durch Israel an die Völker erlaubt keinen christlichen Alleinvertretungsanspruch.  Wer „Glauben“ als (s)einen Besitz versteht, setzt das Recht-Haben vor das Recht-Tun. Gott und sein Messias sind  keine Besitztümer, sondern laden zu durchaus unterschiedlichen Wegen der Nachfolge.

5. Gottes Wahrheiten stehen „auf zweier Zeugen Mund“ (5.Mose 17,6; Mt 18,16; 2.Kor13,19). Israel und Kirche leben in der Nachfolge als seine Zeugen. Trotz eines Risikos für Gott, traut er ihnen zu, die Welt und die Geschichte nicht nur religiös zu deuten, sondern auch nach Gottes Willen (Tora = Weisung) zu gestalten. 

6. Auch für die Beziehung zu anderen Religionen und Weltanschauungen gilt: Mit den Anderen, statt über sie zu reden. Ihre Selbstverständnisse sind ernst zu nehmen. Nur so wird jeder Mensch in seiner einmaligen  Würde respektiert,  ein einmalig kostbares Ebenbild des Schöpfers und Vollenders der Welt zu sein.

7. Wer seine eigenen Auffassungen von Gott, Mensch und Welt absolut setzt, braucht  die unverfügbare Absolutheit Gottes nicht, wohl aber Mitmenschen, auf die er herabsehen kann.  Die billigste Art, (s)eine eigene Identität zu gewinnen, macht  sich – gegen das biblische Bilderverbot –  vom „Anderen“ ein Bild, gewinnt seine Position in einer herabwürdigenden Negation des Anderen. Eigene Probleme zu verdrängen braucht andere Menschen als Feindbilder oder  Sündenböcke. 

8. Wer seine Welt als ein „Corpus Christianum“, als das christliche Abendland, versteht – wie es gegen kommunistische Diktaturen oder heute gegen den Islam geschieht -  macht aus Nachbarn, die nicht oder anders beten, aussehen,  singen oder essen  „die Anderen“, „die Fremden“, die eigentlich nicht hierher und nicht zu uns gehören.

9. Luther ist (wie allen Theologien und Konfessionen) zu widersprechen, die das „Alte Testament“ nur von „Neuen Testament“ her verstehen und nicht als der „Wahrheitsraum des Neuen Testamentes“ (Fr. Crüsemann). So verstanden Jesus und die Apostel  ihre einzige Bibel, das  AT. Diese Heilige Schrift legten und lebten sie aus. Ein Lehrsatz wie  (zB von Kardinal Brandmüller) „Lange bevor es die Bibel gab, gab es die Kirche!“ enteignet Israel.

10. Christenmenschen lesen zu Recht die Hebräische Bibel auch als ihre Heilige Schrift, weil (a) der Gott Israels auch der Gott der Welt und der Völker ist, (b) weil Juden und Christen die messianische  Hoffnung auf die Erneuerung und Vollendung der Welt teilen, (c) weil sie gemeinsam in der messianischen Hoffnung dem biblischen Gottes und seiner Zielsetzungen  nachfolgen, indem sie für Frieden und Gerechtigkeit, Liebe und Menschenwürde leben und arbeiten.

11. Die christliche und jüdische Sicht auf den Juden Jesus von Nazaret unterscheidet, trennt aber Juden und Christen nicht. Christen sehen in Jesus von Nazaret den Anfänger des messianischen Reiches: Seine Botschaft sagt: „Das Reich Gottes (= das messianische Reich) ist nahe herbei gekommen. Kehrt um!“ Deswegen bekennen sie sich zu ihm als den Gesalbten Gottes, den Maschiach = Messias = Christos.

12. Ihm als den von Gott „Gesalbten“ und Gesandten“ zu vertrauen, ermöglicht die Nachfolge des Gottes, mit Israel an der „Verbesserung der Welt“ zu arbeiten, jüdisch: „Tikkun Olam“, christlich: „Restitutio ad integrum“, die Wiederherstellung der korrumpierten Schöpfung. 



Literatur:

Martin Stöhr, Luther und die Juden, in: Evangelische Theologie 1960 / 4 S. 157-182; Erweitert: in: W.D. Marsch / K. Thieme (Hg), Juden und Christen. Ihr Gegenüber vom Apostelkonzil bis heute. Mainz / Göttingen 1961, S. 89-108

Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden, Stuttgart 2002.

Thomas Kaufmann, Luther und die Juden, Göttingen 2011.



Der Autor

MARTIN STÖHR

Jg. 1932, Studium der Theologie und Soziologie in Mainz, Bonn und Basel. 1961-1969 Studentenpfarrer an der Technischen Universität Darmstadt. 1969-1986 Direktor der Ev. Akademie Arnoldshain. 1986-1997 Professor an der Universität-Gesamthochschule Siegen. 1965-1984 Ev. Vorsitzender des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR). 1990-1998 Präsident des International Council of Christians and Jews (ICCJ), heute deren Ehrenpräsident.


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