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ONLINE-EXTRA Nr. 342

November 2023

Hält man sich die Ereignisse des 7. Oktobers 2023 vor Augen, dem Tag, als die Hamas ungehindert auf israelischem Boden Hunderte von jüdischen Zivilisten vom Säugling bis zum Greis abschlachteten, provoziert das Ausmaß an Grausamkeiten in seiner existenziell ver- und zerstörenden Wucht nahezu zwingend auch die grundsätzliche Frage nach dem Bösen im Menschen und in der Welt. Doch was ist das Böse? Und wie kann man ihm begegnen?

Diesen Fragen widmet sich der israelische Politikwissenschaftler Uriel Abulof in seinem bemerkenswerten Beitrag "Das Böse. Ein Blick in den Abgrund". Abulof beschreibt noch einmal eindringlich die Qualität des Bösen, die an diesem verheerenden Tag deutlich wurde und analysiert seine traumatischen Folgen für die Israelis. Vor diesem Hintergrund diskutiert er die Qualität des "Bösen" nicht nur im Blick auf die Hamas, sondern auch im Blick auf das poltische Handeln der Palästinenser - und Israelis, wobei er vor allem die Person Netanyahus besonders in den Mittelpunkt seiner abschließenden Überlegungen stellt.

Abulofs gleichermaßen ungewöhnlicher wie anregender Essay erschien zuerst am 15. November 2023 auf dem sehr empfehlenswerten Schweizer Portal "Geschichte der Gegenwart" (GdG; siehe die Anzeige weiter unten) und ist hier als ONLINE-EXTRA Nr. 342 mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie der GdG nachfolgend zu lesen.

COMPASS dankt dem Autor sowie GdG ganz herzlich für die unkomplizierte Genehmigung zur Wiederveröffentlichung an dieser Stelle.

© 2023 Copyright beim Autor und GdG
online für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 342


Das Böse. Ein Blick in den Abgrund


URIEL ABULOF



Das Böse. Ein beunruhigendes Wort, das die meisten Akademiker:innen selten verwenden, es sei denn, sie studieren, wie andere Menschen es verwenden. Wir fürchten Nietzsches Abgrund: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Es ist unbestritten, dass das Denken in Begriffen von Gut und Böse eine Voraussetzung, oft ein Vorspiel dafür ist, um böse zu werden. Doch gerade wegen dieses Teufelskreises und seiner schrecklichen Auswirkungen sollten wir lange und sorgfältig in den Abgrund blicken. Es gibt Menschen, die so denken und sich so verhalten, dass sie moralische Bezeichnung „böse“ verdienen, und wir sollten sie als solche bekämpfen. Das Folgende ist mein hoffnungsvoller Versuch, dem Bösen ins Auge zu schauen und es zu verstehen, wobei ich mich auf das Massaker vom 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg konzentriere.

Die Auseinandersetzung mit dem Bösen ist in der jüdischen Geschichte nichts Neues. Wir haben das schon einmal erlebt. In einem meiner Bücher analysiere ich die Existenzängste der israelischen Juden im späten 19. Jahrhundert. Doch noch nie zuvor habe ich gesehen, dass der öffentliche Diskurs in Israel so sehr von Angst und von Analogien zum Holocaust durchdrungen war, und das aus guten Gründen: Das Massaker am 7. Oktober war der blutigste Tag für Jüd:innen seit dem Holocaust.

Die Analogie zum Holocaust bringt Kommentator:innen gelegentlich dazu, Terroristen als ,menschliche Tiere‘ oder ,menschenähnliche Tiere‘ zu bezeichnen. Aber der Vergleich mit dem Nationalsozialismus ist nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Hamas-Täter, wie die Nazis, keine Menschen wären, sondern weil sie es, wie diese, gerade sind. Der Holocaust wie auch das Massaker der Hamas offenbaren die dunkelsten, ja bösartigsten Seiten des Menschseins; nichtmenschliche Tiere würden nicht aus Überzeugung massakrieren. In gewisser Hinsicht sind wir alle menschliche Tiere und es ist der „menschliche“, nicht der „tierische“ Teil, der die Gräueltaten antreibt. Gerade weil diese Taten menschlich sind, können und sollten wir sie besser verstehen, anprangern und bekämpfen.

Leviathan im Sand


Auf den Tag genau fünfzig Jahre vor dem 7. Oktober 2023, am zweiten Tag des Jom-Kippur-Krieges, verkündete Verteidigungsminister Mosche Dajan: „Das ist die Zerstörung des Dritten Tempels.“ Mit dem Ausdruck „Tempel“ meinte er den Staat Israel. Dajan hatte Unrecht, aber fünfzig Jahre später erschien seine Verkündigung des Untergangs prophetisch. Viele Israelis haben jetzt das Gefühl, ihre Heimat verloren zu haben – und dafür kämpfen zu müssen, sie wieder aufzubauen.

Der gegenwärtige kollektive Schock ist größer als der von 1973. Damals fügten die riesigen ägyptischen und syrischen Armeen aufgrund eines nachrichtendienstlichen Fehlers den IDF-Kräften schwere Verluste zu, nach denen sie sich jedoch schnell wieder aufrappeln konnten. Israel selbst wurde nicht überfallen. Am 7. Oktober 2023 wurden die Israelis dagegen Zeugen, wie ihre südlichen Militärposten, Gemeinden und Kibbuzim überrannt wurden, und zwar nicht von staatlichen Armeen, sondern von einer Miliz und einem Mob, die die angeblich unüberwindbare Barriere überquerten, dann die zur Bewachung verbliebenen Soldat:innen töteten und schliesslich mehr als 1300 Zivilist:innen, junge und alte Männer und Frauen, sogar Kinder und Babys abschlachteten und Hunderte folterten und entführten. Familien mit kleinen Kindern, junge Leute, die ein Musikfestival feierten, ausländische Studierende und Arbeiter:innen wurden vergewaltigt, lebendig verbrannt, enthauptet, gedemütigt und vorgeführt. Die Hamas verschonte niemanden.

Während die Hamas marodierte, blieben die verzweifelten Hilferufe der Opfer von den IDF und anderen staatlichen Institutionen stundenlang weitgehend unbeantwortet. Der Staat, diese moderne Verheißung eines allmächtigen „Leviathans“ (Hobbes), dessen Hauptaufgabe, ja Existenzberechtigung darin besteht, seine Bürger:innen zu schützen, verschwand, oder besser gesagt, er lief über und hinterließ ein erschütterndes kollektives Gefühl des Verrats und der Verlassenheit.

Mit Einbruch des staatlichen Schutzschirms schien die eigentliche Fassade der Zivilisation – gegenseitige Hilfe, Respekt und Vertrauen zwischen den Menschen – weggefallen zu sein, und wir fühlten uns ausgeliefert, verletzlich und allein. Es war, als ob das 75 Jahre alte Israel, diese „High-Tech-Nation“, sich in die Reihe der failed states eingereiht hätte, als ob seine zentralen Institutionen, die für den Schutz der eigenen Bevölkerung zuständig sind, vor unseren Augen zusammengebrochen wären. Wir sahen zu, wie der Leviathan im Sand versank.

Woher kommt das Böse?

Der zerschlagene Leviathan hat ein Zeichen im Sand hinterlassen – ein Fragezeichen: Wie sollen wir mit dem Bösen umgehen? Wie können wir es bekämpfen und besiegen?

Zunächst sollten wir es definieren und identifizieren. Wir sollten bestimmen, was „das Böse“ bedeutet, und dann seine Vertreter und deren Ermöglicher aufspüren. Meine Arbeitsdefinition des Bösen ist einfach: Das Böse behandelt Menschen wie Dinge. Das Böse bedeutet, dass man Menschen als Hindernisse ansieht und sich ihnen gegenüber so verhält, dass sie beseitigt werden müssen, oder als Mittel, die man zu seinem Nutzen oder Vergnügen (miss)braucht.

Wir alle bergen das Böse in uns. Diese „Banalität des Bösen“ treibt manche zu resignativem Nihilismus: Wir sind alle schlecht, nichts ist wichtig. Aber es sollte uns in die entgegengesetzte Richtung motivieren, nämlich uns zu engagieren, die Dinge zu durchdenken, unser eigenes Gewissen zu entwickeln, individuell und öffentlich – sowie entsprechend zu handeln.

Beim Umgang mit dem Bösen sollten wir vorsichtig sein und uns an Nietzsches Abgrund erinnern: Je mehr wir in Gegensätzen von Gut und Böse, Gott und Satan denken, desto eher werden wir selbst böse. Wenn der Kampf gegen Monster bedeutet, eines zu werden, wenn der Sieg über das Böse bedeutet, böse zu werden, dann haben wir umsonst gekämpft.

Wenn man die Moral durch ein nicht-binäres Prisma betrachtet, wird ein Paradoxon deutlich: Ein Haupthindernis für den Sieg über das Böse ist der Glaube, dass es existiert – und dass man es besiegen kann. Präsident Biden verkündete, die Hamas sei „das reine Böse“. Er irrt sich. Wie reine Rechtschaffenheit oder Allgütigkeit ist auch das reine Böse ein metaphysisches Konstrukt. Echte menschliche Wesen sind nicht „das“ Böse, und daher kann das Böse im Gegensatz zu sterblichen Menschen niemals getötet oder besiegt werden. Böse Handlungen dagegen gab und gibt es und es liegt an uns, diese zu bekämpfen. Doch wie?

Verletzte Menschen verletzen. Einige Israelis, die in dem Massaker vom 7. Oktober den Holocaust sehen, wollen den Palästinenser:innen dasselbe antun. Letztere, die in Israels Reaktion die Nakba sehen, wünschen sich vielleicht dasselbe von ihrem Todfeind. Beide Gemeinschaften sehen sich oft als rechtschaffene Opfer.

Der beste Weg aus diesem Teufelskreis wäre das Beenden der gegenseitigen Verletzungen. Ob aus religiöser Überzeugung, säkularem, liberalem Glauben oder schlichter Fantasie – es hat einen großen Reiz, das Böse zu besänftigen. Aber wenn es um Menschen geht, die unschuldige Menschen absichtlich verletzen, die sich weigern, zu ihren Entscheidungen und Handlungen zu stehen, die sich weigern zu lernen, die sich weigern, sich zu bessern – dann lässt sich das Böse nicht beschwichtigen, geschweige denn besänftigen. Es wird nur noch schlimmer werden. Wir sollten bereit sein, die Menschen aufzugeben, die das Gute in ihrer eigenen Menschlichkeit aufgegeben haben.

Zugleich dürfen wir unsere eigene Menschlichkeit nicht aufgeben. So schwer es uns auch fallen mag, wir sollten uns immer aktiv dafür entscheiden, Menschen – wie böse sie auch sein mögen – als Menschen zu behandeln und ihnen zum Beispiel zu helfen, wenn sie verletzt sind und keinen Schaden mehr anrichten können. Der beste Weg, um nicht in den Abgrund zu stürzen, ist es, den Horizont nie aus den Augen zu verlieren.



GESCHICHTE DER GEGENWART



Geschichte der Gegenwart ist ein Online-Magazin für Beiträge aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive – ohne Fachjargon und Fussnoten, aber mit dem Anspruch, weiterzudenken.

Alle auf Geschichte der Gegenwart veröffentlichten Beiträge haben in der einen oder anderen Form mit Gegenwart zu tun. Sie greifen Fragen auf, die aktuell im politischen Raum präsent sind, intervenieren in öffentliche Debatten oder thematisieren Probleme, die eher im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, aber dennoch Relevanz haben.

Geschichte der Gegenwart



Schlachthaus 23

Das Böse wird oft von Ideen angetrieben, in diesem Fall von einer Ideologie. Die Hamas-Charta (1988) ist diesbezüglich ein aufschlussreiches Dokument. Der Sechstagekrieg 1967 wird kaum erwähnt, die Gründung Israels 1948 ebenso wenig. Der Kampf ist ewig, universell und richtet sich direkt gegen „Israel, das Judentum und die Juden, die den Islam und das muslimische Volk herausfordern“ (Artikel 28). Das Dokument ist nicht nur zutiefst antisemitisch – es richtet sich gegen „die kriegslüsternen Juden“ (Artikel 32) und stellt klar: „Unser Kampf gegen die Juden ist sehr groß und sehr ernst“ (Einleitung). Die Charta offenbart auch völkermörderische Intentionen und verspricht den Juden einen Dschihad, da der Tag des Jüngsten Gerichts „nicht kommen wird, bevor die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten“ (Artikel 7). Praktisch handelt es sich um eine Völkermordabsicht durch die angestrebte Beseitigung des jüdischen Staates, denn „Israel wird entstehen und weiter bestehen, bis der Islam es abschafft“ (Einleitung). Diese Doktrin wird durch eine 35-jährige Indoktrination untermauert.

Wichtig ist, dass das Böse auch durch Politik und Psychologie angetrieben wird. Die Hamas hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, pragmatische realpolitische Berechnungen anzustellen und sich an wechselnde Machtverhältnisse und Interessen anzupassen. Während sie beispielsweise immer noch an ihrer Charta von 1988 festhält, gab sie 2017 ein „allgemeines Dokument über Grundsätze und Politik“ heraus, das keinen ausdrücklichen Antisemitismus enthält, sich auf Palästina konzentriert und die Bereitschaft zu einem palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 als Übergangsphase andeutet, bis der bewaffnete Widerstand gegen die Zionisten, die „eine Gefahr für die Menschheit“ sind, ganz Palästina, das ausschließlich den Arabern gehöre, befreit.

Im Gegensatz zur PLO, die ihre Charta aktiv und formell geändert hat, hat die Hamas mit ihrem Dokument von 2017 die ursprüngliche Charta nicht geändert, wie die Hamas-Führung klarstellte und demonstrierte. Es scheint eher ein Rebranding zu sein, das hauptsächlich die arabische Welt im Blick hat. Während die Vernichtung des Staates Israel in den Vordergrund gestellt wird, ist der damit verbundene Völkermord eindeutig impliziert.

Doch der Radikalismus lauert nicht nur bei den Palästinenser:innen. Er könnte sich durch die Verherrlichung eines intellektuellen Konstrukts manifestieren, wie man das bei einigen Akademiker:innen beobachten kann. Oder es könnte auch das Opfern des eigenen Sohnes sein, wie im Fall von Tzvika Mor, dessen Sohn aktuell von der Hamas als Geisel gehalten wird. In einem Fernsehinterview verkündete Mor: „Wenn ich zwischen der Liebe zu meinem Sohn und der Liebe zur Nation wählen muss, wähle ich die Liebe zur Nation. Ich habe meinen Teil getan. Ich habe eine Familie großgezogen, acht Kinder. Und ich bin bereit, meinen Sohn aufzugeben, ich habe mich mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet […] wenn das Opfer gebracht werden muss, werden wir das Opfer bringen […] wir müssen hier Kinder großziehen, die bereit sind für das, was dieses Land von ihnen verlangt […].“ So hart und grausam das auch klingen mag, sollten wir uns daran erinnern, dass die monotheistischen Zivilisationen genau so entstanden sind; wenn man Religionen wörtlich auslegt, kann man alle möglichen Grausamkeiten legitimieren.

Das Böse der Hamas ist aber wie jedes andere Böse das Werk von Menschen. Im Gazastreifen leben über zwei Millionen Palästinenser:innen. Etwa dreitausend Hamas-Terroristen sind an jenem Samstag nach Israel eingedrungen. Das sind 0,15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese sollten ausfindig gemacht, isoliert und eliminiert werden, ebenso wie die Hamas-Chefs, die ihre völkermörderischen Ideen verbreiten, diejenigen, die den Angriff befohlen haben, und die Mitglieder der Hamas (und später der Mafia), die sich an den Gräueltaten beteiligt haben.

Aber was ist mit dem Rest? Was ist mit einem Hamas-Terroristen, der erkannte, dass sein Komplize gerade ein junges Mädchen ermordet hatte, und murmelte: „Gott möge dir vergeben, was wir tun, ist falsch“? Was ist mit palästinensischen Arbeitern in Israel, die die Hamas darüber informierten, wie sie ihre jüdischen Arbeitgeber in den Kibbuzim am besten umbringen können? Was ist mit einem Hamas-Polizeibeamten, der sich nicht an dem Gemetzel beteiligte, aber sich freute, als er davon erfuhr? Was ist mit den älteren Frauen, die beim Anblick der verstümmelten Leichen „Gott ist groß“ riefen? Und was ist mit allen anderen Bewohner:innen des Gaza-Streifens, die unter dem Krieg leiden?

Und was ist mit einem politischen Anführer, der seine eigenen Leute instrumentalisiert, um seine Macht zu erlangen und zu erhalten? Was ist mit den Menschen, die ihn und die Politik ihres eigenen Staates unterstützen, die die Gewalt tatsächlich fördert?

Der Kampf gegen das Böse erfordert eine sorgfältige Unterscheidung entlang des moralischen Spektrums sowie die schmerzliche Erkenntnis, dass keine Seite ein Monopol auf das Böse oder das Gute hat. Er erfordert auch, dass wir die andere Gefahr des moralischen Purismus anerkennen, nämlich die Forderung, dass die Koalition gegen das Böse rechtschaffen sein muss. Das kann sie nicht sein. Letztlich erfordert der Sieg über das Böse sowohl eine Vision des Guten als auch – ob man will oder nicht – das geringere Übel, sei es durch den Krieg selbst (die Hamas wird sich nicht friedlich auflösen) oder durch eine Koalition mit Übeltätern, die umkehren und sich bessern können und wollen.



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Netanjahus Politik der Spaltung

Das Böse beginnt und endet nicht mit der Hamas. Den bewussten und umstrittenen Missbrauch von Menschen als Sachen finden wir auch bei den Israelis, nicht zuletzt unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der 7. Oktober kann als Konsequenz aus Netanjahus Gesamtstrategie des Teilens und Herrschens seit Mitte der 1990er Jahre verstanden werden.

Netanjahu hat diese Doppelstrategie während seiner gesamten politischen Laufbahn vorangetrieben und verbreitet. Hierbei diente das Herrschen der Aufrechterhaltung seiner persönlichen Macht; das Teilen richtete sich gegen alle: die USA, die arabische Welt, die Palästinenser:innen, die Israelis, seine eigene Partei und sogar seinen engsten Kreis.

Obwohl die USA die wichtigsten Verbündeten Israels sind, bemühte sich Netanjahu, die Spaltung innerhalb der USA zu vertiefen, indem er den Kongress gegen die verschiedenen Präsidenten und die eine Partei gegen die andere auszuspielen versuchte. Größere Spaltungsbemühungen richteten sich auf Israels Nachbarn, indem er einige arabischen Politiker dazu dazu brachte, sich von den Palästinenser:innen stärker zu distanzieren.

Die Palästinenser:innen wurden noch stärker ins Visier genommen, indem sie sich auf die Radikalen stürzten. Netanjahu verfolgte das, was er „Differenzierung“ (Hebräisch: bidul) nannte. Ziel war es, die Chancen der Palästinenser:innen auf einen eigenen Staat zu zerstören, indem man die Israelis davon überzeugte, dass „es keinen palästinensischen Partner für den Frieden“ gebe. Die Mittel: Abtrennung des Westjordanlands vom Gazastreifen und Stärkung der Hamas, um die gemäßigtere Palästinensische Autonomiebehörde zu untergraben.

Sicherlich hat Israel bereits in den 1980er Jahren die Saat für die Spaltungsstrategie gegenüber den Palästinenser:innen gelegt. Aber die Logik war das Gegenteil von Netanjahus Radikalisierungsbestreben. Die islamistischen Elemente schienen damals noch gemäßigter zu sein und Israel hatte das Entstehen der Hamas als Gegengewicht zur PLO, die militanter und extremer erschien, wirksam unterstützt.

Während die meisten israelischen Führer diesen tödlichen Fehler während der ersten Intifada erkannten und stattdessen gemäßigtere Palästinenser für Verhandlungen suchten, sah Netanjahu im Fanatismus der Hamas einen Vorteil, den es zu nutzen galt. In seiner arroganten und verlogenen Rhetorik versprach er wiederholt, die Hamas zu zerschlagen, tatsächlich aber unterstützte er sie bei der Finanzierung, der Freilassung von Aktivisten und der Zurückweisung der Verhandlungsaufrufe der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Am 11. März 2019 erläuterte Netanjahu in einer Diskussionsrunde der Likud-Partei seine Doktrin: „Wer die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln will, muss die Unterstützung der Hamas und den Geldtransfer an die Hamas unterstützen. Das ist Teil unserer Strategie.“ Zwei Monate später sagte sein Vertrauter, General Gershon Hacohen: „Wir sollten die Wahrheit sagen: Netanjahus Strategie ist es, die Zweistaatenlösung zu verhindern, deshalb hat er die Hamas zu seinem engsten Partner gemacht. Offen ist die Hamas ein Feind, verdeckt ein Verbündeter.“

Dieses Doppelspiel wurde weitgehend von Netanjahus Verbündeten unter den Siedler:innen im Westjordanland geteilt. Ihre expansionistischen Vorhaben und ihre Aktionen haben die Palästinenser:innen seit Generationen radikalisiert und zunehmend militärische Ressourcen verschlungen. Ihre Absichten sind auf der Plattform der aktuellen Regierung kristallklar, die mit einem feierlichen Versprechen beginnt, das das Hamas-Dokument von 2017 widerspiegelt: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, dem Negev, dem Golan, Judäa und Samaria – fördern und ausbauen.“

In gewisser Weise unterstützten sich Netanjahu und die Hamas seit den frühen 1990er Jahren gegenseitig. Die Selbstmordattentate der Hamas haben das Osloer Abkommen von 1993 untergraben, Israelis und Palästinenser gegeneinander aufgebracht und schliesslich auch zur Ermordung von Premierminister Jitzchak Rabin durch einen rechtsextremen israelischen Studenten (November 1995) geführt. 1996 trug die Hamas mit einer verheerenden Serie von Anschlägen wesentlich zum Wahlsieg Netanjahus über Rabins Nachfolger Schimon Peres bei. Letztendlich war das inoffizielle Bündnis zwischen Netanjahu und der Hamas eines der erfolgreichsten und menschlich katastrophalsten politischen Unternehmen im Nahen Osten. Durch eine Wendung des Schicksals oder vielmehr durch ihre schicksalhafte Verstrickung könnte die Hamas, die Netanjahu ans Ruder gebracht hat, auch sein Untergang sein, und hoffentlich auch ihr eigener Untergang.

Gegenüber den Israelis hat Netanjahu nach und nach einen Personenkult geschaffen, der oft als Bibismus bezeichnet wird. Eines seiner Markenzeichen ist die Strategie des Teilens und Herrschens, bei der Netanjahu und seine rot-rechten Bibisten unermüdlich verschiedene Gruppen gegeneinander aufhetzen. Dabei bezeichnen sie diejenigen, die sich Netanjahu widersetzen, in der Regel als verräterische Linke, denen Jüdinnen, Juden und das Judentum völlig gleichgültig seien und die bereitwillig den jüdischen Staat verraten würden.

In den letzten zehn Monaten haben Netanjahu und seine Regierung den größten Teil ihrer Bemühungen darauf verwendet, die israelische Demokratie zu untergraben, indem sie staatliche Mittel an ultrareligiöse und ultranationalistische Anhänger umgeleitet und alle Warnungen vor den negativen Auswirkungen eines solchen Vorgehens, nicht zuletzt für die IDF, ignoriert haben.

Auch unter den aktuellen Bedingungen hält Netanjahu an seiner radikalisierenden Strategie des Teilens und Herrschens fest und wird dabei von Politiker:innen unterstützt, die sich nicht trauen, einen anderen Weg zu gehen. Seine Kompliz:innen (z. B. der Büroleiter seiner Frau) verbreiten weiterhin Falsch- und Desinformationen, die verschiedene Verschwörungstheorien verstärken. Weder Netanjahu noch seine Mitstreiter:innen haben Verantwortung für die Katastrophe vom 7. Oktober übernommen oder sich entschuldigt.

Rabin hingegen trat im Oktober 1994 vor die Nation und übernahm die volle Verantwortung für den gescheiterten Versuch, den von der Hamas entführten Soldaten Nachshon Wachsman zu retten. Ein Jahr später wurde Rabin im Anschluss an eine von Netanjahu angeführte Aufwiegelungskampagne ermordet. 1996 wurde Netanjahu Premierminister.

Straw Dogs

Das Böse, ob mörderisch wie die Hamas oder toxisch wie Netanjahus Politik, braucht nicht nur glühende Anhänger:innen. Es braucht auch nützliche Idioten und, was am heimtückischsten ist, hoffnungsvolle Menschen. Böse Anführer widersetzen sich unserer grundlegenden Menschlichkeit. Wir wollen so sehr glauben, dass sie irgendwie noch gut und ehrlich sind oder dass sie sich bessern können, dass wir ihnen immer wieder eine neue Chance geben.

In gewisser Weise hätte Netanjahu die Hamas besser verstehen müssen als die meisten anderen, denn in einem wichtigen Aspekt verhalten die Terrororganisation und der Ministerpräsident sich ähnlich: Sie behandeln Menschen wie Dinge und missbrauchen die Hoffnungen anderer, um weiterhin Schaden anzurichten, während sie jedem anderen die Schuld dafür geben. Netanjahu glaubt nur an sich selbst, wählt sich Unterstützer mit ähnlichen Neigungen und nimmt keine Rücksicht auf andere Menschen. In Friedenszeiten ist das schon schlimm genug, in Kriegszeiten kann es katastrophal sein. Um dies besser zu verstehen, können zwei Bilder helfen.

Auf dem ersten Foto (hier), das bei der Landung des amerikanischen Präsidenten Biden in Israel am 18.10.2023 aufgenommen wurde, hält Netanjahu den israelischen Staatspräsidenten Jitzchak Herzog davon ab, dem herannahenden Biden (der nicht auf dem Bild ist) die Hand zu reichen und ihn zu begrüßen.

Auf dem zweiten Foto (hier), das zwei Tage später aufgenommen wurde, sah Netanjahus Geiselbeauftragter Gal Hirsch, ein realitätsferner und größenwahnsinniger Bibist, die Gelegenheit für ein Foto, packte die beiden freigelassenen Geiseln Natalie und Judith Raanan fest an den Händen und verschwand einen Moment später. Hirsch hatte aber nichts unternommen, um die Freilassung der beiden aus der Hamas-Gefangenschaft zu ermöglichen, sondern belehrte die europäischen Diplomaten lieber über die vermeintliche Schädlichkeit ihrer Unterstützung des Oslo-Friedensprozesses. Beide Politiker scheinen Menschen als bloße Dinge zu betrachten, als Hindernisse, die es wegzuschieben gilt, oder als Instrumente, mit denen sie ihre größenwahnsinnigen Ambitionen durchsetzen können.

Netanjahus Lieblingsfilm ist bekanntlich Sam Peckinpahs Straw Dogs ("Wer Gewalt sät") von 1971. Der Titel ist eine Anspielung auf den klassischen chinesischen Text Tao Te Ching, in dem alle Menschen als „Strohhunde“ betrachtet werden, die keinen inneren Wert besitzen. Im Film erkennt der Protagonist David (Dustin Hoffman), ein sanftmütiger Intellektueller, dass Menschlichkeit nur eine Fassade ist, hinter der Eifersucht, Grausamkeit und Verrat lauern. Als die Demütigungen zu weit gehen, verteidigt er seine vermeintliche Ehre mit blutiger Gewalt. Ich kann mir vorstellen, dass Netanjahus Lieblingsfilm jetzt zum Leben erwacht. Zeit, der Welt zu zeigen, was für ein harter Mann er ist. Doch bevor Netanjahu sein Volk noch tiefer in den Abgrund stürzt, sollte er sich die Schlussszene seines Lieblingsfilms genau ansehen, als David triumphierend aus dem Gemetzel auftaucht, nur um festzustellen, dass er den Weg nach Hause nicht mehr finden kann.

Und doch müssen wir uns immer wieder vor Augen halten: Netanjahu hat Israel nicht durch einen gewaltsamen Staatsstreich übernommen, sondern durch Wahlen – mehrere demokratische Wahlen. Wir Israelis sollten alle in uns gehen, um zu verstehen, wie dies passiert ist. Wir sollten unser Bestes tun, um fortan bessere Entscheidungen zu treffen. Alles in allem sieht es so aus, als ob Netanjahu glaubt, dass Blutvergießen gut ist, um an der Macht zu bleiben. Erschreckenderweise könnte er Recht behalten.



Der Autor

URIEL ABULOF

Uriel Abulof ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tel-Aviv und lehrt an der Cornell University. Er beschäftigt sich mit der Politik der Angst, des Glücks und der Hoffnung, mit Legitimation, sozialen Bewegungen, Nationalismus und ethnischen Konflikten. Er hat zahlreiche Publikationen über den Nahen Osten und Israel verfasst und wurde mit dem Young Scholar Award in Israel Studies ausgezeichnet. Abulofs Forschung ist interdisziplinär ausgerichtet. Indem er die Einzigartigkeit des Menschen in den Vordergrund stellt, führt Abulof den politischen Existenzialismus in die Sozialwissenschaften ein. Abulof hat mehrere Bücher und Sammelbände sowie mehr als sechzig wissenschaftliche Artikel und zahlreiche Essays in renommierten Fachzeitschriften veröffentlich. Zu seinen jüngsten Büchern gehören The Mortality and Morality of Nations (Cambridge University Press, 2015) und Living on the Edge: The Existential Uncertainty of Zionism (Haifa University Press, 2015), Self-Determination: A Double-Edged Concept (Routledge, 2016) und Communication, Legitimation and Morality in Modern Politics (Routledge, 2017).



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