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ONLINE-EXTRA Nr. 58

Oktober 2007

"Warum gerade Israel?", fragen die Mitschüler der siebzehnjährigen Petra, als diese im Rahmen eines Schüleraustauschs nach Israel fahren möchte. Sie aber tritt eine Reise an, die ungeahnte Auswirkungen auf ihr Leben haben wird. In ihrem Buch "Warum gerade Israel ... ?!" erzählt Petra Weidauer von diesen Auswirkungen.
 
Die Beziehung zur Mutter und vor allem zur gleichaltrigen Tochter der Gastfamilie sind vom ersten Augenblick voller Herzlichkeit.  Der Vater, der fast seine gesamte Familie im Holocaust verlor, tut sich schwer, den deutschen Gast zu akzeptieren. Doch die Hürden der Vergangenheit werden überwunden. Das Buch ist eine Liebeserklärung an Israel und seine Menschen und ein Plädoyer für Toleranz und freundschaftliches Miteinander. 

Im ersten Kapitel des Buches, das COMPASS nachfolgend online exklusiv präsentiert, schildert die Autorin ihre ersten Erfahrungen und Eindrücke in ihrer israelischen Gastfamilie Goldberg und erzählt deren Geschichte. 


COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Wiedergabe ihres Textes an dieser Stelle!

© 2007 Copyright bei Autorin und Verlag
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 58


Warum gerade Israel ... ?!

Kapitel 1: Familie Goldberg


PETRA WEIDAUER

Viele Monate waren meine Schulkameraden und ich auf diesen Moment und die folgenden 12 Tage vorbereitet worden, doch nichts deutete bei unserer Ankunft in Israel  darauf hin, dass diese Reise so einschneidende Konsequenzen für mich und mein ganzes weiteres Leben haben würde. Ich war 17 Jahre alt und besuchte die 11. Klasse der Kollegschule in Düsseldorf.

Schüleraustauschprogramme sind nichts Ungewöhnliches – die Kollegschule in Düsseldorf jedoch war die erste Schule, die einen solchen Austausch mit Schülern einer entsprechenden Einrichtung in Haifa/Israel in die Wege leitete. Kontakte zwischen den beiden Stadtverwaltungen gab es schon seit vielen Jahren,  und 1975 wurde zwischen den beiden Städten eine offizielle Partnerschaft ins Leben gerufen. Ich wusste über diese Organisation recht gut Bescheid, denn mein Vater war einer der Initiatoren der städtepartnerschaftlichen Verbindung zwischen Haifa und Düsseldorf.

Die Teilnehmerzahl für den Jugendaustausch war begrenzt, aber ich gehörte dazu, und ich erinnere mich gut an den Gesichtsausdruck meiner Freunde, als ich ihnen erzählte, dass ich nach Israel fliegen würde. „Ausgerechnet Israel….“!  Stand ihnen im Gesicht geschrieben.

Nie werde ich den Moment vergessen, als wir aufgeregt schnatternd über die Gangway das Flugzeug  in Tel Aviv verließen.

Mit einem Bus fuhren wir entlang der alten Küstenstraße nach Haifa, der Busfahrer hatte das Radio angestellt, fremde Klänge ertönten und wir wurden immer aufgeregter. Von der Landschaft sahen wir wegen der Dunkelheit nichts außer ein paar Palmen, die die Straße säumten. Das Meer geleitete uns den ganzen Weg wie ein treuer Begleiter bis zum Ziel, der Yronit Alef Schule in Haifa!! Ich hatte von meiner Gastfamilie in Foto bekommen: Hana, im gleichen Alter wie ich und meine Austauschpartnerin, war die Tochter von Dalia und Me’ir Goldberg.

Als wir im Hause der Familie Goldberg ankamen, war es dunkle Nacht und ich war todmüde aber doch noch zu aufgeregt um zu schlafen. Dalia, Hanas Mutter kochte uns Tee und so fand ich mich am Küchentisch der Familie wieder. Dalia sprach nur gebrochen  Englisch und ein paar Brocken Jiddisch, aber Hana übersetzte hin und her und es entstand ein erstes Gespräch. Ich erzählte von meiner Familie, den Eltern und der jüngeren Schwester, über die vielen Reisen, die mein Vater schon nach Israel unternommen hatte und ich fühlte mich wohl im Schoße dieser mir noch fremden Menschen. Ich wusste, dass Hanas Vater, Me’ir, auch im Hause war und vermutlich schon schlief, darum verhielten wir uns leise und irgendwann gingen dann auch wir schlafen. Dalia fragte mich, ob ich alleine im Wohnzimmer oder aber mit Hana in ihrem Zimmer schlafen wollte. Ich entschied mich für Hanas Zimmer und schnell wurden eine weitere Matratze, Decken und Kissen geholt. Flüsternd unterhielten wir uns noch ein wenig bevor ich dann endlich in einen kurzen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen weckte uns Dalia mit durchdringender Stimme. Sie musste uns mehrmals ermahnen aufzustehen, die Nacht war doch zu kurz gewesen. Ich war gespannt auf das, was mich an diesem ersten Tag in Israel erwarten würde. Nach einem kurzen  Frühstück eilten Hana und ich zum Treffpunkt unserer Gruppe. Komisch war, dass  Hanas Vater Me’ir auch nicht beim Frühstück erschienen war. Aber ich war viel zu aufgeregt um darüber nachzudenken.

Auf der Straße blendete mich die strahlende Sonne und eine starke Hitzewelle kam uns entgegen! Es war Dezember, in Deutschland lag bereits der erste Schnee und ich war glücklich über die wärmende Sonne. Mein Blick fiel auf einige sehr hohe Palmen, die vor dem Haus standen und im Wind rauschten. Fremdartige Vögel saßen auf den Balkonen der umliegenden Häuser und begrüßten den neuen Tag. Deutlich war das Rauschen des Meeres zu hören, das nur eine Häuserreihe entfernt war. Zu gerne wäre ich hingegangen, aber Dalia schob uns unerbittlich zu dem kleinen Parkplatz neben dem Haus und fuhr uns dann die wenigen Hundert Meter zur Schule, die als Treffpunkt für unsere Delegation diente.

Auf dem Parkplatz vor der Schule wartete schon ein Bus auf uns!  Es gab ein großes Hallo, als hätten wir uns seit Wochen nicht mehr gesehen, und jeder versuchte, jedem die neuen Eindrücke zu erzählen.

An diesem ersten Tag unseres Aufenthaltes sollten wir die Stadt Haifa kennen lernen, die ja für die nächsten 12 Tage unser zu Hause sein würde. Unser Fremdenführer war ein attraktiver junger Amerikaner, der auch ein ganz passables Deutsch sprach, da seine Großmutter aus Berlin kam. Sehr anschaulich, spannend und witzig begleitete er uns durch den Tag! Wir wurden nicht müde, ihm zu zuhören.

Haifa ist nach Tel Aviv und Jerusalem die drittgrößte Stadt Israels. Als bedeutendster Hafen des Landes und wichtigstes Zentrum der Industrie  hat  sich die Stadt einen Namen in der Welt gemacht. Trotz aller modernen Errungenschaften konnte sich die Stadt ein besonderes Flair bewahren. Die geographische Lage, zwischen Karmel-Gebirge und dem Mittelmeer in der Sharon-Ebene gelegen, verschafft der Stadt ein gemäßigtes und gesundes Klima.

In der Bibel ist Haifa nicht erwähnt, wohl aber der Ort, an dem der „Karmel das Meer berührt.“ Die Juden leiten Haifa von „Hof Yafe“ (schöne Küste) oder „Ha Yafe“ (die Schöne) ab. Einmal lauschte ich einer Gruppe amerikanischer Touristen, die beim Anblick der Stadt vom Karmel-Berg aus verzückt riefen: „It looks like little San Francisco!“

Aber uns erschien die Stadt einzigartig zu sein mit ihrem Wahrzeichen, dem Bahaitempel, dessen goldene Kuppel jeden Besucher in seinen Bann zieht. Der Schrein beherbergt das Mausoleum Ali Mohammeds, ein Perser, der sich 1844 zum „Tor zu Gott“ ernannte. Er wurde mitsamt seinen Anhängern von der persischen Regierung verfolgt und 1850 erschossen.  Seine Glaubensbrüder brachten seine Gebeine 1909 nach Haifa, und 1953 wurde der Tempel vollendet, in dem Ali Mohammed und seine Anhänger ihre letzte Ruhestätte fanden. Eine Oase der Ruhe und Besinnlichkeit inmitten des Großstadtlärms ist der zu der Anlage gehörende Garten, in dem ich oft gesessen und die beschauliche Atmosphäre genossen habe.

Von Bat Galim, dem Viertel, in dem Familie Goldberg zu Hause ist,  sind  Schrein und Parkanlage zu sehen, und im Sommer, wenn die Luftfeuchtigkeit fast die Grenze des Erträglichen erreicht und der Dunst der Großstadt allem seine Haube überstülpt, erscheint die goldene Kuppel wie hinter milchigem Glas, um dann zum Sonnenuntergang wie frisch poliert zu erstrahlen.

Einen weiteren Ort mit besonderer Atmosphäre  hat die Gesellschaft der Templer in Haifa geschaffen, als sie 1869 in die Stadt kamen, nachdem sie 8 Jahre zuvor ihre Gemeinschaft in Württemberg gegründet hatten. Ihr Begründer, der Theologe Christoph Hoffman (1815-1885)  rief die Gläubigen auf, ihr Leben zu korrigieren und sich auf die grundlegenden Werte des Christentums zu berufen. Er ermahnte sie zu einem neuen Volk, dem „Volk Gottes“ zu werden und auf die Rückkehr des Messias’ zu warten. Die Mitglieder waren angehalten, das Land Israels auf die Rückkehr des Messias im heiligen Land vorzubereiten, in dem sie die Bewohner von den Werten des Christentums überzeugen und mit gutem Beispiel voran gehen sollten. Ein paar Tausend Menschen unterstützten Hoffman und bis 1907 gründeten die Templer sieben Siedlungen an verschiedenen Orten im Land.

Die Templer spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau des Landes, in der Landwirtschaft, dem Transportwesen, der Wirtschaft und der Industrie. In den 30er Jahren jedoch identifizierte sich die Templer-Gemeinschaft mehr und mehr mit dem Nationalsozialismus in Deutschland und viele junge Männer der Glaubensgemeinschaft wurden Mitglied der NSDP. Da sie zudem Staatsbürger eines Kriegsgegners im zweiten Weltkrieg waren, verwiesen die Briten als Besatzungsmacht in Israel sie des Landes.

Der  unverwechselbare deutsche Stil in diesem Stadtteil ist noch heute deutlich zu erkennen.  


Petra Weidauer:
Warum gerade Israel ... ?!







Weimarer Schiller Presse
Frankfurt / München / Londen / New York 2007
144 S.
9,40 Euro



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Weimarer Schiller-Presse
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"Warum gerade Israel?", fragen die Mitschüler der siebzehnjährigen Petra, als diese im Rahmen eines Schüleraustauschs nach Israel fahren möchte. Sie aber tritt eine Reise an, die ungeahnte Auswirkungen auf ihr Leben haben wird.

Die Beziehung zur Mutter und vor allem zur gleichaltrigen Tochter der Gastfamilie sind vom ersten Augenblick voller Herzlichkeit.  Der Vater, der fast seine gesamte Familie im Holocaust verlor, tut sich schwer, den deutschen Gast zu akzeptieren. Doch die Hürden der Vergangenheit werden wüberwunden. Das Buch ist eine Liebeserklärung an Israel und seine Menschen und ein Plädoyer für Toleranz und freundschaftliches Miteinander.



Am späten Nachmittag dieses ersten Reisetages kamen wir wieder an der Schule an, wo uns Dalia schon erwartete. Zu meiner Überraschung fuhren wir nicht gleich nach Hause, sondern in ein nicht weit entferntes Café und Dalia bestellte uns Mädchen ein großes Eis. Sie nippte an ihrem Kaffee und wollte genau wissen, was wir an diesem Tag erlebt und gesehen hatten. Das Gespräch verlief wegen der sprachlichen Unterschiede ziemlich zähflüssig, aber das machte nichts: Ich hatte Dalia und Hana schon ganz fest in mein Herz geschlossen. Hana hatte mir im Laufe dieses ersten Tages schon im Bus und auch während der Besichtigung der Sehenswürdigkeiten mehrmals von ihrem Vater Me’ir erzählt und ich hatte das Gefühl, sie wollte mich auf die erste Begegnung mit ihm etwas vorbereiten. Er sei schon alt, sagte sie, und ich solle mir keine Sorgen machen, er würde mich bestimmt mögen, auch wenn er es nicht zeigt und es könne auch noch eine Weile dauern, bis er mit mir sprechen würde.  

Als wir zu Hause ankamen, war es schon dunkel geworden. In der Küche brannte Licht und ein wunderbarer Duft nach frischem Gemüse und gebratenen Zwiebeln empfing uns. Ich war sehr gespannt auf  Me’ir Goldberg und nun sollte ich ihn endlich kennen lernen! Dalia öffnete uns die Haustür und ihr laut in die Wohnung gerufenes „Shalom!“ kündigte unsere Ankunft an. 

Aus der Küche kam ein nicht sehr großer  Mann, mit markanten Gesichtszügen, schütterem, grauen Haar und braunen Augen. Er  trug  ein buntes Freizeithemd und Sandalen. Er begrüßte Dalia mit einem lauten Kuss und Hana rauschte an ihm vorbei in die Wohnung. Dalia wies mit der Hand auf mich und sagte: Das ist Petra, sie ist unser Gast aus Deutschland. Me’ir gab mir die Hand und ich spürte eine Distanz zwischen uns und sein Lächeln, das  noch auf seinem Gesicht zu sehen war, als er Frau und Tochter begrüßte, verschwand.

Ich war etwas irritiert, erinnerte mich aber dann an Hanas Worte, die mich gebeten hatte, ihm eventuelle Unhöflichkeiten nicht zu verübeln und folgte Hana  in unser Zimmer, wo wir uns umzogen. Kurze Zeit später rief uns Dalia und wir versammelten uns um den Tisch und Dalia trug das Essen auf. Während wir aßen, wurde nur wenig gesprochen. Hana erzählte etwas von dem,  was wir an diesem Tag gesehen und erlebt hatten, und ich hatte das Gefühl, dass es ein Verlegenheitsgespräch war, schließlich hatten wir zuvor ja Dalia bereits von unserem Tag erzählt. Me’ir sagte nicht viel und er beachtete mich kaum.

Auch an den nächsten beiden Tagen waren wir unterwegs. Am dritten Abend aber war Dalia nicht zu Hause, Hana und ich blieben mit Me’ir, der wieder für uns gekocht hatte, allein. Ich fühlte mich nicht besonders wohl ohne Dalia und wünschte mir, dass  die Zeit  bis zu ihrer Rückkehr schnell vergehen würde!

Wir saßen am Tisch und Hana und ich sprachen sehr vertraut miteinander und es entging Me’ir nicht, dass wir Mädchen uns schon sehr nahe standen, trotz der kurzen Zeit, die wir uns kannten.

Wir hatten die Mahlzeit schon fast beendet. Im Anschluss an das Essen wollten  Hana und ich noch ein wenig auf der Strandpromenade bummeln.  Plötzlich sah Me’ir mir ins Gesicht und fragte mich auf Englisch, wie es mir denn in Israel gefiele,  und ob es mir das Wetter nicht zu warm wäre. Ich antwortete, dass ich mich sehr wohl fühle und sehr dankbar bin, dass er mich in seiner Familie aufgenommen hat, obwohl ich wusste, dass er gegen Hanas Teilnahme an diesem Austauschprogramm war.

Er lächelte mich freundlich an und es schien, als ob er mich erst jetzt, nach den 3 Tagen, die ich bereits in seinem Haus verbracht hatte, wahrnahm. Er begleitete uns auf unserem Spaziergang, und als Hana und ich uns an diesem Abend zurückzogen sagte er auf jiddisch: „Schlaf gut!“
Ich war sehr glücklich.

Die Goldbergs waren eine angesehene Familie. In Bat Galim, dem am Meer nahe dem Hafen von Haifa gelegenen Stadtteil, in dem sie wohnten, kannte sie jeder, und der Spaziergang an der Promenade am Sabbat zog sich meist in die Länge,  denn immer wieder verweilte man bei dem einen oder anderen zu einem kurzen Plausch. Und immer war ein gewisser Respekt der anderen Spaziergänger deutlich zu spüren. 

Als ich Me’ir kennen lernte, war er schon 63 Jahre alt. Mir erschien er immer sehr vital, geistreich und mit dem, was man wohl als „jüdischen Humor“ bezeichnet, über alle Masse gesegnet! Er und seine zwei Schwestern waren die einzigen Überlebenden des Holocaust einer großen Familie.  Er erschien mir nicht verbittert, aber seine Erfahrungen verboten ihm wahrscheinlich, mit Deutschland jemals wieder etwas zu tun haben zu  wollen.

Ich war 17 Jahre alt und eine gewissen Unbefangenheit und Naivität ermöglichte es mir, irgendwann zu ihm durchzudringen, ohne dass ich darauf speziell hingearbeitet hätte! Mit der Zeit merkte ich, dass er Vertrauen zu mir gewann, und schon bei meinem zweiten Besuch sah ich ihm an, dass er sich ehrlich freute mich zu sehen. Bald schon bezeichnete er mich als „Tochter“ und war mir gegenüber sehr warmherzig und aufgeschlossen. Wir konnten über die gleichen Dinge lachen und sprachen mit großer Offenheit über alles was uns wichtig war. Sehr häufig fragte er mich über die politische Situation in Deutschland aus, und es war ihm sehr wichtig zu erfahren, dass sich meine Familie vom Naziregime stets distanziert hatte.

Anfang der 80er Jahre besuchte Me’ir gemeinsam mit seinem Schwager Berlin. Diese Reise sollte mehrere Tage dauern und es war geplant, dass er im Anschluss nach Düsseldorf kommen sollte, um meiner Familie einen Besuch abzustatten. Doch schon kurz nach seiner Ankunft in Berlin rief er uns an um uns mitzuteilen, dass er bereits am nächsten Tag nach Hause fliegen würde, „aus gesundheitlichen Gründen“, so sagte er.

Als ich jedoch später mit seiner Frau Dalia darüber sprach, stellte sich heraus, dass er es mental nicht verkraftet hatte, in Deutschland zu sein. Umso mehr erfüllt es mich mit Stolz, dass er mich mochte und akzeptierte. Er hat mir  das Gefühl gegeben ein Teil seiner Familie zu sein. Während meine wirkliche Familie in Deutschland gerade zerbrach, meine Eltern sich trennten und das „Elternhaus“ aufgelöst wurde, hatte ich eine „Ersatzfamilie“ gefunden, die mich mit offenen Armen empfing.

Ich erinnere mich an viele Gespräch mit Me’ir Goldberg an Abenden mit einem lauen Wind auf der Terrasse,  immer bei einem Glas  Tee mit frischen Minzeblättern. Wir sprachen über die politische Lage in Deutschland, Israel und der Welt, über seine Arbeit bei der Lehrergewerkschaft und manchmal auch über Religion. Einmal fragte er mich nach meinem Glauben und ob mir bewusst sei, dass der Christliche Glaube seinen Ursprung im Judentum hat. Wie so oft endeten  derart ernsthafte Gespräche mit einem typischen Me’ir Witz und so erzählte er mir an diesem Abend von seinem Freund Yankele, der im Sommer durch die Jerusalemer Altstadt gebummelt war und dringend ein ruhiges Plätzchen suchte, wo er sich einen Moment ausruhen konnte. Also betrat er eine Kirche und setzte sich in die erste Reihe, wo er den Altar ganz aus der Nähe betrachten konnte. Der Pastor eilte herbei um ihm zu sagen, dass Juden keinen Zutritt zu der Kirche hätten. Also stand Yankele auf, blickte auf das Kreuz an der Wand und sagte laut: „Komm, Joshua Ben Yosef, wir gehen!“

Bei einem Abendessen zur Pesach-Zeit gab es im Hause Goldberg ein traditionelles Fischgericht und Me’ir reichte mir, als dem „Ehrengast“, den Kopf des Fisches. „Der Kopf des Fisches bringt Erfolg und Glück, glauben die Juden“, erklärte er mir und forderte mich mit todernstem Gesicht auf, diesen zu essen. Ich war mir der Ehre bewusst und natürlich konnte ich nicht ablehnen, sonst würde ich ihn kränken, so dachte ich. Ich überwand mich und aß ein Stück, als er plötzlich laut loslachte und mir erklärte,  dass alles nur ein Scherz war und ich natürlich den Kopf nicht zu essen brauchte..........Aber diese Begebenheit war für mich mehr als nur ein  Scherz. Ich glaube, dass Me’ir mir zu verstehen geben wollte, dass ich ein vollwertiges Mitglied seiner jüdischen Familie geworden war.
Diese Geschichte wurde noch Jahre später erzählt und jedes Mal haben wir herzlich gelacht.

Kurz vor meiner geplanten Abreise nach Israel Anfang der 80er Jahre rief Me’ir mich an, und bat mich, ihm etwas aus Deutschland mitzubringen. Umständlich erklärte er mir, dass er sich seit vielen  Jahren eine Mütze wünsche, die er einmal bei Helmut Schmidt, dem Deutschen Bundeskanzler gesehen hatte! Die nächsten Tage verbrachte ich damit, durch sämtliche Fachgeschäfte in Düsseldorf zu  stöbern, um eine solche „Prinz-Heinrich Mütze“ aufzutreiben. Endlich hatte ich sie gefunden, und als ich sie Me’ir überreichte, freute er sich wie ein kleines Kind. Ich glaube, das Wichtigste war ihm, dass niemand in ganz Israel eine solche Mütze besaß und zudem hatte er sie direkt aus Deutschland bezogen!

Die Wohnung der Goldbergs in der Hasharon Straße in Bat Galim lag im Erdgeschoss und war relativ groß für 3 Personen. Das Wohnzimmer schloss an einen geräumigen Balkon an, so wie es in Israel üblich ist. Viele Abende habe ich dort im Kreise der Familie Goldberg verbracht, immer mit einer Tasse Tee und selbstgebackenem Kuchen. Man diskutierte das politische Tagesgeschehen, die Fehlentscheidung der rechten Parteien, die Auseinandersetzungen des Premierministers mit den Vertretern der PLO und natürlich waren auch der Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft oder die hohe Inflation Gesprächsthemen.

In der Zeit als ich die Ulpanschule besuchte, machte ich dort auf dem Balkon abends meine Hausaufgaben und niemals ist es mir gelungen, eine Übung aus Dalia’s Sicht fehlerfrei zu beenden. Sie war eine strenge Lehrerin und ich verdanke ihr sehr viel!

Me’ir malte leidenschaftlich gerne und seine Werke, Porträts seiner Familie und Landschaften, schmückten die Wände der Wohnung. Er war ein Freigeist, ein Künstler und ein sehr vielschichtiger Mensch. Religiosität spielte keine wirklich große Rolle in seinem Leben. Die Bräuche  zum Sabbat und an den hohen Feiertagen wurden gehalten und es war mir immer eine große Ehre und Freude, an den Feierlichkeiten der Familie teilnehmen zu dürfen. Freitags kurz vor Sonnenuntergang nahm Me’ir seine Kippa aus dem Schrank und verließ das Haus um in die kleine  Synagoge in der Nachbarschaft zu gehen.

Das unscheinbare Gotteshaus in Bat Galim war nur wenige Minuten entfernt und ich durfte Me’ir einmal dorthin begleiten. Männer und Frauen saßen getrennt von einander und huldigten der Ankunft des Sabbats. Nachdem wir nach Hause zurückgekehrt waren, zündete Dalia die Kerzen ihres speziellen Sabbatleuchters auf dem Küchentisch an, sprach den Sabbat-Segen und die Familie stellte sich um den Tisch herum auf. Das Familienoberhaupt brach das besondere Sabbat-Brot, die Challa. Me’ir hatte eine sehr tiefe und wohlklingende Stimme und wenn er ein Gebet sprach bzw. sang gingen die Worte durch Mark und Bein. Wir   fassten uns an den Händen und stimmten am Ende des Gebets das „Amen“ mit ein und wünschten uns „Shabbat Shalom“, bevor wir uns zum Essen setzten.

Ich glaube, dass Me’ir die Beziehung zu mir und auch den Kontakt zu meinem Vater nutzte, um sich von einem tiefen Groll und den Schatten seiner Kindheit zu befreien und die schrecklichen Erinnerungen an Krakau und den Verlust seiner Familie zu verarbeiten.  Vielleicht konnte ich durch meine Freundschaft zu Me’ir einen winzigen Beitrag zur „Wiedergutmachung“ leisten und Meir hatte die Möglichkeit, die Gefühle, die er mit Deutschland verband, etwas positiver zu besetzen.

Me’ir Goldberg war 1916 in der kleinen Stadt Miechów, 40 km nördlich von Krakau in Polen als einziger Sohn von Avraham und Hana Goldberg zur Welt  gekommen. Er und seine Schwestern lebten mit den für die damaligen Verhältnisse sehr wohlhabenden Eltern, die einen Weinhandel betrieben,  in einem großen Haus. Schon sehr früh hatte sich Me’ir den zionistischen Organisationen angeschlossen, die speziell die Jugend ansprachen und eine Zukunft für die Juden nur in Israel sahen. Er hatte schon als kleines Kind die Erfahrung machen müssen, das polnische Mitschüler und Nachbarkinder  ihn wegen seiner jüdischen Herkunft beschimpften.

Immer wieder, bei allen Besuchen bei Dalia, Hana und Me’ir Goldberg, sprachen wir  irgendwann über Me’irs Heimatstadt und seine Familie, die dort ihren Ursprung hatte. Ich hatte einerseits das Gefühl, dass Me’ir oft an seine Kindheit und Jugend dachte, aber dann plötzlich, mitten im Gespräch, winkte er ab und wechselte das Thema. Er war nie wieder in Polen gewesen und mit einer abwertenden Geste, so, als würde er das Vergangene wegwischen wollen, beendete er das Gespräch. Für mich stand sehr früh fest, dass ich eines Tages nach Polen und Krakau reisen würde um nach Spuren der Familie Goldberg zu suchen. Aber diese Reise sollte erst viele Jahre nach meinem ersten Besuch in Israel stattfinden.

Mitte der 80er Jahre erkrankte Me’ir schwer und verstarb am 1. April 1989. Das sein Todestag ausgerechnet auf den 1. April fiel, war wohl Ironie des Schicksals. Welchen besseren Tag konnte dieser humor- und phantasievolle Mann wählen, um von uns zu gehen? Immer wird der 1. April als Tag des Scherzens und des Schabernacks mich an Me’ir erinnern.



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Freundeskreis Mateh Yehuda e.V.



Im Jahr 2000 gegründet, trägt der gemeinnützige Verein dazu bei, Kontakte zwischen den Bürgern der Gemeinde Nümbrecht und Bürgern des Staates Israel zu knüpfen, bzw. zu vertiefen.

In jedem Jahr richtet der Freundeskreis Gedenkfeiern am 27. Januar (Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz), und am 9. November (Reichspogromnacht) aus, die in der Nümbrechter Bevölkerung stets großen Anklang finden.

Ferner ist der Freundeskreis bemüht, auf kultureller Ebene ein vielfältiges Programm anzubieten: zum Beispiel mit Lesungen bekannter Schriftsteller wie Lea Fleischmann im Januar 2005 oder einem Vortrag mit dem bekannten Fremdenführer und Autor Dany Walter im Juni 2005.
Der 1. Deutsch-Israelische Jugendaustausch im April 2006 war ein Meilenstein, dem mehrere gegenseitige Besuche von offizieller und privater Seite in den vergangenen Jahren vorausgingen.

Die 14 Jugendlichen, sowie die drei Begleiter der 1. Delegation, die wir am 18.4.2006 in Nümbrecht begrüßen konnten, kamen aus Mate Yehuda, dem größten Landkreis in Israel. Zu den Menschen in Mate Yehuda unterhält die Gemeinde Nümbrecht seit langem freundschaftliche Beziehungen. 

Im April 2007 gab es schließlich einen Gegenbesuch einer Jugendgruppe aus Nürmbrecht in Mateh Yehuda.

Weitere Infos, Berichte und Bilder auf unserer Homepage:
http://www.nuembrecht-israel.de/



Zu dem Haus, in dem die Familie Goldberg wohnte, gehörte ein kleiner Garten, in dem ein uralter Olivenbaum stand, der im Sommer ein großzügiger Schattenspender war. Am Sabbat, wenn nur wenig Verkehr floss, konnte man das Meer auch in Hanas Zimmer deutlich hören. Der Strand war nur eine Häuserreihe weit entfernt und die Luft schmeckte immer nach Salz. Der Garten war auf der einen Seite vom Nachbarhaus  und gegenüber von  einem Zaun eingegrenzt, und mittags staute sich die Hitze wie in einem Backofen. 

Die Hausfrauen schlossen alle Fenster und die heruntergelassenen Jalousien hielten die Wohnungen schattig. Irgendwo spielte immer ein Radio, denn so etwas wie Mittagsruhe, wie wir es aus Deutschland kennen, spielt in Israel nur theoretisch eine Rolle......zu jeder vollen Stunde werden Nachrichten gehört und immer in einer Lautstärke, die es eigentlich dem Nachbarn erlaubten mitzuhören. Aber das Radio  ausschalten ist undenkbar. Immer informiert zu sein ist lebenswichtig für jeden Israeli. Informiert zu sein heißt, auf alles vorbereitet zu sein, keine bösen Überraschungen erleben zu müssen. Me’ir sagte mir einmal, wenn es eine Möglichkeit des Austausches von Informationen gegeben hätte zwischen den Juden in Prag, Krakau und anderswo, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen.

In Israel ist das Radio Teil des gesamten öffentlichen Lebens zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ob im Bus, im Lebensmittelgeschäft oder in der Bank, immer verkündet die Stimme zur vollen Stunde die neuesten Begebenheiten. Dazwischen erschallt Musik aller Stilrichtungen.

Ging man von Goldbergs Haus aus nach links, traf man auf einen kleinen Kreisverkehr, in dessen Mitte eine kleine gepflegte Grünfläche angelegt war. Ein paar Bäume spendeten Schatten und unter den Bäumen befand sich der Eingang zu einem Bunker. Einige meiner Freunde waren 1967 bei Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges 5 Jahre alt und  erinnern sich noch gut an die vielen Stunden, die sie  im Bunker mit ihren Eltern und den Nachbarn verbracht haben.

Ging man aus dem Haus nach rechts, erreichte man die Querstraße, die zum alten Kasino und zum Strand führte. Das so genannte Kasino war seit Jahren eine Ruine, die jedoch nicht vor Altersschwäche zerfiel, sondern der Bau wurde eingestellt, nachdem ein Kind auf der Baustelle tödlich verunglückt war. Weiter rechts befand sich der winzige Strand von Bat Galim, nicht so prachtvoll wie etwa die  berühmten Strände in Haifa’s Süden oder in Tel Aviv aber doch ein Ort welcher ein Spiegelbild des alten  Stadtteils Bat Galims (hebr. „Tochter der Wellen“) war.

Die Umkleiden und sanitären Einrichtungen aus den 50er Jahren waren vermodert und vom Salzwasser stark angegriffen, es stank nach Urin und abgestandenem Wasser. Ältere Menschen, die den Weg zu den weiter entfernten  Stränden scheuten, trafen sich hier in den späten Stunden des Nachmittags, wenn die Hitze etwas nachließ. Sie saßen im Schatten unter mitgebrachten Sonnenschirmen, tranken Kaffee und erzählten sich Altes und Neues in allen Sprachen der Welt. Dort habe ich zum ersten Mal jiddisch gehört und war völlig fasziniert von dieser Sprache, die so vertraut klingt für mein deutsches Ohr, aber dann doch auch wieder völlig fremd.

Da saßen sie, die ehemals schönen und stolzen Jüdinnen  Osteuropas, die von den Nazis so gnadenlos überrollt wurden, trugen die Tätowierungsnummern an ihren Armen und spielten mit ihren Enkelkindern im Sand. Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre waren blonde Touristinnen wie ich nicht alltäglich am Strand von Haifa und viele sprachen mich an, fragten woher ich komme, was ich in Israel mache und ob es mir gefällt. Anfangs hatte ich Hemmungen zu sagen, dass ich aus Deutschland kam, aber bald merkte ich ein aufrichtiges Interesse der Menschen.

Nie hörte ich ein  böses Wort oder begegnete jemandem, der sich abwendete oder das Gespräch abbrach. Sie hießen mich alle in ihrem Land willkommen und freuten sich über meine Begeisterung für dieses Land.

Der Strand wurde begrenzt durch eine  hohe Betonmauer, hinter der sich der Strand für die religiösen Leute befand, die dort völlig abgeschirmt und vor den Blicken der Ungläubigen geschützt baden konnten. Auf dem Strand gab es einen kleinen Kiosk, der von einem Jungen in meinem Alter geführt wurde. Jedes Jahr, wenn ich den Strand zum ersten Mal besuchte, gab es ein großes „Hallo“. Er hatte einige wenige Eissorten und kalte Getränke im Angebot und war zugleich Informations- und Tauschbörse für die Stammgäste des Strandes. Einmal ging ich nach dem Sonnenbad an  seinem Kiosk vorbei und er rief mich zu sich um mir mit besorgter Miene mitzuteilen, ich sehe aus wie ein „Lobster“ nach dem Kochen und als ich nach Hause kam, sah ich, dass er recht hatte......ich war total verbrannt!

Die Strandbesuche waren somit für die nächsten Tage gestrichen und als ich dann nach einiger Zeit wieder an seinem Kiosk vorbeiging, schenkte er mir ein Eis und sagte, er hätte befürchtet, dass ich nicht mehr käme wegen seiner Bemerkung bezüglich meiner Hautfarbe.

Allgegenwärtig am Strand von Bat Galim waren auch die vorbeiziehenden Schiffe der Marine, aber im Laufe der Zeit nahm ich sie gar nicht mehr wahr. Auch die Soldaten auf den Straßen, in den Bussen und Zügen, bewaffnet bis an die Zähne, gehörten auch für mich sehr schnell zum alltäglichen Erscheinungsbild. In Bat Galim gab es zu dieser Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft zum Haus der Familie Goldberg eine Kaserne. Am Tor standen immer Wachposten, die stets freundlich grüßten und dabei natürlich eine überaus wichtige Mine machten. Mir erschienen die Soldaten/innen stets als äußerst diszipliniert. Die Israelis meiner Generation trugen ihre Uniform mit Stolz und vermittelten einen unglaublichen Kampfgeist und das Gefühl, dass sie sich auf keinen Fall jemals besiegen lassen wollen. Sie wussten über die Ereignisse in Europa Bescheid, denn ihre Eltern und Großeltern als Betroffene  konnten ihnen noch davon erzählen. Ihr Drang nach Unbesiegbarkeit schien motiviert zu sein von den Berichten und den Erlebnissen ihrer Familienangehörigen.

Mittelpunkt von Bat Galim war die Egged-Busstation an der Straße nach Tel Aviv gelegen. Ein Hochhaus, das von überall zu sehen war. Von dort fuhren die Busse in den Norden nach Akko und bis an die libanesische Grenze, in den Osten nach Tiberias und Jerusalem, nach Tel Aviv und Beer Sheva in den Süden. Es gab eine Vielzahl kleiner Geschäfte, wo man Proviant für die Busreise, Zeitungen und Mitbringsel kaufen konnte. Ein Steinmatzky Buchladen bot alles an, was die israelische Literatur zu bieten hatte. Auch ausländische Zeitungen konnte man dort kaufen.

Das Ganze glich einem Ameisenhaufen, war ungemein betriebsam und voller Leben. Taxifahrer boten lauthals ihre günstigen Tarife an und so manche Fahrt in einem Sammeltaxi in die Berge von Haifas Hinterland fand hier für  Hana und mich ihren Anfang! Ich mochte die Atmosphäre an der Busstation sehr, sie war eine Mischung aus orientalischem Bazar und westlichem Einkaufszentrum.

Immer war es dort laut und gab es Interessantes zu sehen. Als ich 1984 die Ulpanschule besuchte, führte mich mein Weg zur Schule immer durch den Busbahnhof und nichts hätte mich veranlassen können, den (kürzeren) Weg um den Bahnhof herum nach Hause zu wählen.

Es gab einen kleinen Lebensmittelladen am südlichen Ende der Hasharonstrasse, der Straße in der die Goldbergs wohnten, der  von außen gar nicht als solcher zu erkennen war. Er bestand aus einem winzigen Raum. Und doch gab es dort alles, was man zum alltäglichen Leben brauchte. Frische, geschlachtete Hühner und ganze Lammkeulen wurden dort ebenso angeboten wie frisches Brot und der Hefezopf für den Shabbat.

Mit der Buslinie 42 fuhr man von Bat Galim hinauf auf den Karmel-Berg. Das Radio im Bus spielte laute Musik zwischen den Nachrichten und nicht selten kam es vor, dass ein Insasse ein Lied mitsang und sogleich weitere Reisende mit einstimmten. Vorbei an dem imposanten Schrein der Bahain-Sekte, dem Rothschild-Krankenhaus und den großen Hotels führte der Weg immer höher den Berg hinauf, bis das Meer, die Hafenanlage und die Eggedstation nur noch wie ein Teil einer Spielzeugeisenbahn erschienen. Der überwältigende Anblick von dort oben auf die Bucht von  Haifa ist atemberaubend, und ich werde niemals den Tag vergessen, als ich dort oben mit Dalia stand: Bis an die libanesische Grenze reichte der Blick und  die Hügel  von Galiläa waren zum Greifen nah. Wie erhebend musste das  Gefühl für die vielen Einwanderer gewesen sein, für die Haifa  als Tor zu einem neuen Leben in Freiheit und Menschenwürde war.

Die alte Herzlstraße im Hadar-Viertel  mit ihren vielen, kleinen Straßenläden, Falaffelbuden, Getränkeständen, die  frisch gepresste Orangen-, Kiwi-, Melonen-, oder Lycheesäfte anboten, mit ihrer lebensbejahenden Atmosphäre voller Energie und Optimismus, spiegelte für mich in den 80er Jahren das wahre Israel wieder. Hier traf man sich auf einen Kaffee und zum Bummeln, abends ging man hier ins Kino und anschließend noch in eins der Straßencafés, die oft bis tief in die Nacht geöffnet waren.

Im Gegensatz dazu die vornehmere Gegend des Karmelberges, wo sich die international bekannten Modezaren und Künstler niedergelassen hatten und die Stimmung eher europäisch orientiert war. Hier lebte, wer „in“ sein wollte.

Hana und ich hatten es uns zur Tradition gemacht, am ersten Tag nach meiner Ankunft nach Akko zu fahren. Mit dem Bus war man nicht mehr als eine Stunde unterwegs, und doch hatte ich immer das Gefühl, in ein anderes, lange zurückliegendes Zeitalter gereist zu sein. Die alte Kreuzfahrerstadt am Meer ist ein steinernes Geschichtsbuch mit einer Vielzahl von historischen Zeugnissen aus längst vergangenen Epochen. Die arabischen Fischer bieten am Hafen ihren Fang zum Kauf und die arabische Bevölkerung gibt dem Ort ihr typisches Flair. Zu jeder Fahrt nach Akko gehörte für uns der Besuch des Gefängnisses. Die Festung, in der so viele Pioniere und jüdische Freiheitskämpfer in den 30er und 40er Jahren inhaftiert und auch von den Briten gehenkt worden waren, verlor niemals ihre Faszination für mich.

Dort wurde Geschichte für mich lebendig und zum Greifen nahe. Ich glaubte die Beweggründe eines jeden Freiheitskämpfers zu kennen und zu verstehen. Alles schrie in mir: „Wie konnte irgendjemand auf dieser Welt in Abrede stellen, dass dies das Land der Juden war? Und wer konnte ernsthaft glauben, dass sie eines Tages müde würden, dieses Land mit ihrem Blut zu verteidigen?“ 

Die Briten hatten geglaubt, die Juden in die Knie zwingen zu können, indem sie einige ihrer Idole und Kämpfer hinrichteten und versuchten, die Einwanderungswelle zu stoppen. Aber sie konnten sie nicht aufhalten und dem Wunsch der Juden nach Freiheit und der Rückkehr in ihr Land keinen Einhalt gebieten.

Dalia Goldberg war eine ungemein starke Frau und Persönlichkeit. Allein durch ihr Erscheinungsbild war sie respekteinflößend: Sie war 1,80 m groß und von sehr kräftiger Statur. Ihr dunkles Haar trug sie stets kurz geschnitten und alle, die ihr begegneten, besonders ihre Schüler, zollten ihr Respekt. Sie waren es auch, die ihr den Namen „General“ gaben und sie machte diesem Namen alle Ehre. Die schwierigsten Schüler nahm sie unter ihre persönlichen Fittiche und einige habe ich später getroffen, die der „Morah Dalia“ (Lehrerin Dalia) viel verdanken. Wenn sie ihre Kommando-Stimme erhob, gab es wohl niemanden, der es wagte, ihr ins Wort zu fallen.

Sie wurde 1930 in Tel Josef , einem Kibbuz unweit von Afula im Norden Israels geboren und entsprach wohl genau dem Bild einer „Sabra“, das heißt einer in Eretz Israel Geborenen: Sie konnte ein unglaubliches Selbstbewusstsein und einen unumstößlichen Stolz ihr Eigen nennen, schien nach außen oft unterkühlt und hart aber viele  wussten um ihr großes, weiches Herz. Als „Sabra“ bezeichnet man auch die Frucht einer heimischen Kakteenart, die, so der Volksmund „außen hart und stachelig und innen süß und weich“ ist! Für Dalia Goldberg traf dieser Vergleich sicher zu!

Sie erfreute sich großer Beliebtheit bei ihren Schülern, denn sie war streng aber gerecht und sehr oft habe ich erlebt, dass ihre Schüler sie privat anriefen und sie besuchten. Sie war bereits einmal verheiratet gewesen und aus dieser ersten Ehe hatte sie einen Sohn, David, der in jungen Jahren mit seiner Frau Michal in die USA auswanderte. Ihre Enkelkinder hat  Dalia nur selten gesehen.

Dalia war im Kibbuz aufgewachsen und hatte als kleines Mädchen einige Überfälle von arabischen Truppen auf Tel Josef miterlebt. Sie und die anderen Kindern mussten sich unter den Betten im Schlafsaal verstecken.  Sie erzählte, dass sich gut an den Tag der Staatsgründung erinnern könne: Die Menschen tanzten und feierten den ganzen Tag.

Bei einem Besuch anlässlich des Pesachfestes 1981 traf ich ihre Mutter, die in den frühen 20er Jahren aus Russland nach Israel gekommen war. Sie und die anderen Einwanderer dieser Generation wurden „Halutim“ genannt. Sie waren es, die Sümpfe trockenlegten, Felder anlegten und blühende Siedlungen aus dem Nichts schufen.

„Savta Sarah“ (Großmutter Sarah) lebte in Tel Josef im Altersheim und war damals schon schwer krank, aber sie schien zu verstehen, dass ich aus Deutschland kam um ihre Enkelin Hana zu besuchen, und als wir uns nach einiger Zeit verabschiedeten, sagte sie leise zu mir: „Auf Wiedersehen!“ in deutscher Sprache. Sie starb kurz darauf.

Dalia war ein sehr dominanter Typ. Innerhalb der Familie und mit Me’irs Kindern aus erster Ehe gab es oft Unstimmigkeiten. Meir hatte einen Sohn, Abraham, oder „Rami“, und die Tochter Talia mit in die Ehe gebracht. Rami lebte mit seiner Familie  im Moschaw Bar Giora bei Jerusalem, und Talia war in den 70er Jahren ein Fotomodel und eine sehr bekannte Künstlerin in Israel. Sie lebte sehr unkonventionell, hatte  eine Wohnung in einer angesagten Gegend von Tel Aviv,  wechselnde Beziehungen zu Männern und war somit der eher konservativen Dalia ein Dorn im Auge. Hana und ich waren natürlich sehr beeindruckt von ihr, ihrer Schönheit und der Art, wie sie ihr Leben im Jetset von Tel Aviv gestaltete!

Einmal hatten wir bei ihr übernachtet, weil wir am nächsten Morgen den Markt von Jaffa besuchen wollten. Talia hatte allerdings die Nacht nicht zu Hause verbracht. Als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg machten, kam ein feuerroter Ferrari die Straße heruntergefahren und Talia stieg ganz lässig heraus. Der überaus attraktive Mann neben ihr verabschiedete sich von ihr und sie, ganz Dame, rief uns: „Guten Morgen!“ zu. Heute lebt Talia sehr zurückgezogen mit ihrem Mann und den schon fast erwachsenen Kindern im gleichen Moshaw  wie ihr Bruder Rami, ist sehr religiös geworden, geht samstags nicht ans Telefon und kocht streng koscher.

Auch die Beziehung von Dalia zu ihren beiden jüngeren Schwestern war oft sehr schwierig. Über längere Zeiten hatten die beiden keinen Kontakt oder hatten zumindest oft Probleme mit ihrer dominanten älteren Schwester.

Für mich ist Dalia immer die großzügige und warmherzige Mutter gewesen, der ich viel verdanke. Als sie 1998 an Krebs erkrankte und erste Operationen gut überstanden hatte, verströmte sie einen  Optimismus, der uns alle glauben ließ, sie würde es schaffen. Im Oktober 1999 war ich eine Woche mit meiner Freundin Mariele in Israel unterwegs und natürlich besuchten wir auch Dalia in Haifa. Sie hieß uns beide herzlich willkommen und erzählte mir, daß sie nun lange genug krank gewesen sei und im Frühjahr eine Reise an die Cote d’Azur plane! Ich wollte ihr nur zu gern glauben! Sie ging mit uns essen, und das Foto, das ich an diesem Abend von ihr gemacht habe, ist das letzte, das von ihr aufgenommen wurde.

Im März des Jahres 2000, nach einer weiteren Chemobehandlung, verließ sie das Krankenhaus, um zu Hause zu sterben. Ich konnte mich für eine Woche aus meinen familiären Verpflichtungen loseisen, und gemeinsam mit Hana pflegte ich die bereits stark geschwächte und von der Chemotherapie gezeichnete Dalia. Sie in diesem Zustand, hilfebedürftig, schwach und der Schmerzen müde, zu sehen, brach mir das Herz. Sie war stets gepflegt und auf ihr Äußeres bedacht und jetzt hatte sie ein fahle Haut und einen kahlen Schädel und konnte sich nur mit äußerster Anstrengung bewegen. Sie formulierte, wenn das Morphium es zuließ, ganz deutlich, dass sie gerne noch bei ihren Kindern und Enkelkindern bleiben wolle, aber gleichzeitig  quälte sie der Umstand, dass sie ganz und gar auf die Hilfe anderer angewiesen war.

Als der Tag meiner Abreise gekommen war, wussten wir beide, dass es ein Abschied für immer sein würde. Es fiel mir unendlich schwer, das Land zu verlassen.

In all den Jahren, die ich in ihrer Familie wie eine Tochter gelebt habe,  sagte sie jedes Mal wenn ich aus dem Haus ging: „Hab’ eine schöne Zeit“ und sie meinte es wirklich genau so,  wie sie es sagte. Nie klang dieser Satz so einfach daher gesagt. Als ich das letzte Mal mit ihr telefonierte, an ihrem Geburtstag, dem 21. April 2000, sagte sie schon sehr geschwächt: „Hab’ ein schönes Leben“, und mir versagte die Stimme. Am 29. April verstarb sie im Krankenhaus. 



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Die Autorin

PETRA WEIDAUER

... geb. 1962 in Düsseldorf, schon als Kind mit dem Freundeskreis Düsseldorf-Haifa e.V. durch den Vater in Kontakt, Teilnehmer des 1. Schüleraustausches zwischen 2 Gymnasien in Düsseldorf/Haifa, nach dem Abitur  1,5 Jahre Aufenthalt in Israel, danach Studium der Judaistik in Köln, jährliche Besuche in Israel auch mit den eigenen Kindern, 2006 Leitung einer Jugendgruppe Mateh Jehuda/Nümbrecht, 2007 Gegenbesuch mit der Jugendgruppe in Israel.
Lebt seit 7 Jahren in Nümbrecht/Oberbergischer Kreis, dort aktiv im Freundeskreis Nümbrecht-Mateh Yehuda e.V.

Verheiratet und 2 Kinder! Beruflich tätig als Exportkauffrau

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Petra Weidauer steht gerne für Lesung/Gespräch zur Verfügung.
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Betreff: Weidauer Lesung

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