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ONLINE-EXTRA Nr. 314

Juli 2021

Er war nicht nur ein bekannter Frauenarzt und Künstlerfreund, sondern auch Erst-Autor von „Knaurs Gesundheitslexikons“ (1930) und Verfasser zahlreicher populärmedizinischer Bücher, die in 16 Sprachen übersetzt wurden. Sein Ziel war es, die rasanten wissenschaftlichen Fortschritte (Bakteriologie/Salvarsan); Diabetes/Insulin; Hormontherapie etc.) verständlich zu machen, und das in einer heiteren Form, „die belehrt, indem sie unterhält.“ Fast könnte man ihn als ein Vorläufer, eine Art Urahn des heute so populären Medizin-Kabarettisten Dr. Eckhard von Hirschhausen charakterisieren. Doch so bekannt Dr. Josef Löbel (1882-1942) zu Lebzeiten auch war, nach dem Krieg fiel der „heitere Menschenfreund“, wie ihn Thomas Mann bezeichnete, in ein schwarzes Loch der Erinnerung. Als jüdischer deutsch-Böhme österreichischer Nationalität, später tschechischer Staatsbürger und in Berlin ansässiger und 1933 vertriebener Arztschriftsteller fiel er durch alle Netze der Erinnerung hindurch: niemand fühlte sich zuständig. Und das, obwohl er von seinem Freund, dem Schriftsteller Joseph Roth, im Radetzkymarsch und weiteren Erzählungen in der Figur des weisen Dr. Skowronnek verewigt wurde.

Und mehr noch, denn mit dem Vergessen und Verschwinden dieses Menschen ist zugleich die Verdrängung eines Skandals verbunden, dessen Wurzeln im verbrecherischen Umgang der Nationalsozialisten mit jüdischem Eigentum liegt, dessen Ausläufer aber weit in die Zeit nach dem Untergang des Dritten Reichs und tief in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hineinreichen: die bleibende "Arisierung" eines Bestsellers. Löbels Autorschaft des Longsellers "Knaurs Gesundheitslexikon", das 1930 erstmals erschien, wurde mit Beginn der NS-Herrschaft getilgt, eine Enteignung geistigen Eigentums, die bis in die Millionenauflagen des Gesundheitslexikons im Nachrkiegsdeutschland ungebrochen fortgeführt wurde.

Die Lebens- und Werkgeschichte von Josef Löbel dem Vergessen entrissen, die anhaltende "Arisierung" von "Knaurs Gesundheitslexikon" aufgedeckt und die genauen Umstände von Löbels Freitod im Jahre 1942 erstmals aufgeklärt zu haben ist das Verdienst der vorliegenden Biographie aus der Feder des Medizinhistorikers Prof. Dr. Peter Voswinckel. Seine akribisch recherchierte Publikation, die mit 230 Fotos, Dokumenten und Faksimiles ungemein liebevoll gestaltet ist, vermittelt zudem eine durchaus neuartige Präsentation von Geschichte, die weit mehr als nur eine Biografie beinhaltet, sondern zugleich auch ein Stück verdrängter Kulturgeschichte lebendig macht. Beigefügt ist dem außerordenlich lesenswerten Band schließlich auch das Grußwort eines 92-jährigen Löbel-Neffen aus New York, der 1938 als Zwölfjähriger mit einem „Kindertransport“ von Wien nach England entkam.

In dem heute als ONLINE-EXTRA Nr. 314 publizierten Beitrag gibt Voswinckel einen ersten Einblick in das Leben und Werk Löbels und thematisiert zugleich die tiefere Problematik einer "Arisierung" geistigen Eigentums, die in der Forschung bislang all zu sehr vernachlässigt wurde. Ergänzt wird Voswinckels nachfolgender Beitrag noch mit einem kurzen Auszug aus seiner Publikation, in dem es um die Enteignung der Autorschaft Löbels im Blick auf "Knaurs Gesundheitslexikon" geht. Unbedingt erwähnt sei noch, dass der von der "Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V." (DGHO) erst möglich gemachte Band über den einstigen jüdischen Erfolgsautor kostenfrei bei der DGHO bestellt werden kann und in einer Online-Version als pdf-Datei zur Verfügung steht. Nähere Angaben dazu in der Anzeige weiter unten.

COMPASS dankt dem Autor herzlichst für seinen Beitrag und die Genehmigung zur Wiedergabe eines Auszugs aus seinem Buch an dieser Stelle!

© 2021 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 314


Geraubtes Lexikon als Longseller

Ein Verfasser, der in den Tod getrieben und verleugnet wurde:
Dr. Josef Löbel, Franzensbad


PETER VOSWINCKEL

In kaum einem Haushalt der Nachkriegszeit dürfte es gefehlt haben, das „Knaurs Gesundheitslexikon“. Bis 2002 erlebte es fünfzig Auflagen und wurde millionenfach verkauft. Kaum einer weiß, dass der Erstautor dieses Longsellers ein jüdischer Arzt war, dass sein Erfolgstitel von 1930 zehn Jahre später von einem „reichsdeutschen“ Kollegen namens Herbert Volkmann (unter Pseudonym „Hiron“) „arisiert“ wurde; noch schlimmer: dass auch nach dem Krieg sein Name nie wieder auftauchte, stattdessen das Spiel mit Pseudonymen bis in die sechziger Jahre weiterging! 1942 nahm sich der Betrogene in Prag das Leben. Sein Name: Dr. Joseph Löbel (1882-1942). Viele Umstände trugen dazu bei, dass sein Name nach dem Krieg einer damnatio memoriae anheimfiel.



Der einstmals vielgedruckte Autor medizinischer Feuilletons und Bücher, die in 16 Sprachen übersetzt wurden, oszillierte vor dem Krieg zwischen Berlin, Prag und Wien, also einem mitteleuropäischen Kulturraum, der nach 1945 durch den Eisernen Vorhang brutal zerschnitten und getrennt wurde. Niemand fühlte sich mehr zuständig für diesen aus Kronstadt [heute Brasov, rum.] gebürtigen, deutsch-böhmischen jüdischen Badearzt, der während der Sommermonate in Franzensbad wirkte und während des Winters in Berlin als Schriftsteller reüssierte, vor allem in der BZ und im „Berliner Börsen-Courier“, aber genauso im „Prager Tagblatt“ oder im „Neuen Wiener Journal“ sowie in diversen Illustrierten und Frauenzeitschriften. Sein Markenzeichen “Löbel-Franzensbad“.

Am wenigsten empfanden ihn die Tschechen nach 1945 als einen der ihren, obwohl er seit 1920 tschechischer Staatsbürger war und sich sein Leben in Prag vollendete und alle Schlüsseldokumente bis heute in tschechischen Archiven schlummern. Die Sudetendeutschen waren bekanntermaßen lautstarke Vertreter des Antisemitismus und haben per Selbstverständnis alles Jüdische aus ihrer Überlieferung ausgeklammert. Die Österreicher, die sich ohnehin mit dem jüdischen Erbe lange Zeit sehr schwer taten, begegneten gerade den Zugewanderten aus den östlichen Kronländern mit Skepsis und Fremdheit, noch dazu, wenn sie intellektuell in Preußen Karriere machten. In Berlin wiederum, in der zertrümmerten und viergeteilten Metropole, gab es offenbar niemanden mehr, der dem Franzensbader Erzähler nachweinte. Die Berliner Boheme der Vorkriegszeit war zerstreut in alle Welt.


       



Foto links: Josef Löbel mit den beiden Söhnen Karl (1911-1982) und Peter (1914-2002).
Foto rechts: Löbel am Kaffeetisch.
(Beide Fotos: Nachlass von Peter Lobel)



Arthur Schnitzler und Thomas Mann gehörten zu seinen Lesern

Löbel, Familienvater und exquisiter Liebhaber französischer Literatur – die er in Originalsprache las -, war zu seiner Zeit ein Freund vieler Künstler und Dichter: Joseph Roth verewigte ihn in der weisen Figur des Dr. Skowronnek im „Radetzkymarsch“, Walter Trier illustrierte Löbels Bücher (u.a. „Haben Sie keine Angst!“, „Von der Ehe bis zur Liebe“; „Danke gut! 50 neue Kapitel optimistischer Medizin“), Balder Olden notierte im TAGEBUCH 1930: „Dass Löbel zu den wenigen Gelehrten gehört, die brillant schreiben können, flüssig, witzig ohne Witzelei, auf Gleich und Gleich mit dem Laien, der doch vor dem Doktorhut scheut, weiß jeder Zeitungsleser.“

Zum Freundeskreis zählten der Verleger Heinz Ullstein, der Journalist Egon Erwin Kisch ebenso wie die Schauspielerin Lucie Mannheim, der Maler Martin Bloch oder der Bühnenbildner Ali Hubert. Größen wie Arthur Schnitzler und Thomas Mann bezeugten in ihren Tagbüchern ihre Löbel-Lektüre („Lese vorm Einschlafen die banal geschriebenen, aber sachlich packenden medizinischen Erzählungen von Löbel“, Th. Mann). Bei diesen Erzählungen handelt es sich um das 1935 in Zürich erschienene Werk „Lebensretter. Detektivromane aus der Geschichte der Medizin“. Ausdrücklich erwähnte Thomas Mann das Kapitel über den Syphilis-Erreger „Treponema pallidum“ und notierte, dass er es gut für seine Arbeit am Doktor Faustus gebrauchen könne.



Publikationen von Josef Löbel

          

(v.l.n.r.) "Von der Ehe zur Liebe", Grehtlein Verlag, Leipzig 1929; "Haben Sie keine Angst", Grethlein Verlag, Leipzig 1928; "Lebensretter. Detektivromane aus der Geschichte der Medizin", Bibliothek Zeitgenössischer Werke, Zürich 1935; "Robert Koch. Geschichte eines Glücklichen", Bibliothek Zeitgenössischer Werke, Zürich 1935;"Medizin oder dem Mann kann geholfen werden", Rowohlt Verlag, Berlin 1933,



Die Titelzeichnungen der beiden Bände links - "Von der Ehe zur Liebe" und "Haben Sie keine Angst" - wurden in "kongenialer Heiterkeit" von Walter Trier illustriert, dem berühmten Illustrator der Erich-Kästner-Romane. Wie Löbel wurde auch Trier aus Deutschland vertrieben und starb 1951 in Toronto.



Vom Verschwinden eines Menschen

Es stellt sich die Frage, warum die Thomas-Mann-Forschung, die doch so ungemein fleißig den geistigen Anregern und „Zulieferern“ des großen Erzählers nachspürt, nicht eher auf Josef Löbel gestoßen ist? Sicher hängt es auch damit zusammen, dass den Nachgeborenen dieser Name nichts mehr sagte und alle neuern Referenzwerke versagten. Der Nekrologband 1971 von Kürschners Literaturkalender für die Jahre 1936-1970 gab keinerlei Auskunft über Schicksal und Lebensende des Kurarztes und Essayisten Löbel – obwohl es durchaus einen schönen Nachruf gegeben hatte, der freilich in Deutschland nicht rezipiert worden war (AUFBAU. New York 1942); auch führte der Kürschner-Nekrolog nur eine willkürliche Auswahl von Buchtitel an – es fehlte der Hinweis auf „Knaurs Gesundheitslexikon“, was damals, in den Siebzigern, als in München gerade die 800.000. Auflage auf den Markt kam, vielleicht zu peinlichen Nachfragen hätte Anlass geben können. Auch andere Nachschlagewerke und Literaturlexika präsentierten bis zum Ende des Jahrhunderts nur Leerstellen oder kolportierten abenteuerliche Spekulationen (Lebensabend in Argentinien; Krankenhausarzt in Buenos Aires!). Eine übersichtliche Zusammenstellung aller Löbel-Beiträge in biographischer Referenzwerke der Nachkriegszeit findet sich in dem weiter unten angezeigten Buch. Erschreckend die Konsequenz jüngster Verlagsprodukte (etwa des Saur-Verlages mit seiner Deutschen Biographischen Enzyklopädie DBE): Statt die Leerstellen und Desiderate zu benennen und erforschen zu lassen, wurde das Lemma „Löbel“ kurzerhand aus dem „Internationalen Biographischen Index der Medizin“ (1996) eliminiert, was nach meiner Empfindung einer zweiten Vertreibung gleichkam: Damnatio memoriae!

Freunde und Zeitgenossen von Josef Löbel, die hier hätten protestieren können, leben schon lange nicht mehr oder waren ebenfalls vertrieben oder gar ermordet worden. Seine beiden Söhne, die nach abenteuerlicher Flucht England erreicht hatten, hatten sich nach dem Krieg getrennt voneinander eine Existenz aufbauen können, die jedoch deutliche Züge einer seelischen Traumatisierung aufwiesen; aus ihrem Umfeld wird berichtet, dass das Holocaust-Schicksal der Eltern absolutes Tabu war; es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass sie einen Versuch unternommen hätten, die fehlerhaften Darstellungen über ihren Vater auf dem Kontinent zu korrigieren. (Beide Söhne verstarben kinderlos, einer, Peter Lobel, als Universitätsdozent in London 2002).

So kam es, dass das vielgerühmte „World Biographical Information System Online“ bei seinem Abschluss 2010 unter dem Stichwort ‚Josef Löbel‘ einzig den lückenhaften Kürschner-Beitrag von 1971 aufweisen konnte, in dem das geraubte Gesundheitslexikon, wie gesagt, ungenannt war.

Dem galt es die Erforschung und Darstellung des Lebensschicksals von Dr. Löbel entgegen zu setzen, seine Geschichte dem Vergessen zu entreißen und sie zu erzählen. Ausgangspunkt waren vor 25 Jahren meine Ermittlungen zu einem anderen „arisierten“ Fachbuch mit dem Titel „Medizinische Terminologie“. Dieses weit verbreitete Nachschlagewerk war 1902 herausgegeben von Walter Guttmann, einem Berliner Generaloberarzt a.D., und hatte über drei Jahrzehnte immer wieder Neuauflagen erlebt, bis im Jahre 1939 plötzlich Guttmanns Name verschwand und durch einen Neuen ausgetauscht wurde: Herbert Volkmann, seines Zeichens Assistenzarzt an der Charité. Bei der Aufklärung von dessen Identität erfuhr ich beiläufig (!) aus dem Mund von dessen Sohn, dass sich der Vater als Schriftsteller und Medizinjournalist verschiedener Pseudonyme bedient habe, u.a. „Peter Hiron“, „Peter Grunow“. Just diese Pseudonyme aber figurierten von 1940 bis weit in die sechziger Jahre auf „Knaurs Gesundheitslexikon“! Ein Raubzug sondergleichen! Er wurde noch dadurch gesteigert, dass die Erstautoren, Guttmann und Löbel, auch über die Stunde Null hinaus nie wieder in ihr Recht als Erstautoren eingesetzt wurden, nicht einmal in einer bibliographischen Notiz des Verlages, sondern einfach verleugnet und totgeschwiegen wurden. Beide Autoren hatten sich, wie durch akribische Recherchen schließlich nachgewiesen werden konnte, 1941 und 1942 das Leben genommen.



Rekonstruktion eines verschütteten Lebenswerkes

Damit war erneut die Aufgabe gestellt, ein verschüttetes Lebenswerk zu rekonstruieren. Über zwei Jahrzehnte sammelte ich in Antiquariaten des In- und Auslands alle Löbel-Bücher  (insgesamt 50 Titel), kontaktierte Archive, Museen, Meldebehörden, suchte digital und analog, doch die weißen Flecken, insbesondere in Privatbereich, in Ehe und Familie, blieben zu groß, um ein Bild zu ergeben. Dann kam ein überraschender Fund im Internet zu Hilfe. In der berühmten Datenbank des Yad Vashem Archive (Central Database of Shoah Victims' Names) tauchte im April 2017 (!) eine urkundliche Todesbestätigung von Löbels Ehefrau Leontine geb. Glücklich auf, bezeugt und eingesandt von einer bis dato unbekannten 58-jährigen Frau aus London. Es stellte sich heraus, dass sie die Tochter einer hochbetagten, heute demenzkranken Frau sei, die einst den verwitweten Löbel-Sohn Peter Lobel in London betreut habe und von diesem als Nachlass-Verwalterin bestimmt worden war. Übriggeblieben von diesem Nachlass war schließlich eine schmale Dokumentenmappe, in welcher ich bei einem rasch angesetzten Kurzbesuch in London zahlreiche Urkunden, Zeugnisse und Familienfotos vorfand – darunter vier Original-Postkarten aus dem KZ Theresienstadt, verfasst von Leontine Löbel (sie wurde Ende 1943 in Auschwitz ermordet, ebenso wie die Schwester von Dr. Löbel, die Klavierlehrerin Carla Löbel in Wien). All diese Dokumente und auch die Löbel-Buchsammlung wurden 2020 dem Jüdischen Museum in Berlin übergeben. Mit ihrer Hilfe konnten alle bisherigen Puzzle-Teile zu dem ehemaligen Erfolgsautor und Kurarzt Josef Löbel zusammengefügt und zur Darstellung gebracht werden.

Glückliche Umstände führten dazu dass die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie DGHO e.V., Berlin, quasi eine Patenschaft für die Löbel-Publikation übernahm und keine Kosten scheute, um ein reich bebildertes und erschütterndes Buch daraus zu machen. Es enthält die Titelblätter aller Löbel-Ausgaben sowie ausgewählte Beispiele aus seinem Feuilleton, darüber hinaus Faksimiles von Briefzeugnissen, Polizeiakten aus Prag bis hin zum Sektionsprotokoll mit der Todesursache „Vergiftung durch ein Nervengift. Ersticken durch Ertrinken“ (Prof. Weyrich, Deutsche Universität Prag, Mai 1942). Löbels Beisetzung erfolgte auf dem Neuen Jüdischen Friedhof und blieb ohne einen Grabstein. Bei der Präsentation des Buches anlässlich der DGHO-Jahrestagung in Wien 2018 gab es per Videoschaltung ein Grußwort des heute 95-jährigen Neffen von Leontine, Karl Stayna, der 1938 als zwölfjähriger Karl Glücklich mit einem Kindertransport von Wien nach England gekommen und später nach New York gelangt war. (Sein Vater Jacques Glücklich, der einzige Bruder von Leontine Löbel, wurde 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert.) Dieses Grußwort ist ebenso in dem Buch dokumentiert wie ein Nachwort des DGHO-Vorsitzenden Michael Hallek, Köln. (Das Buch wird kostenlos im Büro der DGHO abgegeben; Bestellformular auf der Homepage der DGHO.)

Die wissenschaftliche Aufarbeitung und bibliothekarische Kennzeichnung von arisierter Fachliteratur steht erst ganz im Anfang. Im Unterschied zur Arisierung von materiellen Gütern (Fabriken, Häuser, Gold etc.) ist der Diebstahl geistigen Eigentums bisher kaum erforscht. Insbesondere treibt mich die Frage um, wie die geraubten Titel und ihre Folgewerke in Katalogen und OPAC-Referenzen kenntlich gemacht und wie die beraubten Autoren wieder ins Recht gesetzt werden können. Große Aufmerksamkeit fand jüngst ein ganzseitiger Artikel in der ZEIT vom 10.12.2020 („Geraubte Bücher“), in dem die Kulturhistorikerin Karina Urbach, London, über ihre Nachforschungen zu einer Publikation ihrer Großmutter Alice („So kocht man in Wien“, 1937) und dessen „Arisierung“ berichtete. Beide, sowohl ich wie auch Urbach, suchen nun Mitstreiterinnen und Mitstreiter!




Das Buch ist kostenlos zu beziehen
im Hauptstadtbüro der DGHO über dieses Bestellformular:
Bestellformular
(pdf)


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Peter Voswinckel

Dr. Josef Löbel (1882-1942), Franzensbad/Berlin.

Botschafter eines heiteren deutschen Medizin-Feuilletons in Wien - Berlin - Prag.



Verlag DGHO
(Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie)
Berlin 2019, 2. u. erw. Auflage
178 S. - zahlr. Illustrationen u. Fotos
ISBN 978-3-9818079-4-3


 


Download als kostenlose elektronische Ausgabe über das ZB Med-Publikationsportal PUBLISSO:
Online-Version



Dr. med. Josef Löbel war ein seinerzeit sehr bekannter Medizinjournalist, Kurarzt und Schriftsteller. Löbels populärmedizinische Bücher wurden in 16 (!) Sprachen übersetzt. Nach dem Krieg geriet Löbel in Vergessenheit. Als jüdischer deutsch-Böhme österreichischer Nationalität, später tschechischer Staatsbürger und in Berlin ansässiger und 1933 vertriebener Arztschriftsteller fiel er durch alle Netze der Erinnerung hindurch: niemand fühlte sich zuständig. Erst sechs Jahrzehnte später offenbarte eine Spurensuche seinen Suizid in Prag 1942.

Anlässlich der Jahrestagung in Wien 2018 übernahm der Vorstand der DGHO quasi eine Patenschaft für Dr. Löbel und machte sich für die Erstellung eine Biographie stark. Herausgekommen ist eine reich bebilderte und spannende Dokumentation mit ca. 230 Abbildungen, Dokumenten und Faksimiles. Beigegeben ist auch das Kongress-Grußwort des 92-jährigen Löbel Neffen aus Wien/New York, der 1938 mit einem Kindertransport von Wien nach England entkam.

Das Buch ist wieder verfügbar und kostenlos zu beziehen im Hauptstadtbüro der DGHO.



Die bleibende "Arisierung" eines Bestsellers

       
Links die Originalausgabe aus dem Jahr 1930 von "Knaurs Gesundheitslexikon" mit Autorenangabe "Dr. med. Josef Löbel-Franzensbad". Zehn Jahre später, 1940, lautet der Autor nun "Dr. med. Peter Hiron".  Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat die "Arisierung" Bestand: unten links die Ausgabe des Lexikons aus dem Jahre 1952 nennt als Autor "Dr. med. Peter Grunow". Und unten rechts die Ausgabe der 50. Auflage mit über 1,2 Millionen verkauften Exemplaren nennt nunmehr als Autoren "Dr. med. Jürgen Brater" und "Dr. med. Kurt Pollak".



Echtes Neuland betrat Löbel mit der Abfassung von Knaurs Gesundheitslexikon. 1930, das erstmals im Verlag von „Th. Knaur Nachfolger“ in Berlin erschien und worin er 650 Aufsätze und Artikel zu bearbeiten hatte. Mit 85.000 verkauften Exemplaren war es sicher ein Durchbruch für das „Lexikon-Projekt“ des Knaur-Verlages, und sein erfolgreiches Debüt hätte eine dauerhafte Würdigung durchaus verdient gehabt.

Aber es kam anders. Im Rahmen der vorliegenden Darstellung soll das Schicksal dieses Buches als exemplarischer Modellfall für die Arisierung von Fachschrifttum herausgestellt werden, für einen Vorgang, der in der allgemeinen Geschichtswissenschaft bis heute nur wenig Beachtung gefunden hat (im Unterschied etwa zur Arisierung von Gold, von Geschäften und Fabriken und anderen Sachgütern). „Infolge der völlig veränderten politischen Verhältnisse kann einem Verleger aus wirtschaftlichen Gründen nicht zugemutet werden, das Werk eines jüdischen Urhebers weiterhin zu verlegen.“ (Urteil des Oberlandesgerichtes München vom 4. Februar 1935, zit. nach Voswinckel 1997, 337.) Auf Grund solcher und ähnlicher Gerichtsentscheide zog der Knaur Verlag im Herbst 1939 für eine erneute Ausgabe des Gesundheitslexikons den dreißigjährigen Assistenzarzt Herbert Volkmann (alias Peter Hiron) heran, der soeben aus Gewissensgründen sowohl sein Beamtenverhältnis (Stabsarzt der Polizei) als auch seine Parteimitgliedschaft aufgekündigt hatte und dankbar jeden Nebenjob annahm. Da er bereits ein Vierteljahr zuvor in gleicher Funktion (Übernahme von Guttmanns Medizinischer Terminologie im Verlag Urban & Schwarzenberg) hervorgetreten war, entschieden sich Autor und Verleger [Droemer] für ein Pseudonym, das auch nach dem Kriege beibehalten wurde. Weder Autor noch Verleger sahen sich nach 1945 veranlasst, Josef Löbels bibliographisches Erstlingsrecht wiederherzustellen (beispielswise durch eine kleine bibliographische Notiz): eine Leerstelle, wie wir sie ähnlich im Falle Heilmeyer / Hirschfeld so beschämend konstatieren mussten (Voswinckel 2012, 155 – 156; https://dx.doi.org/10.4126/FRL01-006424707).

Abgesehen von jeder moralischen Bewertung – Volkmann (1907–1970) konnte nach dem Krieg seine schriftstellerische Tätigkeit ungehindert fortsetzen und trat als Mitbegründer des „Kollegiums der Medizinjournalisten“ hervor – ist es eine bis heute ungeklärte Frage, wie solche Arisierungsvorgänge transparent und dokumentierbar gemacht werden können.

„Ein grundsätzliches Problem im Umgang mit ‚arisiertem‘ Schrifttum bleibt aber weiterhin ungelöst und hat bis heute keine zufriedenstellende Regelung durch Bibliotheksinstitute und Historiker erfahren, die Frage nämlich, wie die in der Zeit des Nationalsozialismus vollzogene scheinrechtliche Tilgung der Namen jüdischer Autoren, Herausgeber und Werkbegründer nach über einem halben Jahrhundert in modernen Bibliographien, Buchkatalogen oder Online-Katalogen kenntlich gemacht werden kann.“ (Voswinckel 1997, 346.)

Was den ideologischen Gehalt der Arisierung betrifft, so blieb es dem amerikanischen Historiker Geoffrey Cocks vorbehalten (2012), den augenfälligen Wandel vom „Handbuch“ zum „Führer“ zu kommentieren:

"Ein neues Vokabular von Gesundheit und Medizin verbreitete sich im öffentlichen wie im beruflichen Leben. Am deutlichsten zeigt sich das in der ersten (1930) und zweiten (1940) Auflage des volkstümlichen Bestsellers "Knaurs Gesundheitslexikon". Es gibt einen neuen Herausgeber und im Untertitel wurde - ohne die geringsten Skrupel - "Handbuch" durch "Führer" ersetzt. Von Körperkultur und Schönheitspflege ist im Untertitel nicht mehr die Rede, nur noch ein effizienter Hinweis auf die "Moderne Medizin". In einem neuen Vorwort finden sich Formulierungen, die dem Selbstverständnis des NS-Regimes entsprechen. Krankheit ist nun ein 'Übel', gegen das man sich täglich 'wehren' muss. Die Metapher für den Körper ist nun ein Radio (von denen es in Nazi-Deutschland sehr viele gab) statt eines Automobils (von denen es außerhalb des Militärs sehr wenige gab). Und während das Vorwort der ersten Auflage ebenfalls mit dem Hinweis auf die Leistungsfähigkeit schließt, fügt die zweite Auflage hinzu, dass der Zweck des Lexikons darin besteht, zur Fitness und zum "Willen zur Gesundheit" des Einzelnen und des Volkes als Ganzes beizutragen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Lexikon von 1940 Ergänzungen und Auslassungen in seinen Einträgen aufweist. Eine Ergänzung ist ein Eintrag zur "Erbgesundheit", in dem die nationalsozialistische Gesetzgebung zur Förderung gesunder Nachkommenschaft und zur Sterilisation von "Erbkranken" gelobt wird. Es gibt auch einen langen neuen Eintrag unter 'Rasse'. Im Gegensatz dazu ist der Eintrag von 1930 für 'Haftpsychosen' in der Ausgabe von 1940. Gefängnisinsassen verdienten weder  eine medizinische Betrachtung noch sonstige Zuwendung." (Cocks, 2012, 50; Übers. aus dem Englischen: Compass.)

Freilich sah sich der Autor (Professor für europäische Geschichte am Albion College, Michigan) nicht in der Lage, die Identitäten der beiden Verfasser, Löbel und Hiron, zu ermitteln. Zwar hatte sich die Universitätsbibliothek in Ann Arbor die Anschaffung des zehnbändigen Dictionary of German Biography geleistet (englische Ausgabe der DBE), doch kam Löbel darin nicht vor.

(Quelle: Peter Voswinckel:
"Dr. Josef Löbel (1882-1942), Franzensbad/Berlin."
Berlin 2019, S. 107-111)



Der Autor

PETER VOSWINCKEL

Prof. Dr. med.; geboren 1951 in Soest/Westfalen. Abitur auf dem dortigen Archivgymnasium 1970. Studium  in Konstanz, Münster, Essen und München. Approbation als Arzt 1981; Promotion 1982 mit der Arbeit: "Arzt und Auto. Das Auto und seine Welt im Spiegel des Deutschen Ärzteblattes 1907-1975." Nach vierjähriger Tätigkeit als Assistenzarzt in München und Karlsruhe Wechsel in das Fach Medizingeschichte.

Habilitation 1990 in Aachen mit der Arbeit "Der Schwarze Urin. Vom Schrecknis zum Laborparameter" (Blackwell-Verlag 1993); apl. Professor 1997. Bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte in Lübeck mit den Schwerpunkten Ärztliche Biographik und Emigrationsforschung. Ab 2002 freiberuflich tätig im Raum Lübeck/Hamburg. In dieser Zeit publiziert er: "Geführte Wege. Die Lübecker Märtyrer in Wort und Bild" (Hamburg/Kevelaer 2011), "Erinnerungsort Krebsbaracke" (Berlin 2014). Seit 2012 Leiter des Archivs und der Historischen Forschungsstelle der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie in Berlin.

Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
redaktion@compass-infodienst.de


siehe auch:
ONLINE-Extra Nr. 78
Peter Voswinckel:
Von Dr. Sammet (Thomas Mann) bis Dr. Semig (Uwe Johnson)
Das Scheitern der deutsch-jüdischen Assimilation im Spiegel literarischer Arztfiguren

Online-Extra Nr. 226
Peter Voswinckel:
Erinnerungsort Krebsbaracke: Über das älteste Krebsinstitut in Deutschland und seine verdrängten Protagonisten


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