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ONLINE-EXTRA Nr. 230

November 2015

Am heutigen 9. November wird einmal mehr an vielen Orten in Deutschland der "Reichskristallnacht" gedacht, an jenen 9. November 1938, der den ebenso gewaltsamen wie traurigen Auftakt zur Verfolgung und Ermordung der Juden Europas markierte. Erinnerung und Gedenken an jene Zeit haben in den letzten Jahrzehnten viele Formen gefunden, gelungene und fragwürdige, traditionelle und innovative, eingefahrene und bewährte...

Von einer sicher nicht alltäglichen und bemerkenswerten Form der persönlichen Erinnerung erzählt das Buch "Kein schöne Zeit in diesem Land" von Paul-Ernst Cohen (verlag regionalkultur, siehe Anzeige weiter unten).

Er hat sich auf Reisen begeben - mit einem Fahrrad. 1170 km von Mannheim nach Gurs. Er besucht Archive, er erfährt mehr über Familien- und Deportationsgeschichten in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Geschichten von jüdischen Familien – auch der eigenen – , von Rechte- und Vermögensentzug, Verschleppung, Vernichtung. Er stösst dabei auf Elite- und Kaderkontinuität in Politik, Wirtschaft, Psychiatrie und Kirche.

COMPASS präsentiert Ihnen nachfolgend neben der Einleitung aus Cohens Buch Auszüge aus zwei weiteren Kapiteln, die Sie anregen mögen, diesen bemerkenswerten "Reisebericht" in die Tiefen der Erinnerung selbst in die Hand zu nehmen und dem Autor auf seinem Weg zu begleiten...

COMPASS dankt Autor und Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!

© 2015 Copyright bei Autor und Verlag
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 230


Kein schöne Zeit in diesem Land

Aufzeichnungen einer Velo- und Zeitreise zwischen Mannheim, Gurs und Buchenwald


PAUL-ERNST COHEN


EINLEITUNG

Zu den Lebens-Rhythmen gehören Bewegen und Ruhen. Wie in der Musik die Töne und Intervalle. Und weil auch menschliches Leben Schöpfungsschwingungen entsprungen ist, kommt ab und an, mindestens einmal, der Zeitpunkt des Innehaltens im Verlauf eines Lebens. Dergleichen kürzere oder längere Pausen inmitten natürlichen Schlafens und Wachens künden sich nicht unbedingt an, sondern brechen mitunter unmittelbar herein; sind oftmals mit schmerzhaftem Erleben verbunden, wie zahlreiche Biographien bestätigen können.

Doch ist es ein offenbares Geheimnis, dass sich Erfahrungen von Verlust, Verrat und Verdammung über Wochen, Jahre, gar Jahrzehnte umgruppieren, um neuen Gestaltungen und Einsichten Platz zu machen, als gäbe es eine Melodie, bei welcher ein Grundton – und sei er nicht einmal hörbar – verlässlich bleibt: Lebens(wieder)schöpfung.

Dazu ist uns Menschen das Instrument des Erinnerns gegeben.

Wenn es darum geht, eine Rückbesinnung an den Tod von Angehörigen, Verwandten, jüdische Menschen aus Deutschland, aus unterschiedlichen Zeiten, zu versuchen, dann kann es sein, dass alle Sprache leer und ein jeder Buchstabe wie nackt da steht und stehen bleibt. Angesichts von Beschränkungen, von Verschleppung und massenhaftem Morden. Dem Verscharren von Gebeinen und Asche, dem Herausreissen aus Gräbern.

Dem Namenlos-Machen.

Was nicht – dies ist die Tragik auch in unseren Tagen – ein einmaliges Geschehen ist. Die Banalität des Bösen legt sich die Fratzen auch aktuell an, kommt in Gestalt von Behörden-Entscheiden daher, welche internen, intransparenten Regelungen und politischem Kalkül entstammen. Beispielsweise die alltäglichen Diffamierungen von Emigranten, die euphemistischen Verlautbarungen zur Flüchtlingsaufnahme und –ablehnung.

Diese bedienen sich dabei einer Sprache die mitunter nahezu kongruent geht mit dem Vokabular der Nazi-Jahre. Und die Anhänger einer "Leitkultur" bemerkten nicht, wie sie von  den Protagonisten eines „Deutschhlandd den Deutschhen“, „Frankreich den Franzosen“, „Eine Schweiz für die Schweizer" etc. instrumentalisiert werden werden.

Weil es aktuell um einen gesamtgesellschaftlichen, zugleich einen individual-psychologischen Aufklärungsprozess handelt, kann es den Nachkommen, seien es die der Opfer, wie die der Tat-Entschlossenen, wie der Mittäter in den Landschaften und Amtsstuben, kann es den Kindern, Enkeln und Urenkeln nicht erspart bleiben, Worte des Lebens zu suchen; selbst nach Jahrzehnten des Verschweigens, Verleugnens und der Beschämung. Was mitunter heisst, Familienalben Seite um Seite umzulegen, Zeitzeugen zu befragen, in die Archive zu gehen, um wenigstens einen Bruchteil von Lebenszeichen und -daten wiederzufinden.

Und um nicht zuletzt eine erweiterte Perspektive für das eigene Leben, die Tagesaktualitäten wie auch den eigenen Tod zu gewinnen; nach dem Loslösen und Auflösen von Verstrickungen.

Der Sucher, Protagonist in diesem Buch des Erinnerns, sei "Ernst" genannt.

Er geht einem Weg der Reflexion. Dies ist nicht allein Erkundigung und Recherche.

Es beinhaltet auch Meditieren. Das Nachsinnen, Nachfragen, Bedenken und Handeln verläuft freilich durchaus nicht linear. Mitunter treten Bilder auf. Überraschend. Heftig gar. Insofern wird die nachfolgende Darstellung persönlichen Erinnerns, Nachforschens und Verknüpfens auch in seiner Form dieses Moment aufgreifen.

Dieses Buch sei ein Gedenkbuch. Im Gedenken an die Jüdinnen und Juden, die im Oktober 1940 aus Deutschland nach Südfrankreich deportiert wurden, an die, welche in Lannemezan psychiatrisiert worden sind und dort umkamen. Gedenken auch an Max Cohen, der ebenfalls in einer Psychiatrischen Klinik verstarb und an Ernst Cohen, welcher denunziert, verurteilt und wenig später in Buchenwald ermordet wurde. Am Ettersberg. Der mit Goethe in der Literatur Eingang fand. Zwischen den Wäldern am Ettersberg ist heute eine Gedenkstätte. Gedenkorte auch in Dachau. Auch im südfranzösischen Gurs. Zeichen einer Erinnerungskuktur.

Welche freilich nicht nur Brüche beinhaltet, sondern Widersprüche. Eklatante gar.

Wie das Vergessen im Erinnern.

Viele ermordee Menschen waren in eine "Zone der Leere und des Vergessens" geraten, wie Patrik Modiano schreibt. Der war nach Jahrzehnten über eine Annonce des "Paris Soir"  vom 31.12.1941, gestolpert. Darin wurde ein jüdisches Mädchen gesucht. Damals vergeblich. Jahrzehnte später suchte er 10 Jahre. Und was er fand ist in „Dora Bruder“ veröffentlicht.

Auch bei mir fing es mit einem Stolpern an. Mit dem Stolpern über einen bronzenen Mantel. An einem Abend. Es war nicht das letzte Stolpern.

Zum Buchtitel: Wer einmal das deutsche Volkslied „Kein schöner Land in dieser Zeit“ gesungen oder gehört hat, dem wird nach Ende der Lektüre dieses Büchleins die Bedeutung des gewählten Titels als durchaus plausibel erscheinen.

Nicht nur, weil anstatt von Linden nunmehr von Buchen, Platanen und auch von deutschen Eichen geschrieben werden muss.

Hauenstein, Februar 2015
Paul-Ernst Cohen






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Paul-Ernst Cohen
KEIN SCHÖNE ZEIT IN DIESEM LAND
Aufzeichnungen einer Velo- und Zeitenreise zwischen Mannheim, Gurs und Buchenwald

verlag regionalkultur
Ubstadt-Weiher 2015

160 S. mit 54 Abb., fester Einband * € 14,90
ISBN: 978-3-89735-899-7

Blick ins Inhaltsverzeichnis
(pdf)

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Der Autor geht auf Reisen. Mit einem Fahrrad. 1170 km von Mannheim nach Gurs. Er besucht Archive, er erfährt mehr über Familien- und Deportationsgeschichten in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Geschichten von jüdischen Familien – auch der eigenen – , von Rechte- und Vermögensentzug, Verschleppung, Vernichtung. Er stösst dabei auf Elite- und Kaderkontinuität in Politik, Wirtschaft, Psychiatrie und Kirche.



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Auszug aus Kapitel 2:

"Annährung an Schicksale von Menschen, die am 22.Oktober 1940 aus Baden und der Pfalz nach Gurs (Südfrankreich) deportiert worden waren"

Nun steht Ernst selbst auf diesem Platz, dessen Kopfsteinpflaster vor Jahrzehnten durch einen Teerbelag ersetzt, die Häuserfassaden geglättet und werbewirksam aufgerüstet worden waren. Auch die Stadtmarketingabteilung markiert Präsenz.

Unweit des grossen Eingangsportals, was mit seinen grossen Glasfenstern so ausschaut, als giere es nach Ameisenmenschen, um sie hinter sich zu sammeln, stehen unbeaufsichtigt drei Koffer, die offensichtlich schon viele Reisen hinter sich haben. Was da wohl mit auf die Reise gehen mag? (22) Der gelbe Wegweiser nach Südwest findet allerdings innert einer Stunde nicht eine Handvoll aufmerksamer Augen. Taxifahrer lümmeln sich an Limousinen mit dem „guten Stern“ und das Werbe-verklebte Tatzelwurmtram nutzt noch eben das Ampelgrün.

Sein Fahrrad ist mit zwei weiteren an die Wegweiserstange angelehnt, Ernst in der Hocke daneben, nachsinnend, als befrage er die Aussichten seines Ansinnens.

Ahnungslos, wie wohl die Velowege südwärts beschaffen wären, nicht-ahnend, dass in den kommenden Wochen Archivtüren sich öffnen und Bilder von Tod-Erfahrenen ihm begegnen würden.

Drei Monate waren vergangen, seitdem eine nachmitternächtliche Idee auftauchte, sich tiefer als jeglicher Verstand einnistete und dabei keinerlei Umgehung duldend, selbst wenn für Tage sie ungeschaut und belassen blieb: er würde die Route der Deportierten nachfahren.

Nicht mit einem Auto. Nicht mit dem TGV oder einem anderen Zug. Zu Fuss, ähnlich den Jakobsweg-Wanderern? Es wären 1170 Kilometer. Von Mannheim am Rhein zu den Pyrenées. Mindestens zwei Monate würde er benötigen dazu.

Mit dem Fahrrad ungefähr die Hälfte. Bis nach Gurs (23). Diesem kleinen, weitherum unbekannten Dorf. Von dem Ernst ebenfalls keinerlei Ahnungen hatte.

Bis zu dem Herbstabend 2013:

Planmässig hatte der Regionalzug auf der Rheintalstrecke im Freiburger Hauptbahnhof für eine Weile angehalten. Pendler drängten sich aneinander vorbei. Die Geübten zeigten sich als die Geschwinderen. Manche der Langsameren liessen sich ablenken von den Sonnenstrahlen, die zwischen den beiden Türmen der Herz-Jesu-Kirche schimmerten und den glasierten Buntziegeln ein nahezu unwirkliches Glitzern überzogen.

Anstatt, wie bei ähnlichen Gelegenheiten, die Unterführung und einen Verpflegungsstand aufzusuchen, nahm der Sechzigjährige den Weg die Treppen hinauf, spürte während einer Zugsdurchfahrt ein leichtes Vibrieren unter den Füssen, streifte mit den Augen noch die Anzeigetafel vom vorbeifahrenden Tram Richtung Stühlingen und entdeckte kurzum eine blaugetünchte Brücke. Wohl 100 mal hatte er sie im Tages- oder Nacht-Zug unterquert auf den Fahrten zwischen Aare, Rhein und Main. Doch bislang nie betreten.

Nun hockten da auf einem der unregelmässigen Metallflachbögen zwei Päarchen und liessen die Beine nach Süden baumeln. Er könnte ja die Stimmung hier geniessen, einen Zug später besteigen und hätte somit Zeit für einen kleinen Rundgang zur spätromanischen Basilika hin, dann über die blaue Passerelle und den Busbahnhof zurück.

Unterwegs würde er sicherlich etwas Essbares finden.

Wenig später stand Ernst auf einer Park-ähnlichen Freifläche vor der Doppelturmfassade, die nach den Plänen des Steinmetzt und Architekten Max Meckel gebaut und 1897 von einem Erzbistums-Oberen geweiht worden war. Das Bürgertum schien in dieser Zeit keine Probleme damit zu haben, die Sedan-Erinnerungsfeiern mit Herz-Jesu-Verehrung zu verbinden und unter polygonalem Gewölben Seinesgleichen zuzulächeln.

Geld war augenscheinlich genug vorhanden. Neben Kirchenbauten für repräsentative Häuser, Verwaltungsbauten, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen, welche auch von nunmehr etablierten jüdischen Bürgern grosszügig bedacht und rege genutzt wurden.

Zugleich wuchs der Bedarf nach neuen Verkehrswegen. Insofern beauftragte die Direktion der Badischen Eisenbahn den Architekten Meckel für den Entwurf einer Verbindung über die Bahngleise zur Altstadt hin. Der legte ein Lineal aufs Papier und zog vom Kirchenportal aus eine Linie nach Osten. Diesem Federstrich folgen heutzutage nur noch Fussgänger und Radfahrer. Die solide Stahlkonstruktion aus einem Pfälzer Betrieb überstand zwei Weltkriege nahezu unbeschadet. Doch mehrmals wurden Anstrich und Name geändert.

Wie „Kaiser Wilhelm“. Der hatte 1918 abdanken müssen, konnte aber bis zu seinem Tod 1941 in den Niederlanden als Asylant gern und gut leben.

Ohne jegliche Versorgungsprobleme (24). Der aktuelle Brücken-Name lautet „Wiwili“. Eine Erläuterung steht auf einer kleinen Tafel. Diese erinnert an den Arzt Albrecht Plaum. Der war seit 1980 in Nicaragua, in der Ortschaft Wiwili, 20 km vom Grenzzaum zu Honduras, unter schwierigen Bedingungen tätig gewesen. Bis Mitglieder der paramilitärischen „Contras“ ihn ermordeten.

Während die Sonne an diesem Herbstabend weiter wanderte, fiel Ernst der Zusammenhang von Nicaragua, „Contras“ und Irak wieder ein: während den 90-er Jahren wurde in diversen Untersuchungsausschüssen bestätigt, dass CIA-Agenten von Waffen- und Kokain- Verschiebungen auf den Achsen USA – Irak – Südamerika nicht nur wussten, sondern diese aktiv unterstützt hatten, um die damalige - frei gewählte - sandinistische Regierung zu stürzen. Ronald Reagen, in jener Zeit US- Präsident, protegierte dabei Saddam Hussein.

Beide starben, wenngleich auf unterschiedliche Weise, in ihren Villen.

Anzunehmen ist, dass beide nie vom Tod eines Albrecht Pflaum erfahren haben.

Eine Wurfweite weiter von der Gedenktafel für den Menschenfreund Pflaum fiel Ernst etwas Broncefarbenes auf. Dunkel. Beim Näherkommen unzweifelhaft als Mantel zu erkennen. Leicht gefaltet. Als sei er versehentlich liegengelassen worden. (26) Ein Übergangsmantel. Abseits von den Jugendlichen auf den genuteten Metallbögen, den schaikernden Studentinnen und Studenten mit ihren Alcopops in der Hand. Vor der Abendsonne.

Vielleicht hatten die schon früher das Täfelchen auf der Brüstungsmauer gelesen. Da wurde nicht der Auswanderer gedacht, wie bei der „Helvetia“ am Kleinbalser Ufer, sondern an eine „Wagner-Bürckel-Aktion“ erinnert. An die Tage im Oktober 1940. An Deportationen. Erst überrascht, dann konsterniert stand der Reisende davor.

Es war nicht ein halber Tag verstrichen, da die über 90-jährige Mutter bei seinem Besuch u.a. erzählte, wie sie im Spätsommer 1940 im Nord-Ostsee-Kanal zusammen mit einem Wehrmacht-Flieger-Leutnant in einem wollenen Badekleid geschwommen habe.

Juckreiz habe es gegeben.

Auf einen Kassenbon kritzelte Ernst jetzt einige Angaben, steckte sie in die Rucksackseitentasche und suchte nach Abendsonnenstrahlen, um so mancherlei Gedankentänzen aus dem Weg zu gehen; dass es gegen den Willen des Himmels keine Macht gäbe, kein Falsches, nur das im Moment unrichtige. Dass unsere Grossmütter gewusst hätten, wie Kaninchen kopulieren und die Matrosen ihr weisses Schiff ebenso lieben würden, wie das Blau des Himmels über ihnen. „Gelobt seist Du Ewiger, der die Meere geschaffen und die Erdteile hast werden lassen …“ hätten Juden in ihrer Stube möglicherweise noch gemurmelt, bevor kräftige Hände sie in Richtung der Sammelorte zerrten.

Der Passant nahm später die Wendeltreppe, überflog flüchtig die Fahrpläne von Fernbussen und bemerkte nicht, dabei etwas von der Sosse „Nichtscharf“ aus der Teigtasche vom Kebab-Stand von nebenan auf den Bürgersteig hatte tropfen lassen. Dem Stimmengewirr in der Unterführung suchte er möglichst rasch zu entkommen, gelangte auf den Mittelperron, erreichte die zischenden Schwenktüren, schob sich an drei Velos vorbei und liess sich in eine Doppelsitzreihe fallen. Wäre da nicht noch ein Quartett eingestiegen, laut und mit Bierboxen unter dem Arm, Ernst wäre so bis zum Badischen Bahnhof gereist. Sattdessen ging er auf das Oberdeck in den nächsten Wagen. Dort gelang eine Plauderei mit einem ca. 30-jährigen Pendler aus Krotzingen, der neue Utensilien für sein Bogenschützenhobby erstanden hatte.

Seiner Mutter erzählte Ernst weder am Telefon nach seiner Rückkehr, noch Wochen später von der Freiburger Begegnung und den anschliessenden Erkundungen und Korrespondenzen. Das begann er erst nach der ersten Etappe. Als er der über 90-Jährigen auch eigene Bilder und Erlebnisse mitbringen konnte. Doch vorläufig kein Wort von Heinrich, welcher am Vormittag des 20.Oktober seine Wohnung hatte verlassen müssen.

Auf Befehl hin des Gauleiters für Baden, Robert Wagner.

Dieser war zusammen mit dem „Gauleiter Westmark“, Josef Bürckel am 25.September 1940 aus der Reichskanzlei von Adolf Hitler verabschiedet worden mit dem Befehl, die ihnen unterstellten Gebiete „judenfrei“ zu machen.



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Auszug aus Kapitel 6:

3. Etappe: Lyon – Lannemezan – Gurs / Gedenkkultur

Gegen Ende des 9. Kapitels war von einer Klammer, einer Literatur-inspirierten Klammer geschrieben worden. In der Hoffnung, dass ein Geschichts-Bewusstsein erweiternder Luftzug durch die Räume der Zeiten und der Gelegenheiten, in denen wir zu tun haben, oder in denen wir uns absichtslos aufhalten, zirkulieren kann. Nunmehr sei von einer Bilder-gestützten Klammer die Rede. Von zwei Bildern. Das eine wurde aufgenommen in Mannheim. In der Altstadt, dort u.a. wo Charlotte Siesel mit ihrer Familie, Albert Dreyfuss und Heinrich Kaufmann gewohnt hatten, bevor sie am 20.Oktober 1940 den Deportationszug nach Oloron Saint Marie besteigen mussten. Charlotte überlebte, wohnt heute im Norden von Israel, Albert und Heinrich verstarben in Lannemezan, im Süden Frankreichs. Das Mannheimer Foto zeigt eine senkrechte Reihe von Briefkästen. Matte Farbe. Glattes Aluminium. Metallenes Grau. Auf den Schilder-Etiketten stehen Vornamen wie Ramazan, Davut, Mikail. Es sind Namen von Flüchtlingen. Menschen aus dem Orient. Vertriebene, so wie die Kohanim - sie nannten sich später Cohen - in und nach der Zeit römischer Besatzung Palästinas.

Einer der Flüchtlinge und der Pilger unterhielten sich (292) im Frühsommer 2014 unweit der im Boden eingelassenen Stolpersteine, die an die beiden Kaufmann-Geschwister, den alten Kaufmann Dreyfuss und das Ehepaar Siesel mit ihrer Tochter gemahnen.

Insofern kann es nicht von ungefähr kommen, an einen Jahrtausende alten Auftrag zu erinnern. Zumal in einem Staat, auf einem Kontinent, der für sich in Anspruch nimmt, die Zivilisation und das christliche Abendland zu vertreten. Was selbstverständlich ebenfalls gegenüber Menschen, die versuchen nach dem Koran zu leben zu gelten hat. Zudem: Juden und Christen haben sich an der Moses-Überlieferung zu orientieren: „Eine Weisung und ein Rechtsei für euch und für den Fremden, der unter euch weilt.“

Dazu ein aktueller - keinesfalls einmaliger- Vorfall; realer Stand gesellschaftlicher Aufklärung in Deutschland : Ruhrgebiet. Region im Wandel. Der Geruch von Hochöfen und Metall schwängert nicht mehr die Luft. Dafür fehlen Ausbildungs- und Arbeitsplätze. In dieser Region, in Schwerte, setzt die Stadtverwaltung darauf, Asylbewerber in Baracken unterzubringen.

Es sind Aufseher-Baracken eines ehemaligen KZ-Aussenlagers. Bedenken und alternative Vorschläge werden beiseite gewischt „…Die Stadt Schwerte weist die Kritik Medienberichten zufolge zurück. Die Errichtung von Containern sei aus Kostengründen nicht möglich…“  Ähnliche Diskussionen Januar 2015 in Augsburg, Bayern, Deutschland.

Ein Bild des späteren Pilgers: er steht im Novembergrau 2010 vor einem Metall-Gitter-Tor; darinnen die Aufschrift: „Jedem das Seine“. Der spätere Gang durch die Ausstellungsräume der Gedenkstätte Buchenwald hat etwas Beklemmendes. Dorthin war der damals 47-jährige gefahren, während dem er auf Einladung des Künstlerehepaares Marion Linke und Michael Marx (295) sich in Weimar aufhielt. Denn in den KET-Fabrikationshallen, wo zu DDR-Zeiten Landmaschinen und bis 1945 Rüstungsgüter durch die „Wilheln-Gustloff-Stiftung“ hergestellt wurden (296), waren nun Installationen eingerichtet worden zum Krieg in Afganistan, sowie zu dessem medialen Kontext, nebst den militär- und gesellschaftlichen Polit-Strategien. (297)

Fünf Jahre nach der Ausstellung ist es frappant festzustellen, wie damalige Exponate gewissermassen eine nahtlose Verbindung zwischen 1935 und 2015 geknüpft haben: Werkzeugmaschinen und Bilder aus der Nazi-Zeit, ein sowjetischer Panzer, US-Militär- Collagen, eine Burka. Nebenan fotografischer Realismus auf Leinwand von zerstörten orientalischen Strassenzügen in unmittelbarer Nähe von Goethe-umkränzten Fassaden in Weimar, Abbilder von verfolgten Kindern und Frauen, gefolterten Menschen in Asien oder Afrika. Eine Welt aus den Fugen. Doch zudem: de?? „Bazonale-„ und „Buchenwald“-Besucher hat damals nicht die leiseste Ahnung, dass sein Vorfahre 1938 an dieser Fabrik vorbei musste und wenige Wochen später hinter Stacheldrahtreihen von Mörderbanden hinweggerafft wurde, nachdem vier Jahre zuvor „Schnäppchenjäger“ über seinen Besitz hergefallen waren.

Bislang hatte der Tourist keine Erfahrung darüber gesammelt, wie irisierendes Grau wirkt, dass überhaupt es dergleichen gibt. Sonderbar schillerndes Grau. Seh- und fühlbar Vielschichtiges. Solches Grau, welches sich von der Seele nicht abwaschen lässt, sondern dabelassen bleiben will, um sich selbst möglicherweise eines Tages wieder abzulösen. Dann nämlich, wenn es Verbindung aufnehmen könnte zu anderem Grau. So geschehen mit dem Grau zwischen den Gleisen und den Gebäuden in Mannheim, in F 10, beim Bahnhof, in Lyon, Pau und Oloron- Saint-Marie und dem verfluchten Gurs, wie hinter den Psychiatriemauern von Lannemezan.

Ach, wenn der verfluchte Buchenwald sich gewissermassen anschmiegt an den Fuss der Pyrenees, wo ebenfalls die Nässe des Klimas und das Grausamkeitige von Familienvätern in Uniformen den Tod in die Lebenslinien der Internierten ritzten. (298) Gefühlte Informationen lassen sich nicht zusammenfalten, weglegen wie eine Tageszeitung. Vielmehr besetzen die besuchten Orte zeitweise die Neuronen vom Scheitel bis ins Mark. Dazu die Nächte. Die ruhigen wie die schlaflosen. Als seien es die damaligen, die selbst nach Jahrzehnten wieder aufleben. Nun in den Nächten der Nachkommen. Nach Besuchen. In Archiven mit betastbarem Papier. Welche den Eindruck hinterlassen, als kämen sie von nebenan, wo der damalige Schreiberling noch soeben seine Nase geschneutzt hat. Und es kann durchaus Kraft kosten, dergleichen Irritationen nicht auf die Gedächnisfelder zu lassen. In ähnlicher Weise erlebbar auch auf dem Gelände Psychiatrischer Kliniken wie in Düsseldorf-Grafenberg oder Lannemezan, an Wohnadressen in Köln, Mannheim und Bad Homburg. Wenn unwillkürlich die Zeit Gedanken vor sich her treibt; vom beschnittenen Heinrich, neben dem Albrecht und dem Autor, der wiederum neben seinem Bruder Martin, seitwärts die beschnittenen und getauften Max und Ernst. Die sich als Schemen über Monate freundliche Blicke auszutauschen beginnen, weil an sie gedacht wird. Unter dem Scheitel und dem Himmelsgewölbe; als eine spezifischunkonkrete Schicksalsgemeinschaft, die sich quasi unter riesigem hellen Gedankenleinen niedergelassen hat, wo nichts nur drinnen oder draussen ist. Blicke, die unwiederbringlich sind und gleichwohl auf Erinnerungsäckern liegenbleiben. Ebenso wie alle Momente einer Pilgerschaft, die an einem Abend begann, als ein bronzener Mantel im Breisgau nicht übersehen worden war. Den Wegen, so unübersichtlich sie auch in und zwischen den jeweiligen Biographien sein mögen, ist neben dem rein Faktischen eine Qualität jenseits aller Schlagwörter eigen. Der gleichen Eigenschaft lässt sich „gefühlte Bilder“ nennen. Manchmal ist es ein winziges Detail, wie ein orginaler Haftbefehl. Ober ein letzter Namensschriftzug auf einer KZ-Karteikarte. Ein winziges Stücklein eines ganzen Weges. Das aber unerwartete Schmerzen auslöst. Wie nach grossem Verlust. Nach den grossen Verlusten der Vorfahren. Als der Weg nicht mehr war, als das nackte Leben. Wo die Tages- und Jahreszeiten mitsamt allen Lebensjahren und Erfahrungen verklumpen zu einem Überlebenwollen. Was aber dann auch nicht mehr sein soll, weil den Beschnittenen nicht einmal der Zipfel des Am-Leben-Bleibens von den Nazi-Tätern und ihren Ideologen überlassen blieb. Dem Nachkommen bleibt die Hintertüre zur Gegenwart. Die gefühlten Bilder suchen sich von selbst ihre Aufbewahrungszellen.

Überdies wartet die Bahnrückfahrkarte in der Jacken-Innentasche draussen bei der Garderobe. Und in der Brust das Gefühl von Scham. Die bleibt wie eine Glut. Aus der sich bisweilen ein Funke löst angesichts von Nachrichten über Grausamkeiten und Gedankenlosigkeiten in unseren Tagen. Ein Funken, der dann Petitionen unterschreiben, an Demonstrationen teilnehmen, und Manifestationen organisieren lässt (299).


Die Velo-Pelerinage zwischen Mannheim und Gurs war in Etappen geplant worden. Nicht planbar freilich waren die Botschaften und Erkenntnisse, die sich in den Etappenpausen anhäuften. Beispielsweise nach einem Brief. Aus der Schweiz, Israel, aus Deutschland und Frankreich. Oder während eines Besuches in einem Archiv. Am Rhein, am Main, an der Ruhr. Wo den Nachrichten und Berichten fliessende Fragen folgen. Die als Fragen nicht allein bleiben wollen. Gleich uns Menschen. (300) Die nur dann wirklich Mensch sein können, wenn sie sich auf die Fragen von lebenden wie die von toten Menschen einlassen. Selbst wenn sich keine Antwort einstellt, nicht eine einzige mehr gegeben werden kann. Weil die Menschen tot sind. Weil Akten verbrannt sind. Weil Dokumente gezielt geschreddert worden sind. Doch auch dies kann eine der gefühlten Gewissheiten einer Pelerinage werden; dass die Fragen der Toten dieselben Buchstaben in sich tragen, wie diejenigen der Lebenden.

Wo der Buchstabe zu einem Laut werden kann, da wird Verschweigen von Vergangenheit unmöglich, wird umgewandelt, transformiert. Teilchen für Teilchen, Stück um Stück. Und die Themen neben den Fragen der Vergangenheit werden mit einem Mal aktuell. Wie Lüge und Unwahrheit, Neid und Denunziation. Gegenüber den Menschen jüdischer Herkunft , Sinti, den Roma, zu den Fremden, den Geflüchteten, den Nonkonformisten, gleichgeschlechtlich Liebenden.

Vor einem Bannspruch, einer Verbannung, vor einer Flucht sind immer Lügner am Werk gewesen; in unterschiedlichen Etagen. Ebenso wie vor den Deportationen (301) die Realitätsfälscher hinter verschiedensten Tischen. Vor einer Verhaftung eines Menschen wie Walter oder Ernst Cohen tuschelten die Neider und Denunzianten . Deren Nachahmer und Nachfolger immer wieder, so auch heute, Wasserträger und Gefolgsleute von Populisten und Rassisten werden. Aber auch von Bürokraten. Selbst in Friedenszeiten. Ein trügerischer Frieden ohnehin. Weil z.B. Heinz Reinefath jahrzehntelang Bürgermeister auf Sylt und Landtagsabgeordneter in Kiel sein konnte. In Polen ist er als „Henker von Warschau“ bekannt. Doch erst 70 Jahre später bekundet der Schleswig-Holsteinische Landtag sein „tiefes Mitgefühl“ gegenüber den Opfern. 70 Jahre nach dem Massaker im griechischen Distomo sucht die Bundesregierung mit weiteren juristischen Winkelzügen die materiellen Konsequenzen eines Schuldeingeständnisses zu umgehen. In Neustadt an der Weinstrasse wird Josef Bürckel auf dem Zentralfriedhof geehrt, während die Überlebenden nicht einmal ein Antwortschreiben des CDU-Bürbermeisters bis heute erhalten haben und in der „Lutherr- Dekade“, 2008-2017, ist bislang keine breite Diskussion über dessen Juden-feindliche Parolen und ausgrenzende Schriften festzustellen, währrend die „Judensau“ unkommentiert an Gotteshäusern prangt und ausländerfeindliche Parolen auf der Strasse skandiert und in Landesparlamenten kolportiert werden (302).

Auf der anderen Seite gab es nach der deutsche Kapitulation 1945 diverse Bemühungen, Übeltäter der Justiz zu überantworten; wenngleich mit magerem Erfolg (303). Zugleich bemühten sich, mitunter gegen erhebliche Widerstände, zahlreiche Menschen, v.a. nach 1975, um eine respektvolle Gedenk-Kultur angesichts von zahllosen Opfern und deren Hinterbliebenen.

Die Verlegung von „Stolpersteinen“ war und ist dabei nicht frei von Ungereimtheiten und Gedankenlosigkeiten. (304) Gleiches gilt für die psychiatrisierten Menschen, die bis heute an keinem Gedenkort genannt sind. Zu ihnen gehören auch Heinrich Kaufmann und Albrecht Dreyfuss aus Mannheim. Insofern wandte sich der Velo-Pilger nach seiner Rückkehr an den „Zentralrat der Juden in Deutschland“, Berlin, an die „Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ und die verantwortlichen Behörden in Stuttgart und Karlsruhe, die sich in Gurs früher auch materiell beteiligt hatten, sowie an den Bürgermeister von Lannemezan. Eine Bronce-Tafel in Gurs und Lannemezan soll die Zeit der Namenlosigkeit beenden. Damit gepaart ist keinesfalls die Illusion, rassistische Worttiraden und Gewaltattacken, kleinbürgerliche Diffamierungen Andersgläubiger oder Träger anderer Hautfarbe liessen sich verhindern. Aber es ist ein Kontrapunkt in der Konsumlandschaft dieser Tage, wenn durch sichtbare Zeichen das Bewusstsein für dergleichen Menschenrechtsverletzungen angemahnt und geschärft werden kann. Und sei es auch durch ein kleines Memorial.

Wie wirksam Dergleichen selbst für eine individuelle Biographie sein kann, beweist das Zusammentreffen beim Hauptbahnhof im badischen Freiburg. Denn ohne die Erinnerung an die Deportierten vom Oktober 1940 wäre der Besuch im Winter 2015 in Dachau, wo die Anverwandten leiden mussten, wahrscheinlich nicht geschehen. Tote können tatsächlich Wegweiser sein. Sich Toter zu erinnern, kann die eigene Seele in erweitertem Sinne beheimaten. Dann, wenn sich die Ruhe einstellt, dem Klang eines Namens nachzulauschen. Selbst mit dem Namen gerufen worden zu sein, mit dem ein Vorgeborener gerufen wurde. Heute Adressat von so mancher Post zu sein mit einem Namen, der identisch ist mit einem Menschen, der ebenfalls eingeschrieben ist im gleichen Stammbaum; nicht einmal vor langer Zeit. Der aber ein völlig anderes Schicksal zu erfüllen hatte. Ein schmerzliches noch dazu. Womit einzelne Bilder eines psychodynamischen Wochenendes vor der Jahrtausendschwelle eine generationenübergreifende Relevanz bekommen. Was dazu führen kann, dass nach Jahrzehnten damalige einzelne Trance-Konfiguration für den Erlebenden eine konkretere Bedeutung gewinnt.

Diametral dazu eine grassierende Zusammenhanglosigkeit und Gedankenlosigkeit. Die nicht Halt macht vor Gedenkkultur. Wie in Dachau. Wo noch immer ein grosses Loch klafft, nachdem Übel-Täter das schmiedeeiserne Tor stahlen. Noch immer sind die Täter nicht ermittelt worden. Nicht einmal eine Kopie des „Arbeit macht frei“ gibt es, obwohl die Partnerstadt Fondi (Italien) sofort und spontan dergleichen offeriert hatte. Doch die bayrischen Instanzen haben sich für dies Zeichen der Solidarität weder bedankt, noch für die Offerte entschieden. (305) Der Satz „Arbeit macht frei“ gilt offensichtlich im Ausland mehr als Synonym für Zynismus und Ausbeutung von Menschen als im Land der Täter. Er gilt als Symbol einer pervertierten Aufklärung und fehlgeleitetem Idealismus. Doch offensichtlich nicht bei der deutschen Macht- Elite. Immerhin war das KZ Dachau Schulungs- und Modell-Einrichtung der SS. Nach dem Krieg wurde es zu einem Beispiel von Verdrängen und Verwischen. Daran haben sich auch lange die Amtskirchen (306) beteiligt oder betätigten sich als Usurpatoren. Das Gerangel um die Errichtung eines katholischen Klosters direkt auf dem KZ-Areal zeugt von weit verbreiteter mangelnder Sensibilität. Erst ausländische Interventionen brachten eine kleine Korrektur. Der Zugang zum Kloster führt heute durch einen ehemaligen Wachtturm auf der Nordseite des Geländes. Unweit davon laufen allerdings Uniformierte der bayrischen Bereitschaftspolizei über die Stufen der Dienstgebäude, in denen die SS-Chargen bis zum April 1945 ihre Befehle erhielten.

Wobei es offensichtlich nicht zum Leistungspaket der Bayrischen Bereitschaftspolizei gehört die Eingangspforte des ehemaligen Konzentrationslagers, 300 Meter von ihr entfernt, wie auch die übrige Erinnerungs-Infrastruktur vor Dieben und Frevlern zu schützen. (307) Zum jüngsten Anschlag in Dachau schreibt das „United States Holocaust Memorial Museum“, Washington: Die Institution „fordert die deutschen Behörden eindringlivh auf, dieses Verbrechen vollständig aufzuklären und dafür zu sorgen, dass in ganz Deutschland angemessene Sicherheit und Schutz für solche historischen Orte gewährleistet werden.“

Währendem sich Bundes- und Landespolitiker scheinbar überrascht die Augen reiben, brennen nach einem Brandanschlag geplante Wohnungen für Flüchtlinge. Mit Flugblättern und Schmierzeichen melden sich im fränkischen Vorra die Urheber. Gefasst sind sie selbst nach Monaten nicht. Ihre Vorläufer, wenn sie denn ermittelt und verurteilt wurden, konnten mit vergleichsweise milden Strafen rechnen. Sie haben Hunderttausende von Sympathisanten in Deutschland und anderswo, wovon Zehntausende Ausländer-/ Religions-und Medienfeindliche Parolen skandieren; nicht erst seit 2015.

Vor ihnen schon hatten Landesväter und ihre Entourage Losungen ausgegeben wie: „Wer betrügt, der fliegt!“ Generalverdacht gegen Bevölkerungsminderheiten und Bürgerkriegsopfer. Derartige Äusserungen offenbaren, dass es kein breit abgestütztes und gefestigtes geschichtlich aufgeklärtes Bewusstsein in Behörden und zahlreichen Politiker- und Bevölkerungskreisen gibt. Stattdessen lockeres oder brutales Geschwafel gegen Leid-geprüfte Menschen nach leichtfertigen Waffenlieferungen aus deutschen Landen. Auch der IS-Terror wurde mit Dollar und Euro quasi vorfinanziert. Ob in Lybien, dem Iran oder dem Irak. Verlorene Heimat tausender Flüchtlinge.

In solchen Tagen, vor derartigen Tatsachen, vermag eine rein museale und Gedenktagen- Ritualien-zentrierte Erinnerungskultur kaum Gegensteuer zu geben. Dagegen sind praktische Projekte, ob individuell oder in Gruppen (309), begleitet von Medienberichten oder Transparenz und Aufklärung implizierende Manifestationen in der Öffentlichkeit von längerfristiger Wirksamkeit. Die Ermahnungen der Überlebenden aus Gurs, Buchenwald, Dachau und den anderen Konzentrationslagern müssen zu Mantra und Motivation aller Menschen werden: „Wehret den Anfängen!“

Damit es für die Bedrängten, wie für uns selbst, eine schöne Zeit in diesem Land gäbe.



Der Autor

PAUL-ERNST COHEN

... in Bendorf (Rhein) als eines von fünf Kindern geboren, wollte am liebsten Lego, Violine und Basketball spielen; was über Jahre in Düsseldorf und Hilden auch ging. Doch später statt d-moll-Konzerte streichen, lieber „Steppenwolf“ und „Ton Steine Scherben“ hören. Dann studieren und gegen „Reformen“, Berufsverbote und Atomkraft demonstrieren.

Weitaus erfreulicher: Heirat mit einer Schweizerin und Geburt des ersten Sohnes. Ab 1978 arbeitet Cohen in verschiedenen Heimen verschiedener Kantone, bevor er mit seiner Frau eine Pflegefamilie gründet. Daraus entwickelte sich das „Haus Tobias“, ein Lebensort für erwachsene Menschen. In dieser Zeit werden auch Ausstellungen und Matineen realisiert.

Nach dem Krebstod seiner Frau, der Schließung der Kleininstitution 2010 und dank neuer Lebensgefährtin folgen neue Ziele. Darunter 2014 eine Velo-Pilgerfahrt von Mannheim nach Gurs (Fr). Ein Resultat dieser Reise ist das Buch: „Kein schöne Zeit in diesem Land“.



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