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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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ONLINE-EXTRA Nr. 176

Januar 2013

„Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.“ Mit diesen unmissverständlichen Worten verbannte die Evangelische Landeskirche von Nassau-Hessen im Dezember 1941 mehrere tausend „nichtarische“ Mitglieder aus ihren Gemeinden. Der Besuch von Gottesdiensten, die Teilnahme am Abendmahl und die Bestattung auf christlichen Friedhöfen wurde ihnen fortan verweigert. Ähnlich wurde auch in anderen evangelischen Landeskirchen vorgegangen.

Dem Schicksal dieser getauften, ausgestoßenen und vergessenen evangelischen Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich widmete sich eine Ausstellung, die im November letzten Jahres in Frankfurt zu sehen war. Zu diesem Anlass hielt der evangelische Theologe und Pionier im christlich-jüdischen Dialog in Deutschland Martin Stöhr am Buß- und Bettag in der Frankfurter Paul Gerhard Gemeinde eine Predigt, die von dem Predigttext "Gerechtigkeit erhöht ein Volk" (Spr. 14,34) ausging und die im nachfolgenden ONLINE-EXTRA im Wortlaut dokumentiert ist.

Am kommenden Sonntag, 27. Januar, begehen wir den offiziellen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Vielerorts hat sich der gute Brauch entwickelt, an diesem Tag den unterschiedlichen Opfergruppen des nationalsozialistischen Terrors zu gedenken. Der vorliegende Predigttext scheint mir sehr gut geeignet, zu diesem Anlass auch an das Unrecht zu erinnern, das den getauften evangelischen Christen jüdischer Herkunft widerfahren ist: "Gerechtigkeit erhöht ein Volk (Spr. 14,34)" - Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Evangelische jüdischer Herkunft".

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2013 Copyright beim Autor 
online exklusiv für
ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 176


"Gerechtigkeit erhöht ein Volk" (Spr. 14,34).

Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Evangelische jüdischer Herkunft.
Eine Predigt


MARTIN STÖHR



Liebe Gemeinde!

Heute kommen einige Menschen zu Wort, die unter Ungerechtigkeit gelitten haben sowie Menschen, die im Dienst  der Gerechtigkeit Gottes hilfreich und Leben rettend gehandelt haben. Sie predigen, sie helfen uns, die vier gewichtigen Worte „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ zu verstehen.


I

Genau vor 74 Jahren, am 21. November 1938, sucht Jochen Klepper in Berlin Hilfe bei staatlichen Stellen, um für seine Frau und zwei Töchter eine Ausreise zu bekommen. Seine Frau und die Kinder stammen aus einer Breslauer jüdischen Familie. Die jüdischen Gotteshäuser waren verbrannt. Jochen Kleppers Adventlied „Die Nacht ist vorgedrungen“ entsteht im selben Jahr.

Nach dem erfolglosen Behördenbesuch notiert er abends in sein Tagebuch „Koch sprach bitter davon, dass kein Schritt der Kirchen für die Judenchristen erfolgt sei.“ Seine Enttäuschung wächst. Fünf Monate später muss er schreiben: „Die Kirche fürchtet sich vor dem Staat, nicht vor Gott!“ Wieder am 21. November, drei Jahre später, vertraut er seinem Tagebuch an, dass eine gute Bekannte der Familie, die Breslauer Vikarin Katharina Staritz – später Pfarrerin in Frankfurt/M -  sich „in einer gefährlichen und ungeklärten Lage befindet“. Warum? Sie hatte an alle evangelischen Gemeinden Breslaus geschrieben, man möge sich der Gemeindeglieder annehmen, die den gelben Judenstern tragen müssen. Kaum ein Gemeindeglied reagiert. Wohl aber antworten Staat und Partei mit einem Rundbrief der Gestapo, in dem „vor dem Weib gewarnt wird, das die Juden protegiere“. Katharina Staritz wird entlassen, das Gehalt wird weiter bezahlt, aber sie soll die Stadt verlassen, ordnet die Kirchenleitung an. Niemand kümmert sich um die getauften Juden.

Es ist das Jahr 1941, in dem einige evangelische Kirchenleitungen ihren christlichen Gemeindegliedern jüdischer Herkunft verbieten, ihre Gemeindegottesdienste zu besuchen, denn: „Rassejüdische Christen haben in der Kirche keinen Raum und kein Recht.“

Kleppers Enttäuschung schlägt in Hoffnungslosigkeit um. 1942 geht er mit seiner Frau und Tochter in den Tod, ehe Gott ihn ruft. Wie viele sieht  er keinen andern Ausweg vor der bevorstehenden Deportation in ein Vernichtungslager. Frau Staritz gehört zu denen, die  „Mutig für Menschenrechte“ eintreten, wozu die heute zu Ende gehende Friedensdekade einlädt – uns einlädt. Familie Klepper steht für jene, die in ihrer Nachbarschaft und Gemeinde keine Helfer finden.

Zwei Helferinnen in dieser Zeit muss ich erwähnen. In Freiburg  erfährt die Mitarbeiterin der Caritas, Dr. Gertrud Luckner, dass eine erste Deportation Freiburger Juden geplant ist. Neben diesem tapferen Informanten findet sie einen Arzt, der die Bedrohten mit der Diagnose „Diphterie“ in die Quarantäne-Station einer Klinik einweist. Von dort können sie über die Grenze in die Schweiz fliehen. Helene Jacobs besorgt in Martin Niemöllers Gemeinde in Berlin-Dahlem Pässe, indem einige „arische“ Gemeindeglieder am Ende des Gottesdienstes in einen Extra-Opferstock (neben dem für die Sonntagskollekte) ihre Pässe werfen, also „verlieren“. Durch den jüdischen Graphiker Cioma Schönhaus werden sie gefälscht und ermöglichen einigen Jüdinnen und Juden die rettende Ausreise. Beide Frauen bezahlen ihre mutige Kreativität und Solidarität mit einer Einweisung ins KZ, das sie zum Glück überleben.


II

Unser Predigtspruch stammt aus einer Sammlung von Sprichwörtern und Lebensweisheiten, wie sie nicht nur in der biblischen Tradition im Umlauf waren. Bekannt davon ist zB „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ oder „Der Mensch denkt, Gott lenkt!“ Sie dienen zur Bewältigung des Lebens – nicht nur für das persönlich-private Leben, sondern auch für das Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen und Gruppen.

Als Verfasser oder Sammler dieser 31 Kapitel der „Sprüche“ wird der König Salomo genannt. Die Rede vom „salomonischen Urteil“ und die Tatsache, dass er in seiner Regierungszeit vor ca 3000 Jahren - im Gegensatz zu seinem Vater David - keine Kriege führte, machen sein Erbe für uns wertvoll: Das Eintreten für ein menschenfreundliches Recht und für ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker - das erhöht ein Volk.

Wie legendenhaft mancher Zug von Salomos Leben auch ausgeschmückt sein mag – sein Erbe verpflichtet uns, dem Recht gegen Unrecht und dem Frieden gegen Hass zum Durchbruch zu verhelfen. Denn wir sind das Volk – dazu bestimmt, sein Niveau durch Menschlichkeit zu gewinnen und sich nicht durch Unmenschlichkeit zu zu erniedrigen.


III

Buß- und Bettage sind eingerichtet, um Unrecht und Rechtlosigkeit in unserer Gesellschaft nicht zu vergessen, genauer: Weder die Menschen zu vergessen noch zu übersehen, die zu Opfern einer menschenfeindlichen Verachtung und Verfolgung früher einmal wurden und heute werden. „Buße“ bedeutet,  umzukehren von den Wegen der Gleichgültigkeit und nach den Wegen der Gerechtigkeit zu suchen. „Beten“ sucht nach dem Beistand Gottes und die Unterstützung durch Mitmenschen.

Es geht nicht darum, den heutigen Generationen die Schuld unserer Großeltern oder Urgroßeltern aufzubürden, sondern darum, sensibel zu werden für Unrecht und Gewalt - auch wenn es wissenschaftlich oder amtlich, in den Medien, einleuchtend oder gefällig daher kommt - wie es zB folgende Stellungnahme des Verbandes deutscher Standesbeamten von 1926 zeigt: „Der geistige und körperliche Wert (eines Menschen) hängt von seinen Erbanlagen ab.“ Todesurteile über Menschen werden nicht nur in Gerichten, sondern schon viel früher in Gedanken und Meinungen gesprochen. Das zeigt auch das nächste Beispiel:

Der Arzt Dr. med. Hans Harmsen schreibt 1931. „An die Stelle der Annahme einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen tritt die Erkenntnis ihrer ursprünglichen Ungleichartigkeit. Die Ergebnisse der Vererbungsforschung erschüttern zutiefst das ganze bisherige Erziehungssystem!“ Drohendes Unrecht wird früh angezeigt.

Viele denken so: Eine völkische, eine rassische und nationale Zugehörigkeit bestimmt den Wert eines Menschen – besser: Mächtige und ohnmächtige Leute kleben mit ihrem Urteilen, mit ihren Vorurteilen, in modischen Trends oder auch mit staatlichen Gesetzen dieser oder jener Menschengruppe ein Etikett auf. Es soll sie erniedrigen – und mich selbst dadurch zugleich erhöhen. Aber es gibt  biblische Maßstäben einer göttlichen Gerechtigkeit. An ihr sind die Ausgegrenzten, Diffamierten und Verachteten von heute, jene, die anders glauben, zweifeln, singen, essen zu messen. Jede und jeder hat eine zwar verletzliche, aber durch Menschen nie wegnehmbare Würde. Sie verdanken wir allein unserer Gottebenbildlichkeit.

Werden aber Maßstäbe  der Tierzucht benutzt - wie: „wertvoll“, „weniger wert“ oder „wertlos“ – dann werden Menschen aussortiert. Das gelingt nur, wenn genügend Gleichgültige und Wegschauer den Machthabern, der Öffentlichkeit und den Medien freie Hand lassen – mit dem Argument „Da kann man nichts machen!“ Oder „Ist nicht doch was dran, was über die da gesagt wird“? So zu denken und zu reden erniedrigt ein Volk durch kleine und große Ungerechtigkeiten. Seit Kain und Abel wissen wir, dass Gott auf die feige Frage „Soll ich meines Bruders, meiner Schwester Hüter sein?“ natürlich sagt: „Ja!“ Denn jeder Mensch ist des Einen Gottes einmaliges, kostbares Ebenbild.

Noch einmal: Es geht uns heute nicht darum, Gefühle von Schmach und Schande auszubreiten, sondern darum, auf jene Menschen aufmerksam zu machen, die Juden und Nichtjuden geholfen haben. Aber auch auf die  zu hören, die damals aus der Nachbarschaft, aus Schulen und Vereinen, aus Verwaltungen und Medien sowie aus den christlichen Gemeinden verschwanden, die im Lager oder im Exil untergingen, ohne dass es den meisten Mitmenschen oder den Gemeinden auffiel, dass da nebenan jemand fehlt. Dabei gilt damals wie heute: Jeder und jede kann wissen, wenn er / sie wissen will, was neben mir geschieht. Jede Verächtlichmachung und jede Deportation geschah ab 1933 in der Öffentlichkeit. Die Medien berichteten davon.

Die Christinnen und Christen unter den „Ausgestoßenen und Vergessenen“ gehören durch die Taufe zu Jesus von Nazareth, dem Christus, wie alle Christinnen und Christen, wie die wenigen, die helfen genauso wie die vielen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen wollten. Als der aus der berühmten Familie Mendelssohn stammende Arnold Mendelssohn, Kirchenmusikdirektor in Darmstadt und Vorsitzender der Evangelischen Kirchenchöre, 1933 seinen Beruf und seine Ehre verlor, da sangen die Chöre weiter, als sei nichts geschehen.



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IV

Hartmut Schmidt hat mit vielen Helferinnen und Helfern eine Ausstellung  eingerichtet, das Schicksal vieler Menschen aus den christlichen Gemeinden Frankfurts erforscht, Stolpersteine wurden gelegt, Zeitzeuginnen gehört. Menschen, die völlig aus dem Gedächtnis der Kirchen und der Gesellschaft verschwunden waren, haben wieder ein  einen Namen, ein Gesicht und – ja auch wieder - eine Stimme. Die Ausstellung hier in der kleinen Kirche zeigt das. Auch in dieser Predigt kommen die zu Wort, die ganz stumm gemacht werden sollten. Sie haben etwas zu sagen und sie helfen, zu verstehen und zu leben, was unser Predigttext sagt „Gerechtigkeit erhöht ein Volk!“ 

Ich erzähle zB von einem Menschen, dessen Name durch seinen heute über 90jährigen Sohn bestens bekannt ist. Der heißt Stephan Hessel, schrieb gegen die gegenwärtige Gleichgültigkeit und Unterhaltungssucht die beiden kleinen Bücher „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“

Ich höre jetzt aber auf seinen Vater Franz Hessel. Er war in seiner Kindheit protestantisch getauft worden. 1935 entließ ihn der Rowohlt-Verlag, wo er als Lektor tätig war, weil er ein „nichtarischer“ Christ war. So hatten ihn die „Nürnberger Gesetze“ aus demselben Jahr 1935 „erniedrigt“. Hessel schrieb nach dem Berufsverbot in unserem Land einen Vers als Anfang eines Gedichts, „das ich wohl nicht mehr vollenden werde“. Er schrieb das für die Dichterin Mascha Kaleko, deren Bücher, weil jüdisch,  Rowohlt 1935 auch nicht mehr druckte. Franz Hessel schreibt – mit einem gewissen Stolz:


„Wir sind die nichtarischen Christen.
Sind wir nicht auch ganz nett?
Als erster auf unseren Listen
steht Jesus von Nazareth“


Er starb 1941 im Exil in Sanary sur Mer, Mascha Kaleko nannte ihn ihren „Heiligen Franziskus“ und widmet ihm als Nachruf ein Gedicht:


Er ruht voll Sanftmut und Melancholie
in Frankreichs Erde, nah  bei Sanary
und redigiert im Schatten edler Palmen
fürs Paradies die allerneuesten Psalmen.“


In den christlichen Gemeinden wurde und wird im Namen des Christus, des Juden Jesus von Nazareth, getauft. Ich werde die Frage nicht los, wie viel Wert ist uns die Taufe? Wenn Menschen zu Fremden gemacht werden und dann eine „fremdenfeindliche“ Stimmung und Gesetzgebung ungetaufte wie getaufte Menschen in Wertlose und in Wertvolle einteilt? Bietet die Gemeinde den Gefährdeten Schutz? Wenn nicht, wird dann das Sakrament der Taufe nicht verraten?

Im damaligen Deutschen Reich gab es etwa 300 000 bis 400 000 Christinnen und Christen, die unter die rassistischen Nürnberger Gesetze fielen und mehrheitlich im Stich gelassen wurden. Wird nicht der Leib Jesu Christi, so nennen die Apostel mehrfach, aber ganz einfach,  die christliche Gemeinde, zerrissen? Das geschieht in der Tat, wenn  wir nach denen nicht fragen und suchen, die doch auch auf der „nichtarischen Liste des Jesus von Nazareth“ stehen.


V

Wenn wir heute am Buß- und Bettag zusammenkommen, dann haben wir uns im Anfang des Gottesdienstes die eindrücklichen Worte aus den Klageliedern des Jeremia geliehen. Sie drücken das fürchterliche Elend von Menschen aus, deren Leben von Unrecht und Gewalt bedroht und geraubt wird. Ein helfendes Wort, eine helfende Tat erstickt leicht in dem Schweigen, das den Mund nicht auftut für die, die bedroht sind. „Tu deinen Mund auf für die Stummen“ – ebenfalls aus den Sprüchen Salomos - war das Lebens- und Handlungsmotto von Dietrich Bonhoeffer.

Wir hörten weiterhin einen Brief (aus dem letzten Buch der Bibel, Off 3,14-22) an die Gemeinde in Laodicea. Der auf die Insel Patmos verschleppte Johannes tröstet und stärkt die verfolgte Gemeinde mit der unbesiegbaren Hoffnung  Gottes, die sich in Jesus Christus stärker als alle Verfolger erweisen wird. Es ist nicht nur eine Hoffnung auf Gott, sondern auch Gottes Hoffnung auf seine Menschen. Zugleich schont Johannes die Gemeinde nicht. Er sieht, wie reich die Gemeinde ist und zugleich wie lau sie dahin lebt, weder heiß noch kalt, so dass er sie am liebsten ausspucken möchte. Tut er aber nicht. Er redet mit ihr über die gegenwärtige Zukunftsaufgabe, dass nämlich „Gerechtigkeit ein Volk erhöht“ und die ungerechte Macht sich auf Dauer nicht halten kann. Sie wird erniedrigt.

Das bekommen die  damals brutal verfolgten christlichen Gemeinden in Kleinasien zu hören. Vielleicht kennen sie in Laodicea auch die Erfahrung, völlig verlassen zu sein – wie die in Deutschland im Stich gelassene Dichterin Hilde Domin: 


„Menschen wie wir, wir unter ihnen
durften nicht bleiben
und konnten nicht gehen.
Menschen wie wir, wir unter ihnen
grüßen unsere Freunde nicht
und wurden nicht gegrüßt.
Menschen wie wir, wir unter ihnen
standen an fernen Küsten
um Verzeihung bittend,
dass es uns gab.“



VI

Am 8. Mai 1931 hat der junge Rechtsanwalt Hans Litten in einem Mordprozess einen gewissen Adolf Hitler als Zeugen zu vernehmen. Es ist dasselbe Gericht in Moabit, vor dem 6 Jahre später Martin Niemöller steht. Litten verteidigt mit dem Recht im Rechtsstaat der Weimarer Zeit Arbeiter und Gewerkschafter. Litten ist ein Christ jüdischer Abstammung. Über das zweistündige Kreuzverhör steht im Prozessbericht zu lesen: Der Rechtsanwalt Litten „vernahm den prominenten Zeugen mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn (Hitler) ein paar Mal wütend und ließ ihn  zwei Stunden beträchtlich schwitzen.“

Rudolf Olden, ein jüdischer Schriftsteller, der im Ausland Asyl findet, (und später den „Exil-Pen deutschsprachiger Schriftsteller im Exil“ gründet),  schreibt über Litten: er war erfüllt „von der übermächtigen Sucht, Unrecht zu lindern, Bedrohte zu retten, die Beleidigten und Erniedrigten zu erheben; ein Mensch, der…seinem innersten Wesen einfach ein Christ war…,dass er buchstäblich nach der Bergpredigt leben wollte.“ Hans Litten weiß: Ungerechtigkeit erniedrigt ein Volk. Damit das nicht geschieht, ruft und stärkt Jesus Christus seine Gemeinden durch Wort und Sakrament. Bis heute. Ich finde: Rudolf Oldens Beschreibung der Motive von Hans Litten ist ein gutes Programm, eine christliche Gemeinde aufzubauen.

1933 werden Nazis und konservative Deutschnationale mit  Mehrheit gewählt. Hitler wird Reichskanzler. Hans Litten, der sich bald der entstehenden Bekennenden Kirche anschließt, wird nach einiger Zeit verhaftet. Hitler hatte nicht vergessen, wer ihn einmal mit Fragen in die Enge getrieben hatte. Nach qualvollen Stationen in vielen Zuchthäusern stirbt Litten als einer der ersten Toten im KZ Buchenwald.


VII

„Sag` bloß nicht, dass Du jüdisch bist!“, so hörte ich es in dem Bericht einer Überlebenden. Ihre Mutter versucht das Kind zu schützen – in einem Versteck des Schweigens und Verschweigens. „Hauptsache Schweigen“ – so der Lebensbericht der „nichtarischen“ Pfarrerin Marlis Flesch-Thebesius. Konnte für die bedrohten Kinder und Erwachsenen das Schweigen über ihre jüdischen Vorfahren ihr Leben retten, so war und ist ein Schweigen von Christenmenschen für bedrohte Mitmenschen lebensgefährlich.

Ich muss noch einmal nach Moabit gehen. 1944 sitzt dort Albrecht Haushofer, ein Widerstandskämpfer, ein. Vor seiner Hinrichtung schreibt als sein Vermächtnis an die Nachgeborenen ein Gedicht. Ihn beschäftigt die Frage: Wie kann es so weit kommen?


„Ich trage leicht an dem, was das Gericht
als Schuld benennen wird: An Plan und Sorgen -
Verbrecher wär ich, hätt‘ ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,
ich musste schärfer Unheil Unheil nennen –
mein Urteil hab‘ ich viel zu lang gelenkt…
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab‘ mich selbst und andere belogen –
Ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –
ich hab‘ gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich, was ich schuldig war…!“


Muss ich noch etwas sagen? Haben die Stummgemachten nicht klar und deutlich zu uns geredet? Machen sie uns nicht darauf aufmerksam, dass man sein Gewissen nicht betäuben oder belügen darf? Sagen nicht die, die versteckt, gerettet, mit Lebensmitteln oder einem tapferen Wort geholfen haben: Es ist mehr möglich als wir denken, wenn wir genau hinsehen, was los ist, wenn wir den Mund aufmachen, wo ein offenes Wort nötig ist, wenn wir mit Gottvertrauen und Verantwortung nicht hinnehmen, was nicht hinzunehmen ist. Nicht Heldinnen und Helden sind im Alltag gefragt, sondern wache Menschen mit offenen Augen und zupackenden Händen.

Der Berliner Propst Grüber richtet im Auftrag der Bekennenden Kirche ab 1938 ein Büro für verfolgte Christen ein, die wegen ihrer jüdischen Herkunft an Leib und Leben gefährdet waren. Es hatte in 27 deutschen Städten Mitarbeiterbüros. Wie Propst Grüber landeten die meisten der Mitarbeitenden im KZ, viele wurden ermordet. Auf katholischer Seite gab es etwas Ähnliches, das Raphaelswerk.

Propst Grüber berichtet 1961 im Jerusalemer Eichmannprozess von einer Begegnung mit Eichmann in Berlin, als er wieder einmal um Haftentlassung oder Ausreise für „Nichtarier“ verhandeln musste. Eichmann habe ihn gefragt: „Was kümmern sie sich überhaupt um die Juden? Sie werden keinen Dank für diese Arbeit haben.“ (Das Büro Grüber half auch Juden, die nicht getauft waren). Eichmann, der christlich erzogen worden war, wird von Grüber zurückgefragt: „Sie kennen die Straße von Jerusalem nach Jericho? Auf dieser Straße lag einmal ein Jude, der unter die Räuber gefallen war. Da half ihm ein Nichtjude.“ Und von Christus habe ich gehört, so Grüber weiter, „Geh hin und tue das Gleiche!“ Amen.


Predigt im Ökumenischen Gottesdienst in der Paul-Gerhard-Gemeinde Frankfurt aus Anlass der Ausstellung „Getauft, ausgestossen - und vergessen? Evangelische jüdischer Herkunft“, Buß- und Bettag 21. November 2012



Der Autor

MARTIN STÖHR

Jg. 1932, Studium der Theologie und Soziologie in Mainz, Bonn und Basel. 1961-1969 Studentenpfarrer an der Technischen Universität Darmstadt. 1969-1986 Direktor der Ev. Akademie Arnoldshain. 1986-1997 Professor an der Universität-Gesamthochschule Siegen. 1965-1984 Ev. Vorsitzender des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR). 1990-1998 Präsident des International Council of Christians and Jews (ICCJ), heute deren Ehrenpräsident.

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