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ONLINE-EXTRA Nr. 99

Juli 2009

Während vor zehn, zwanzig Jahren ein 'Dialog der Religionen und/oder Kulturen' ein Thema zumeist kleiner, nicht selten akademischer Zirkel war, ist die Notwendigkeit und Forderung nach eben einem solchen Dialog spätestens seit den Terroranschlägen vom neunten September 2001 in New York oder aber schlagzeilenträchtigen Publikationen wie dem "Kampf der Kulturen" von Samuel Huntington in aller Munde. Der weltweit in den Blickpunkt gerückte Islam, der wachsende islamistisch motivierte Terror, zunehmend durch Migration gekennzeichnete Gesellschaften bis hin zu vielen politischen Konflikten, in denen unterschiedliche religiöse und kulturelle Prägungen der beteiligten Konfliktparteien eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, haben die Einsicht in die Notwendigkeit eines Dialogs der Religionen und/oder Kulturen drastisch verstärkt. Diesem geschärften Bewußtsein, so der Politikwissenschaftler Markus Weingardt, dem Autor des vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 99, steht jedoch ein auffälliger Mangel an Reflexion gegenüber:
"Was ist denn überhaupt ‚Dialog’? Wer führt ihn, und wie? Was ist Kultur? Und was Religion? Wodurch und von wem wird sie beschrieben? Wie ist das Verhältnis von Religion und Kultur zu beschreiben? Wer ist wodurch legitimiert, eine Kultur oder Religion in einem Dialog zu vertreten?2 Was sind die Gründe, Voraussetzungen, Anliegen, Ziele des Dialogs? Und nicht zuletzt: welche Wirkung von Dialogveranstaltungen lässt sich den überhaupt feststellen?"

Weingardt, der als Referent für Friedens- und Konfliktforschung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST (Heidelberg) arbeitet und Mitarbeiter der Stiftung Weltethos (Tübingen) ist, weist darauf hin, das ein Dialog als solcher zunächst weder schlecht noch gut ist. Entscheidend sei vielmehr die Frage, wie und wodurch ein Dialog glückt und gelingt:
"Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise und durch welche Akteure hat ein Dialog feststellbar zur Deeskalation von Spannungen, Konflikten und Gewalt beigetragen – und was lässt sich daraus für zukünftige Friedensprozesse ableiten? Inwiefern haben religiöse oder interreligiöse Initiativen zur Deeskalation in Kriegen, Bürgerkriegen oder im Widerstand gegen repressive Regime beigetragen?"

Damit richte sich der Fokus darauf, "was religiöse Akteure in und zu einem ‚Dialog der Kulturen’ beitragen können – Gläubige, Geistliche, Repräsentanten, aber auch Gruppen, Organisationen und Bewegungen." Dies versucht Weingardt am Beispiel politischer Konflikte von internationalem oder zumindest überkommunalem Ausmaß aufzuzeigen, um somit wichtige Indizien zu gewinnen, wie es etwa um die Dialogfähigkeit und das Friedenspotential von Religionen und ihren Akteuren in politischen Gewaltkonflikten bestellt ist.

Der heute als ONLINE-EXTRA Nr. 99 publizierte Beitrag von Weingardt erschien in gedruckter Fassung zuerst in: Siegfried Frech/Ingo Juchler (Hg.): Dialoge wagen. Zum Verhältnis von politischer Bildung und Religion. Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2009: 108-124.

COMPASS dankt dem Autor an dieser Stelle für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!


© 2009 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 99


Der Dialog von Religionen:
Wundermittel, Placebo oder Gift?


MARKUS A. WEINGARDT

Ob Migranten in einer Straßenbahn gewalttätig werden, ob eine Moschee gebaut werden soll, ob über den EU-Beitritt der Türkei diskutiert wird oder religiöse Extremisten Anschläge verüben: solche – tatsächlich oder vermeintlich – kulturell geprägten Vorkommnisse polarisieren in Politik und Gesellschaft. 

Die einen fordern dann reflexartig ein ‚härteres Durchgreifen’ – von schärferen Gesetzen und Strafen über raschere Abschiebungen, Höhenbegrenzungen für Minarette oder diplomatische bzw. ökonomische Sanktionen bis hin zu militärischen Interventionen.

Andere hingegen propagieren – mitunter ebenso reflexartig – stärkere Dialog-Bemühungen: Dialog in Kindergarten und Schule, in Stadt und Land, in Europa, weltweit. Dialog zwischen ‚den’ Kulturen und Religionen, zwischen Religionsführern, Gläubigen, Politikern oder Wissenschaftlern. Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber bezeichnet den Dialog der Religionen „die wichtigste Alternative zum ‚Kampf der Kulturen’“,1 und selbst die jährliche Münchner Sicherheitskonferenz steht unter dem Motto „Frieden durch Dialog“. Dialog erscheint hier als Wundermittel, als Allheilmittel gegen alle Arten von kulturell geprägten oder gefärbten Konflikten. Durch Dialog sollen Ängste abgebaut werden, Annäherung stattfinden, Integration gefördert und letztlich Gewalt verhindert werden, auf allen gesellschaftlichen oder politischen Ebenen, lokal und national wie international. 

Doch sowohl die Forderung als auch die gängige Praxis dieses Dialogs leidet vielfach an einem Mangel an Reflexion. Was ist denn überhaupt ‚Dialog’? Wer führt ihn, und wie? Was ist Kultur? Und was Religion? Wodurch und von wem wird sie beschrieben? Wie ist das Verhältnis von Religion und Kultur zu beschreiben? Wer ist wodurch legitimiert, eine Kultur oder Religion in einem Dialog zu vertreten?2 Was sind die Gründe, Voraussetzungen, Anliegen, Ziele des Dialogs? Und nicht zuletzt: welche Wirkung von Dialogveranstaltungen lässt sich den überhaupt feststellen? 

Darüber hinaus ergeben sich in einem Dialog von Kulturen oder Religionen auch Schwierigkeiten, die Einspruch und Kritik provozieren. Werden da nicht oftmals Differenzen ausgeklammert, Missstände ‚um des lieben Friedens Willen’ unter den Teppich gekehrt? Und auf der anderen Seite: Wie kann ein Dialog religiöse Wahrheiten, Werte und ‚letzte Fragen’ – die Religionen unterscheiden und trennen – thematisieren? Soll er das überhaupt, oder ist mehr gewonnen, wenn man sich auf das Gemeinsame, auf transreligiöse ethische Prinzipien konzentriert – ob man diese nun als Weltethos (Hans Küng), religiös-weltanschaulichen Konsens (Jürgen Habermas), Internationale Moralität (Roman Herzog) oder auch als universales Recht (Heiner Geissler) bezeichnet?3  Trägt ein offener Dialog von Religionen wirklich zur Verständigung bei, oder ist er zum Scheitern verurteilt? Dient er vielleicht – ähnlich den mittelalterlichen Religionsdisputen – dazu, argumentative wie theologische ‚Schwachstellen’ beim religiösen Gegenüber aufzudecken und auszunützen bzw. eigene Schwächen zu beheben – und führt er also mittelfristig eher zur umso härteren Konfrontation als zur Kooperation? Besteht vielleicht „die einzige Lösung (...) darin, die Grundlage des Dialogs zu verlagern, und zwar weg von der Religion“,4 wie Pratap Bhana Mehta, Präsident des Zentrums für Politische Forschung in Neu-Delhi, meint?

All diese Fragen sind natürlich der eingehenden Betrachtung wert, doch wird hier mitunter der dritte vor dem zweiten Schritt gemacht. Der erste Schritt ist die Begegnung und der Austausch zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften. Dies findet statt und wird schon darum auch zukünftig stattfinden, weil kaum religiös-homogene Gesellschaften existieren und weil sich viele Gläubige aus religiösen Gründen verpflichtet fühlen, die Verständigung und Zusammenarbeit mit andersreligiösen Gläubigen zu suchen. Doch bevor eine eingehende Analyse bestehender Dialogveranstaltungen unternommen wurde bzw. wird, werden bereits prinzipielle Einwände gegen deren Sinn und Nutzen vorgebracht – oder es wird wie selbstverständlich angenommen, dass Dialog selbstverständlich und ‚an sich’ gut sei. Doch per se ist Dialog weder gut noch schlecht. Die Frage ist vielmehr, wie ein Dialog gelingen kann. In anderen Worten: Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise und durch welche Akteure hat ein Dialog feststellbar zur Deeskalation von Spannungen, Konflikten und Gewalt beigetragen – und was lässt sich daraus für zukünftige Friedensprozesse ableiten? Inwiefern haben religiöse oder interreligiöse Initiativen zur Deeskalation in Kriegen, Bürgerkriegen oder im Widerstand gegen repressive Regime beigetragen?

Im Folgenden ist darum der Fokus darauf gerichtet, was religiöse Akteure in und zu einem ‚Dialog der Kulturen’ beitragen können – Gläubige, Geistliche, Repräsentanten, aber auch Gruppen, Organisationen und Bewegungen. Die Untersuchungsebene sind – analog zu Samuel Huntingtons These vom „Clash of Civilizations“5 – politische Konflikte von internationalem oder zumindest überkommunalem Ausmaß. Durch die Konzentration auf das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten wird freilich nur ein spezifischer Ausschnitt im weiten Themenfeld ‚Religion und Politik’ behandelt – allerdings genau jener Aspekt, der in Medien, Wissenschaft und Politik die größte Missachtung oder Geringschätzung erfährt. Zu Unrecht, wie zu sehen sein wird.



MARKUS WEINGARDT

Religion Macht Frieden:
Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten.


MARKUS WEINGARDT
Religion Macht Frieden:
Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten.
Mit einem Geleitwort von Dieter Senghaas und Hans Küng




Kohlhammer Verlag
Stuttgart 2007
480 Seiten
24,00 Euro 

jetzt bestellen



»Dieses Buch ist lehrreich. Von seiner Diagnose können sich Praktiker durch die eindrucksvolle Breite der dokumentierten Erfahrungen inspirieren lassen. Wissenschaftlern, die allermeist weit weniger Fälle untersuchen, mag diese Studie als Warnung dienen, aus begrenzter Expertise leichtfertig verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu ziehen. Insbesondere richtet sich dieses Buch an die Religionsgemeinschaften selbst, die weit mehr Ressourcen jedweder Art für ein proaktives friedenspolitisches Engagement mobilisieren müssten, einmal um der Sache willen, aber zum anderen auch, um einem fatalen Zerrbild von Religion entgegenzuwirken.«

(Dieter Senghaas/Hans Küng)





Religionen als Akteure der konkreten konstruktiven Konfliktbearbeitung

Als Träger kultureller Werte und Traditionen können Religionen ein wesentliches Moment kultureller Identität darstellen. Sie können damit auch eine maßgebliche Rolle für die Begründung und Legitimierung von Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags spielen, wie täglich zu sehen und zu lesen ist. 

Aber selbstverständlich  tragen Religionen keineswegs nur zur Eskalation, sondern ebenso zu Deeskalation von Konflikten bei. Das klingt zunächst naheliegend und einleuchtend. Schließlich ist spätestens seit Mahatma Gandhi oder Martin Luther King weltweit bekannt, dass religiöse Überzeugungen auch zur Gewaltlosigkeit motivieren und damit politische Relevanz entfalten können. Aber ist das wirklich selbstverständlich, ist es im Bewusstsein verankert und präsent? Etwa in den Achtziger Jahren nahmen Politik und Wissenschaft erstaunt wahr, dass Religionen trotz Aufklärung und Säkularisation doch nicht von der politischen Bildfläche verschwunden waren. Man spricht seither von einer ‚Rückkehr der Religionen’ – fälschlicher Weise, da sie nur im öffentlichen Diskurs ignoriert oder marginalisiert worden waren, doch nie ihren politischen Einfluss verloren hatten. Also nahm sich die Fachwelt des Themas an, beschränkte sich allerdings auf einen ganz spezifischen Ausschnitt: die konfliktverschärfende Rolle von Religionen in der Politik. „When it bleeds, it leads“ – dieser Grundsatz gilt nicht nur für die Boulevardpresse. Bis heute konzentrieren sich Massenmedien und Publizistik, aber leider eben auch die Wissenschaft, die Friedens- und Konfliktforschung verschiedener Disziplinen, weitestgehend auf das Eskalationspotential. Die geringe Aufmerksamkeit für das spezifisch religiöse Friedenspotential steht in krassem Missverhältnis zur Fülle medialer und wissenschaftlicher Aufarbeitung des religiösen Gewaltpotentials. Diese Schieflage begünstigt wiederum eine einseitige Meinungsbildung in Öffentlichkeit und Politik, auch in der Wissenschaft und sogar bei den Religionsgemeinschaften selbst. Überall dominiert die Ansicht, dass Religionen vor allem zur Gewaltverschärfung beitragen, nicht aber zur Gewalteindämmung. Selbst die ‚Zeitung kritischer Christen’, Publik-Forum, titelte im Januar 2008 zur Rolle von Religionen in Konflikten: „Die Macht der Angst“. Die zwei Hauptbeiträge waren zudem überschrieben: „Keine Kriege ohne Religion“ und „Eine gefährliche Kraft“.6  Sicherlich unbeabsichtigt wird mit solchen Überschriften in den Chor jener eingestimmt, die Huntingtons These wie einen neuzeitlichen Kreuzzugsruf propagieren. Es heißt heute nicht mehr „Deus lo vult“ wie vor 900 Jahren, sondern „Gefahr! Angst! Clash! Kampf! Verteidigung! Zur Not auch am Hindukusch!“

Dabei wird vollkommen übersehen oder ignoriert, dass religiöse Akteure vielfach bewiesen haben, dass sie vermittelnd und versöhnend intervenieren können. Und dies gilt unabhängig davon, ob die gegnerischen Parteien verwandten oder ganz unterschiedlichen Religions- oder Kulturkreisen angehören. (Wobei eine so grobschlächtige Definition von Kulturkreis, wie sie Samuel Huntington vornimmt, ohnehin problematisch ist, vielmehr auf „schwere, ja unheilbare Defizite“ in seiner These hinweist.)7  Geht man von einem differenzierteren Kulturbegriff oder von der jeweiligen Wahrnehmung der Konfliktparteien aus, so spielen kulturelle Elemente durchaus auch bei primär politisch, sozioökonomisch oder tribal motivierten Konflikten eine maßgebliche Rolle. Nach diesem erweiterten Verständnis von kultureller Identität und Einheit konnte folglich auch zwischen Deutschen und Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg ein ‚Dialog der Kulturen und Religionen’ notwendig und hilfreich sein. Ebenso zwischen Serben und Kosovaren oder Bosniaken, zwischen indigener Maya-Bevölkerung und der von Mestizen dominierten politischen Elite in Lateinamerika, zwischen (mehrheitlich arabisch-muslimischen) Nordsudanesen und (überwiegend afrikanisch-christlichen) Südsudanesen, zwischen Tamilen und Singhalesen auf Sri Lanka, zwischen Hutus und Tutsis in Ruanda, zwischen christlichen und muslimischen Sierraleonern oder Ugandern oder Liberianern etc. In all diesen Konflikten waren es nämlich religiöse Akteure, die nicht alleine, aber doch signifikant und entscheidend zur Deeskalation und Gewaltvermeidung beigetragen haben:


• Die deutsch-französische Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde maßgeblich von Pastor Frank Buchman und seiner Bewegung Moral Rearmament (ursprünglich Oxfordgruppe) angeregt und unterstützt; durch sie wurden die ersten Begegnungen von staatlichen oder halbstaatlichen Repräsentanten eingefädelt und ermöglicht, zunächst am Sitz der Bewegung in Caux in der Schweiz. 

• Die katholische Laienbewegung Sant’Egidio engagierte sich intensiv im Kosovo, wie zuvor schon mit Erfolg in Albanien, Libanon und vor allem Mosambik. Dort hatte sie 1989, auf dem Zenit des Bürgerkrieges, zusammen mit einem Ortsbischof die Federführung neuer Friedensverhandlungen übernommen, die schließlich in einen stabilen Friedensvertrag mündeten. Damit waren sie in einem Konflikt erfolgreich, in dem selbst die UNO als Vermittler gescheitert war und der ‚offiziell’ als nicht vermittelbar galt.

• In verschiedenen lateinamerikanischen Staaten waren es einzelne katholische Bischöfe, die zur Beilegung von Krisen und Bürgerkriegen beitrugen – etwa Oscar Romero und Rivera y Damas in El Salvador, Dom Helder Camara in Brasilien, Emil Stehle in Bolivien, Quezada in Guatemala, Obando in Nicaragua oder Samuel Ruiz Garcia in Mexiko. Vielfältige Unterstützung kam dabei oftmals von anderskonfessionellen Organisationen wie dem Lutherischen Weltbund, den Mennoniten, der deutschen oder norwegischen protestantischen Kirche.

• Im Sudan vermittelte schon 1972 der World Council of Churches (Ökumenischer Rat der Kirchen ÖRK) ein Friedensabkommen, das immerhin elf Jahre Bestand hatte – ein Faktum, das in den Berichten über den Sudan zumeist unterschlagen wird. In den vergangenen Jahren und bis heute sind vor allem die protestantischen Kirchen im Südsudan wichtige und erfolgreiche Friedenskräfte, nicht nur im Konflikt mit der islamischen Zentralregierung in Khartum, sondern auch in gewaltträchtigen Stammeskonflikten im Süden.

• Auf Sri Lanka leistet die buddhistisch fundierte Bewegung Sarvodaya Shramadana umfangreiche Nothilfe und Versöhnungsarbeit zwischen buddhistischen Singhalesen und überwiegend hinduistischen Tamilen; ganz bewusst und sichtbar überwindet sie ethnische und religiöse Differenzen.

• In Sierra Leone, Uganda oder Liberia bildeten sich nationale und regionale interreligiöse Räte, deren Aufrufe und Engagement entscheidend zu einem Ende der Gewalt beigetragen hatten und noch beitragen. In anderen afrikanischen Staaten waren es – ähnlich Lateinamerika – einzelne Geistliche, die durch ihre Intervention, auch durch zeitweise Übernahme politischer Funktionen, zu Deeskalation und Nicht-Eskalation maßgeblich beitrugen. Dies galt vor allem in den 1990er-Jahren, als in etlichen afrikanischen Staaten der Übergang von kommunistischen Einparteiensystemen zur Demokratie anstand.

• In Ruanda widersetzten sich 1994, als einzige Bevölkerungsgruppe in diesem nominell christlichsten aller afrikanischen Länder, nur die Muslime der Gewalt, dem Völkermord der Hutu, dem rund eine Million Tutsi zum Opfer fielen. Moslems warnten frühzeitig vor der Hass- und Gewaltpropaganda, verurteilten sie als unislamisch und koranwidrig, führten Sensibilisierungsprogramme an ihren Schulen durch, leisteten schließlich aktiven Widerstand, boten Schutz und Unterkunft, organisierten Not- und Fluchthilfe für Bedürftige gleich welcher Religions- oder Stammeszugehörigkeit. Dieses beispielhafte und mutige Verhalten der Muslime wurde von der späteren ruandischen Regierung, von UNO-Sonderermittler Christian Scherrer und von christlichen Religionsvertretern ausdrücklich bestätigt, und doch wird es von Medien und Wissenschaft damals wie heute völlig ignoriert.


Diese Beispiele sind aber keineswegs ausgesuchte Einzel- oder Ausnahmefälle. Es gibt Dutzende weiterer Konflikte, in denen religiöse Akteure ihr Friedens- und Deeskalationspotential unter Beweis stellten, so zum Beispiel:


• die Quäker im nigerianischen Biafra-Krieg Ende der Sechzigerjahre und in einigen anderen Konflikten, jedoch zumeist im Hintergrund, abseits der öffentlichen bzw. medialen Aufmerksamkeit;

• Teile der katholischen Kirche, unterstützt unter anderem vom Internationalen Versöhnungsbund, auf den Philippinen (1984-86, ‚Rosenkranz-Revolution’) und auf Madagaskar (1991/92);

• die Khudai Kitmatgaran, zu deutsch ‚Soldaten/Diener Gottes’, gegründet und angeführt von Khan Abdul Ghaffar Khan: eine streng muslimische und ebenso streng gewaltlose Widerstandsorganisation der Paschtunen gegen die britischen Kolonialherren und für die Einheit Indiens, aktiv in der indischen Nordwest-Grenzregion (1930-1947);

• Papst Johannes Paul II. im argentinisch-chilenischen Jahrhundert-Konflikt um den Beagle-Kanal, der 1978 beinahe in einem Krieg unkalkulierbaren Ausmaßes eskaliert wäre und nur durch eine last-minute-Intervention des Vatikans mit anschließender sechsjähriger (!) Vermittlungsphase friedlich beigelegt werden konnte  (1978-84);

• der buddhistische Mönch Maha Ghosananda in Kambodscha, der 1979, nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges, der Diktatur und der Schreckensherrschaft der Roten Khmer unter Pol Pot, eine Friedens- und Versöhnungsarbeit initiierte, die Pionier- und Vorbildfunktion für die gesamte zivilgesellschaftlich-pluralistische Entwicklung in Kambodscha hatte;

• nicht zuletzt – buchstäblich nahe liegend, und doch fast schon vergessen – die Evangelische Kirche vor und während der friedlichen ‚Wende’ in der DDR (1989/90).8


Diese Beispiele machen erstens deutlich, dass religionsbasierte Friedensstifter in allen Religionen und Kulturkreisen zu finden sind, auch heute, lange nach Gandhi und Martin Luther King.9  Zweitens ist das religiöse Friedenspotential keineswegs auf charismatische Führer oder hochrangige Repräsentanten beschränkt, obschon diese besonderes Gehör in Politik und Gesellschaft finden und darum auch eine große Verantwortung tragen. Ebenso wenig sind – drittens – erfolgreiche religionsbasierte Interventionen auf bestimmte Arten von Konflikten oder Interventionen begrenzt: Krieg oder Widerstand, regional oder international, präventiv oder im Zenit der Eskalation, Friedensverhandlungen oder Versöhnungsarbeit etc. Selbst in scheinbar hoffnungslosen Fällen wie Mosambik oder dem argentinisch-chilenischen Beagle-Konflikt, in denen zuvor zahlreiche andere (säkulare) Vermittler einschließlich der UNO gescheitert waren, konnten religionsbasierte Friedensakteure erfolgreich deeskalieren und vermitteln. 

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass religiöse Akteure in allen Konflikten erfolgreich intervenieren können. Ebenso wenig darf daraus geschlossen werden, dass religionsbasierte Akteure stets die besseren Konfliktvermittler sind. Es steht völlig außer Frage, dass säkulare Institutionen – vorneweg die UNO, aber auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen für konstruktive Konfliktbearbeitung – hervorragende und unverzichtbare Beiträge zu Frieden und Gewaltvermeidung leisten. Dazu zählen auch mittelbar oder unmittelbar unterstützende Aktivitäten wie Menschenrechtsarbeit, Wahlbeobachtung oder Entwicklungszusammenarbeit und anderes mehr. Doch die geschilderten Fallbeispiele verdeutlichen das Potential der Religionen; ein Potential, das religiösen Akteuren nicht selten Chancen eröffnet, die säkular-politischen Akteuren versagt bleiben. 

Wie kommt es zu diesem spezifisch religiösen Friedenspotential? Was macht die religionsbasierten Akteure geeignet als Konfliktvermittler? Und warum werden diese auch als Vermittler akzeptiert? Die Fallstudien geben darauf keine einfache und eindeutige Antwort. Die Verschiedenartigkeit der untersuchten Konflikte, der beteiligten Akteure (sowohl Konfliktparteien als auch Vermittler) und der jeweiligen Interventionen lässt keine klare Typologisierung zu. Die Bandbreite ist zu groß und zu vielfältig für eine simple Systematisierung oder Schematisierung.


Merkmale religionsbasierter Friedensakteure

Je nach Fall – nach Art, Natur und Gegenstand des Konflikts, nach seiner Entwicklung und seinem ‚Reifegrad’ zum Zeitpunkt einer Intervention, nach Konfliktparteien und weiteren Einflussmächten, nach ökonomischen und anderen Umständen und Risiken etc. – müssen die Maßnahmen sowohl auf die angestrebten Ziele als auch auf die zur Verfügung stehenden Instrumente und Möglichkeiten abgestimmt werden. Nur im jeweiligen konkreten Konflikt kann entschieden werden, ob religionsbasierte Friedensakteure direkt vermitteln können oder sollen – oder ob sie Friedensprozesse besser durch diplomatische ‚Gute Dienste’ (und wenn ja: welche) unterstützen; ob ein öffentliches Auftreten angeraten scheint oder eher Gespräche hinter den Kulissen; ob die Einbeziehung internationaler Partner den nötigen oder aber einen zu starken Druck aufbaut; ob die Mobilisierung von Massen ein bahnbrechendes Friedensvotum oder eher eine Eskalationsgefahr darstellt; ob die Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften oder mit säkularen bzw. politischen Institutionen nützlich oder schädlich sein könnte; ob es angebracht ist, religiöse Elemente zu betonen oder eher zurückzuhalten; welche Maßnahmen kurzfristig und welche langfristig Erfolg versprechend sind ...

Doch bei aller Unterschiedlichkeit und Unvergleichbarkeit der Fälle sind doch Merkmale feststellbar, die den friedenstiftenden religionsbasierten Akteuren gemeinsam sind. 

Zunächst zeichnen sie sich durch Sach- und Fachkompetenz aus. Das beinhaltet sowohl Erfahrung mit Methoden und Techniken der konstruktiven Konfliktbearbeitung als auch genaue Kenntnisse über den Konflikt, seine Hintergründe, Zusammenhänge und wichtige Protagonisten. Eine solche Grundkompetenz wird zumeist dadurch erworben, dass Akteure vor Ort aktiv sind oder aus der Konfliktregion stammen. Interventionstechniken wie Mediation oder Moderation lassen sich freilich auch durch entsprechende Schulungen erlernen. 

Gemeinsam ist den Akteuren auch eine gewisse Nähe zum Konflikt, eine Verbundenheit mit den Betroffenen in einem Konflikt. Aus dieser Verbundenheit mit dem Konflikt, mit den Menschen und ihren Problemen erwächst zum einen die genannte Sachkompetenz. Die Betroffenen trauen einem Vermittler dann zu, dass er die Materie kennt und beherrscht, dass er weiß, worin die Chancen und Risiken bzw. Schwierigkeiten einer Konfliktlösung bestehen. Zum anderen bedarf es der Nähe, damit sich die Betroffenen verstanden fühlen. Hier geht es um mehr als fachliche Kompetenz; es handelt sich eher um eine Form der Empathie und Anteilnahme, also um eine emotionale Konfliktkompetenz der Friedensakteure. Die in den philippinischen Basisgemeinden tätigen katholischen Geistlichen, zumeist Anhänger der Befreiungstheologie, teilten das Leben und Schicksal der Bevölkerung. Sie waren denselben Entbehrungen und Repressionen ausgesetzt und nahmen sehenden Auges dieselben Gefahren für Leib und Leben in Kauf. Ähnlich nahmen auch Christen oder Kirchenvertreter in der ehemaligen DDR durch ihr Bekenntnis persönliche Benachteiligungen auf sich. Dadurch teilten sie zumindest partiell das Schicksal von Oppositionellen und Opfern des SED-Regimes, und konnten deren Ängste, Nöte und Bedürfnisse aus eigener Erfahrung nachvollziehen. Die Verbundenheit kann aber auch spiritueller Natur sein. So empfanden die ganz überwiegend katholischen Bevölkerungen von Chile und Argentinien Papst Johannes Paul II. als ‚einen von ihnen’. Er war ihr ‚Heiliger Vater’, und wie einem guten Vater fühlten sie sich spirituell-emotional verbunden und unterstellten ihm, dass er nur ihr Bestes wolle, obschon er nicht persönlich die Verhandlungen führte. Daher stimmten sie auch mit überwältigender Mehrheit dem unter Federführung des Vatikan ausgehandelten Friedens- und Freundschaftsvertrag zu. 

Mit dem Aspekt der Verbundenheit hängt ein drittes gemeinsames Merkmal der Akteure zusammen: ihre Glaubwürdigkeit. Vermittler werden nur dann freiwillig akzeptiert, wenn sie als gerecht, verlässlich, diskret und aufrichtig angesehen werden.  Eine solche Reputation kann durch langjährige Erfahrungen und Erfolge erworben werden. Dies trifft etwa für Vertreter der Quäker als einer der historischen Friedenskirchen zu, in jüngerer Zeit ähnlich für die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio. Entscheidend aber ist die Glaubwürdigkeit des eigenen Verhaltens: die Übereinstimmung von Wort und Tat, das uneigennützige Engagement, die Praxis jener Werte, die im Rahmen der Deeskalationsbemühungen von den Konfliktparteien gefordert werden, wie Versöhnungsbereitschaft, Toleranz, Solidarität oder natürlich Gewaltlosigkeit. Stabile Glaubwürdigkeit erfordert außerdem ein gewisses Maß an äußerer und innerer Unabhängigkeit von staatlichen und politischen Institutionen. Nur durch den – mühsam bewahrten oder erkämpften – Freiraum in Form eigener Versammlungshäuser, Ausbildungsstätten, Medien oder demokratischer Binnenstrukturen konnte die Evangelische Kirche in der DDR jene Rolle als Plattform für Oppositionsgruppen und als eigenständige, auch vermittelnde Kraft übernehmen, die den friedlichen Systemwandel erst möglich machte. Den Kirchen in Ruanda hingegen fehlte jede Distanz zum politischen System; sie waren institutionell und personell teilweise eng miteinander verflochten. Alleine die weitgehend ausgegrenzte Minderheit der ruandischen Muslime hatte den nötigen Abstand um frühzeitig zu erkennen, wohin die Politik und ihre Hasspropaganda steuerte.



MARKUS WEINGARDT

Deutsche Israel- und Nahost-Politik.
Die Geschichte einer Gratwanderung.





MARKUS WEINGARDT
Deutsche Israel- und Nahost-Politik.
Die Geschichte einer Gratwanderung.

Campus Verlag
Frankfurt/New York 2002
504 Seiten
49,90 Euro 

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Von Adenauer bis Fischer - in der Israel- und Nahostpolitik kulminieren zentrale Konflikte deutscher Außenpolitik, nicht zuletzt geprägt vom Verhältnis der Deutschen zu den Juden und zu Israel nach dem Holocaust. Der Autor legt die erste Gesamtdarstellung der deutschen Israelpolitik vor und zeigt, dass sie stets ein Balanceakt zwischen Moral und Realpolitik, zwischen Vergangenheit und Gegenwart war.



Vertrauensvorschuss als Spezifikum

Die genannten Merkmale lassen sich jeweils aber auch als Aspekte des Vertrauens betrachten. Sachkompetenz ist gleichbedeutend mit Vertrauen in die fach- und konfliktspezifische Qualifikation der Akteure; Nähe und Vertrauen lässt sich als Vertrauen in deren emotionale Qualifikation und Konfliktkompetenz beschreiben; Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit entsprechen dem Vertrauen in die ethisch-moralische Qualifikation der Vermittler, ob es sich dabei nun um Individuen oder Institutionen handelt. Vertrauenswürdigkeit ist daher das zentrale gemeinsame Merkmal und Hauptgrund für die Erfolge religionsbasierter Friedensakteure. 

Trotz allen Leides, das Menschen im Namen von Religionen zugefügt wird, genießen religiöse Akteure – im Unterschied zu säkularen Akteuren – vielfach (nicht immer!) einen Vertrauensvorschuss und -bonus. Explizit religiösen Friedenskräften wird eher zugesprochen, dass sie unabhängig und fair sind, mithin als uneigennützige und ‚ehrliche Makler’ agieren. Diese Reputation ist im Allgemeinen unabhängig davon, ob sich die Konfliktvermittler zur Religion der einen oder der anderen Konfliktpartei bekennen oder einer ganz anderen Religion angehören: Die dezidierte und glaubwürdige Berufung auf religiöse Quellen und Traditionen weckt Vertrauen, denn sie ist den Konfliktparteien nachvollziehbar. In jeder Religion (und Kultur) finden sich friedensorientierte Überlieferungen, Traditionen und Interpretationen, und Frieden gilt darin als kostbares, hohes Gut. Konfliktführer mögen diese Überzeugung bzw. Religiosität teilen oder nicht, aber sie ist ihnen nicht fremd und zumindest respektabel. So gelten religiöse Begründungen als grundsätzlich verständlich und einleuchtend, während säkular-humanistische oder politisch-ideologische Motive eher Misstrauen erregen. Letztere wirken beispielsweise nach Jahren grausamen und menschenverachtenden Bürgerkrieges wenig überzeugend, rufen vielmehr Fragen nach den ‚wahren’ Motiven und nach versteckten Interessen hervor. Schließlich vertreten politische Vermittler zumeist (auch) eine Partei, ein Land oder eine politische Institution – und die Skepsis ihnen gegenüber ist umso größer, wenn sie aus dem Ausland kommen oder von dort finanziert werden. 

Das Vertrauen in religionsbasierte Akteure beruht außerdem darauf, dass sie nicht nur ‚harte Fakten’ thematisieren, sondern auch tiefer liegende Konfliktdimensionen – und oftmals versteckte Konfliktursachen – wie Moral und Verantwortung, Schuld und Vergebung, Unrecht und Gerechtigkeit, Ehre und Würde, Verletztheit und Versöhnung zur Sprache bringen. Diese Aufmerksamkeit erwarten Konfliktparteien auch und gerade von religiösen Akteuren, ihnen unterstellen sie hier (zu Recht) einen Kompetenzvorsprung gegenüber säkularen Akteuren – und umgekehrt beweisen religiöse Friedensakteure dadurch ihr umfassendes, insbesondere emotionales Konfliktverständnis.

Bei allen Vorschusslorbeeren müssen sich natürlich auch religiöse Akteure permanent des Vertrauens als würdig erweisen. Durch uneigennütziges Auftreten und kompetente Verhandlungsführung müssen sie die mutige Entscheidung von Konfliktparteien, sich auf eine gewaltlose Konfliktbearbeitung einzulassen, bestätigen. Wenn es aber gelingt, das Vertrauen aller Kontrahenten zu gewinnen, so eröffnet das Friedenspotential von Religionen enorme Chancen, auch in kulturell oder religiös geprägten Konflikten bzw. Verständigungsprozessen. Leider haben aber nicht nur Politik und Wissenschaft, sondern auch die Religionsgemeinschaften selbst das ihnen eigene konkrete, politisch relevante Potential zumeist noch kaum wahrgenommen, auf allen politischen Ebene. Die Religionsgemeinschaften sind daher gefordert, ihre eigenen Kompetenzen zu entdecken, sie auszubauen und in Konflikten aktiver anzubieten; hier ist vieles noch dem Zufall oder der Initiative Einzelner überlassen. Ebenso sind Vertreter von Konfliktparteien, Regierungen, politischen Organisationen (z.B. UNO, EU, OSZE) oder säkularen Friedensinitiativen aufgefordert und gut beraten, Religionen stärker als wichtige Kräfte und hilfreiche Akteure des Friedens einzubeziehen und zugleich in die Pflicht zu nehmen. Nicht zuletzt sind die Medien aufgerufen, auch über das vielfältige Friedenswirken religiöser Akteure zu berichten und nicht weiter einem Zerrbild von Religion Vorschub zu leisten, gespeist von religiös-kulturellen Vorurteilen und Vorbehalten und diese zugleich verstärkend.10


Konfliktbearbeitung als Dialogform

Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ist der Dialog nun ein Wundermittel, wo er doch so ‚wunderbar’ zur Konfliktlösung beitragen kann – oder eher ein Placebo, ein irreales Gespinst religiös-humanistischer Gutmenschen, oder vielleicht gar ein Gift, das eine effektive politische (oder auch militärische) Lösung von Konflikten blockiert? 

Natürlich ist der Dialog der Kulturen und Religionen kein Wundermittel, kein Allheilmittel. Er ist überhaupt kein Heilmittel, solange nicht geklärt ist, worin die ‚Krankheit’ besteht, was also ‚geheilt’ werden soll – und welche Art und Darreichungsform von ‚Medizin’ demzufolge angeraten ist. Auch über (politische) Risiken und (langfristige) Nebenwirkungen ist noch wenig bekannt, hier steht die Forschung noch ziemlich am Anfang. 

Ein Konflikt ist zwar eine Störung einer bestehenden Konstellation von Kräften, Werten oder Interessen, aber damit noch keine ‚Krankheit’. Konflikte sind nicht per se negativ, manche sogar sinnvoll und notwendig, doch ihre gewaltsame Eskalation muss um der betroffenen Menschen willen verhindert werden. Allen Maßnahmen zur konstruktiven Konfliktbearbeitung muss eine solide, tiefgehende Analyse und Diagnose vorausgehen. Worum geht es im Konflikt, wer könnte vermitteln, welche Möglichkeiten und Instrumente stehen ihm zur Verfügung, und worauf sollten sich folglich Maßnahmen der Deeskalation richten: Auf Stabilisation der Lage, um das Ausbrechen von Gewalt zu verhindern (wie im Beagle-Konflikt) – oder auf Mediation und Konfliktvermittlung im engeren Sinn, trotz fortdauernder Gewalt (wie in Mosambik)? Auf Mobilisation der Massen und gewaltlose Konfrontation (wie auf den Philippinen)? Auf Kommunikationshilfe und Moderation von Verhandlungsgesprächen oder auf Unterstützung im Hintergrund? Auf staatliche Konsolidierung oder auf tief greifende gesellschaftliche Versöhnung? ...

Der Dialog der Kulturen und Religionen ist mehr als ein gemeinsames Auftreten hochrangiger Repräsentanten, mehr als öffentlich demonstrierte und bisweilen inszenierte Toleranz, mehr als Kommunikation zwischen oder Kooperation von Religionsgemeinschaften. Dialog der Religionen ist generell mehr als Dialog zwischen Religionen, worauf er gerne beschränkt wird und bleibt. Es geht darüber hinaus auch um einen Dialog von Religionen mit der Politik, mit Konfliktparteien und politischen Vermittlern. Dort können Religionsgemeinschaften ihre besonderen Qualifikationen einbringen und unmittelbar gesellschaftliche und politische Relevanz entfalten. Die vom Innenministerium initiierte ‚Deutsche Islamkonferenz’ ist der Versuch eines solchen Dialogs von Politik und Religion, um die Verfestigung und Eskalation gesellschaftlicher Probleme zu verhindern. In ähnlicher Weise ist auch die Intervention religionsbasierter Akteure in manifesten politischen Gewaltkonflikten eine Form der Zusammenarbeit und des Dialogs mit der politischen Elite. 

Gewaltlose Konfliktbearbeitung ist konstruktive politische Mitgestaltung in besonders schwierigen Situationen, unter höchsten Anforderungen und großen Risiken. Zahlreiche Beispiele machen deutlich, dass auch und gerade religionsbasierte Akteure über spezifische, einzigartige Kompetenzen verfügen – und damit Frieden stiften!




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ANMERKUNGEN



1 Wolfgang Huber, Toleranz ist nicht Beliebigkeit – Zum Dialog der Religionen, Vortrag in der Marktkirche in Essen am 8. Februar 2008, URL: http://www.ekd.de/vortraege/080208_huber_dialog_religionen.html (Rev. 14.2.08).

2 Vgl. Armin Nassehi, Dialog der Kulturen – Wer spricht? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29/2006, S. 33-38.

3 Vgl. Naika Foroutan, Das Zeitalter der Zivilisationskonflikte, in: Kulturaustausch online – Zeitschrift für internationale Perspektiven Nr. 1/2006, hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen, URL: http://cms.ifa.de/publikationen/zeitschrift-fuer-kulturaustausch/archiv/kulturaustausch-2006/fernbeziehungen/foroutan/ (Rev. 10.4.2007).

4 Pratap Bhana Mehta: Religion sollte nicht Grundlage des Dialogs sein, URL: http://www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-604/i.html (Rev. 4.4.2007).

5 Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72/3, 1993: 22-49 sowie ders.: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996.

6 Publik-Forum Nr. 2/2008 (25.1.2008), S. 18ff.

7 In seiner ausführlichen Kritik an Huntington arbeitet Harald Müller zahlreiche Defizite und Irrtümer in Huntingtons Theorie heraus und resümiert: „Angesichts dieser begründeten Kritik fragt man sich ernsthaft, woher immer noch der Zuspruch, die Nachfrage und Popularität der These erwachsen.“ (Harald Müller, Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 16.)

8 Ausführlicher und weitere Beispiele in Markus A. Weingardt, RELIGION MACHT FRIEDEN. Zum Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Stuttgart 2007.

9 Unter religionsbasierten Akteuren werden dabei über anerkannte Religionsgemeinschaften aus den Weltreligionen und (inter-) religiöse Institutionen bzw. deren Vertreter hinaus auch Institutionen, Initiativen, Bewegungen oder Einzelpersonen verstanden, deren Friedensarbeit ausdrücklich und umfassend auf religiösen Grundlagen basiert (d.h. auf Schriften, Überlieferungen, Lehren und Traditionen anerkannter Weltreligionen) und notwendig aus den jeweiligen Glaubensüberzeugungen resultiert, ohne dass sie durch institutionelle, personelle, materielle oder finanzielle Abhängigkeit an andere religiöse Institutionen gebunden wären. (Eigene Definition) Dennoch werden die Begriffe ‚religiöser’ und ‚religionsbasierter Akteur’ in diesem Beitrag synonym verwendet.

10 Die verzerrende Einseitigkeit mediale Berichterstattung wird beispielsweise durch eine aktuelle Studie des Hamburger Instituts für Afrika-Studien bestätigt. Darin wurde die Bedeutung von Religionen in 28 zeitnahen Gewaltkonflikten im subsaharischen Afrika untersucht. Demnach wirkten in 19 Konflikten religiöse Akteure konfliktverschärfend, doch in denselben 19 und weiteren 5 Konflikten wirkten religiöse Akteure deeskalierend (in 4 Konflikten weder/noch). Dieser quantitative Befund widerspricht der gewalt- und eskalationsorientierten medialen Berichterstattung über Afrika hinsichtlich der Rolle von Religionen (vgl. http://www.giga-hamburg.de/index.php?file=fp_religion_dsf.html&folder=fsp2



Der Autor

MARKUS A. WEINGARDT

Dr rer.soc., Politik- und Verwaltungswissenschaftler, Referent für Friedens- und Konfliktforschung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST (Heidelberg) und Mitarbeiter der Stiftung Weltethos (Tübingen). 2007 und 2008 Mitherausgeber des jährlichen Friedensgutachtens der fünf führenden Friedensforschungsinstitute in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Religion und Konflikt, Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Hauptwerke: RELIGION MACHT FRIEDEN. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten. Mit einem Geleitwort von Dieter Senghaas und Hans Küng. Kohlhammer, Stuttgart 2007, 480 Seiten (siehe: ONLINE-EXTRA Nr. 75); Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Geschichte einer Gratwanderung seit 1949. Campus, Frankfurt (Main)/New York 2002, 504 Seiten (siehe: ONLINE-EXTRA Nr. 11).

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