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ONLINE-EXTRA Nr. 364

Juni 2025

Um die katholisch-jüdischen Beziehungen stand es unter dem Pontifikat des verstorbenen Papst Franziskus zuletzt nicht gut. Manche sprechen gar von einer Krise, zu deren Sinnbild das Verbot des israelischen Außenministeriums für seine Botschafter wurde, der katholischen Gemeinschaft zum Tode des Papstes Beileidsbekundungen auszusprechen. Hintergrund waren die von vielen als einseitig wahrgenommene, zuletzt deutlich pro-palästinensiche Haltung von Franziskus im Blick auf den Gaza-Krieg. Zuvor schon irritierte er allerdings durch recht überholte Interpretationen des Neuen Testaments mit anti-jüdischen Untertönen, wie etwa seine Darstellung der "Pharisäer", die in der christlichen Tradition schon oft als Prototyp einer mißgeleiteten rabbinischen Tradition galten. 

Wie sieht es vor diesem Hintergrund mit dem neuen Papst Leo XIV. aus? Bislang ist wenig über seine Haltung zum interreligiösen Dialog oder zum Judentum und den Juden bekannt. Lässt sich aus dem bisherigen Werdegang des Nordamerikaners Robert Francis Prevost, der vor seiner Wahl zum neuen Papst als Ordensgeistliche des Augustinerordens diente, etwas ableiten? Und welche Rahmenbedingungen, Dynamiken und Veränderungen der weltweit aufgestellten katholischen Kirche sind für den interreligiösen und vor allem katholisch-jüdischen Dialog zukünftig von maßgeblicher Bedeutung? 

Diesen Fragen geht die israelische Historikerin Karma Ben-Johanan, zu deren Forschungschwerpunkten institutionalisierte Religionen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert, der jüdisch-christliche Dialog sowie Fragen der Säkularisierung und politischen Theologie gehören, in einem Beitrag nach, der vor wenigen Wochen zuerst auf den Seiten des israelischen Shalom-Hartman-Institute erschien und nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 364 an dieser Stelle in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird: "Kann Papst Leo XIV. die katholisch-jüdischen Beziehungen wiederbeleben?"


© 2025 Copyright bei der Autorin
Übersetzung aus dem Englischen: Christoph Münz
online für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 364


Kann Papst Leo XIV. die katholisch-jüdischen Beziehungen wiederbeleben?*

KARMA BEN-JOHANAN


Wir wissen immer noch nicht viel über Leo XIV. Als ein Mann, der mit einem Fuß in Nordamerika - seiner Heimat - und mit dem anderen in Südamerika steht, wo er zwei Jahrzehnte lang der Kirche diente, bringt er eine Botschaft der Einheit mit, eine Botschaft, nach der die katholische Kirche, die zunehmend global ausgerichtet ist, sehr dürstet. Bislang wissen wir nichts über die Haltung Leos XIV. zum interreligiösen Dialog oder über seine Haltung zum Judentum und zu den Juden im Besonderen.

Die Catholic Theological Union, jene Institution in Chicago, an der er einen Großteil seiner akademischen Ausbildung erhielt, ist eine liberal ausgerichtete katholische Einrichtung, an der er gewiss über das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils unterrichtet wurde, einschließlich einer Betonung auf der Beziehung zwischen der Kirche und den Juden. Chicago ist als ein amerikanischer Ort bekannt, an dem der jüdisch-katholische Dialog sehr lebendig ist, und die Vereinigten Staaten haben sich insgesamt als der erfolgreichste Ort für die Beziehungen zwischen den beiden Gemeinschaften erwiesen. Dennoch ist der jüdisch-christliche Dialog heute an seine Grenzen gestoßen, und seine Wiederbelebung wird große Anstrengungen aller Beteiligten erfordern.

Nur die Zeit wird zeigen, ob Leo XIV. diese Anstrengung unternehmen will. Als Kenner der Geschichte der jüdisch-katholischen Beziehungen sehe ich diesen Moment als eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir nach etwa sechzig Jahren fruchtbaren Dialogs zwischen dem jüdischen Volk und der katholischen Kirche in eine so tiefe Krise geraten sind. Auf den ersten Blick ist der offensichtlichste Grund für die gegenwärtige Krise in den jüdisch-katholischen Beziehungen der schreckliche Krieg, der in Israel, im Gazastreifen und im gesamten Nahen Osten tobt - ein Krieg, der sowohl bei seinen vielen Gegnern weltweit, die Israel als brutale Kriegsmaschine betrachten, als auch bei seinen Unterstützern, die scharfe Kritik an Israel als eine zu starke Vereinfachung einer komplexen moralischen und militärischen Realität ansehen, bittere Gefühle hervorruft. Papst Franziskus hat eine entschieden pro-palästinensische Haltung eingenommen und sich damit an die Spitze der linken Meinungsführerschaft weltweit gegen den Krieg in Gaza gestellt. Der Staat Israel seinerseits zeigte sich verärgert über die einseitige Haltung des Vatikans. Die Spannungen eskalierten zu der mutmaßlich schwersten diplomatischen Krise seit dem israelisch-vatikanischen Abkommen von 1993: Nach dem Tod des Papstes verbot das israelische Außenministerium seinen Botschaftern, der internationalen katholischen Gemeinschaft Beileidsbekundungen zu übermitteln, und allein der israelische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Yaron Zeidman, war bei der Beerdigung des Papstes anwesend.

Oberflächlich betrachtet scheint es sich um eine diplomatische Krise zwischen zwei Staaten zu handeln, nicht um eine Krise in den Beziehungen zwischen Kirche und Judentum. Doch die Ähnlichkeit zwischen Israel und dem Vatikan liegt gerade in der weitreichenden Bedeutung, die beide für zwei globale Gemeinschaften haben - das jüdische Volk bzw. die katholischen Gläubigen.

In Wahrheit liegt der Ursprung dieser Krise tiefer, eingebettet in die tiefgreifenden Veränderungen, die beide Gemeinschaften in den letzten Jahrzehnten durchlaufen haben. Als die katholische Kirche nach Generationen der Feindseligkeit die Versöhnung mit dem jüdischen Volk suchte, war sie noch eine weitgehend europäische Kirche, deren historisches Bewusstsein tief in den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verwurzelt war - und die die Integration der Juden in den Westen als eine grundlegende Voraussetzung für die Wiedergeburt einer nachhaltigen liberalen Demokratie galt und mithin für eine Erholung des Westens von den Verwüstungen, die er in zwei Weltkriegen selbst angerichtet hatte. Seitdem hat sich der Schwerpunkt der katholischen Kirche in andere Regionen verlagert - nach Afrika, Südamerika und Asien - Gebiete, deren prägende Erinnerungen die des westlichen Imperialismus, Kolonialismus und der wirtschaftlichen Unterdrückung sind, und wo der wichtigste „Andere“ nicht die Juden sind, sondern die Anhänger anderer Religionen, insbesondere die Muslime. Heute lebt mehr als die Hälfte der Katholiken weltweit im globalen Süden.

Auch die jüdische Gemeinschaft hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert: Neben der großen amerikanischen und der kleineren europäischen jüdischen Gemeinschaft hat das israelische Judentum an Stärke gewonnen, und auch für sie ist das Andere nicht in erster Linie das Christentum, und unter den Christen schon gar nicht die katholische Kirche. Wie die katholischen Gläubigen im globalen Süden haben auch die israelischen Juden im Nahen Osten eine ambivalente Haltung gegenüber dem Westen, der einerseits für Werte wie Demokratie, Freiheit und Gleichheit steht, andererseits aber auch eine Geschichte der Unterdrückung, der Ausbeutung, des Rassismus und des Antisemitismus mit sich bringt, die allzu oft im Namen dieser hehren Werte proklamiert wurden.



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So haben sich zwei Gemeinschaften, die einst eine gemeinsame Basis fanden, auseinandergelebt. Der jüdisch-christliche Dialog ist allmählich zu einem Merkmal des „alten“ Westens geworden - diasporahaft aus israelischer Sicht sowie eurozentrisch und allzu liberal aus der Sicht der katholischen Weltgemeinschaft. Beide Gemeinschaften haben daher beschlossen, dass sie sich um Wichtigeres zu kümmern haben.

Diese Vernachlässigung der katholisch-jüdischen Beziehungen trat während des Pontifikats von Franziskus dramatisch zutage. Zu Beginn wurde er als Freund der Juden angesehen. Viele Juden hatten das Gefühl, dass mit der Ankunft eines argentinischen Papstes endlich ein jüdisch-christlicher Dialog stattfinden könne, der nicht mehr von Schmerz, Schuld und Wut über das Schicksal des europäischen Judentums im Holocaust belastet ist. Jetzt könnte es einen Dialog geben, der in einem anderen historischen Bewusstsein wurzelt und eine neue Seite in den jüdisch-christlichen Beziehungen aufsch lägt. Aufgrund seiner Herzlichkeit und seines guten Willens wurden umstrittene Äußerungen, die Franziskus in der Vergangenheit gemacht hatte - etwa überholte Lesungen des Neuen Testaments mit antijüdischen Untertönen, wie die Beschreibung der „Pharisäer“ (die in der christlichen Tradition oft als Prototyp der rabbinischen Tradition gelten), die die Thora falsch verstanden hatten, weil sie sie nicht im Lichte Christi lasen, oder die Behauptung, dass die Rabbiner Kinder wie kleine Diener behandelten, bis Jesus kam und die Einstellung gegenüber der Kindheit änderte - bereitwillig verziehen.

Alle nahmen zu Recht an, dass Franziskus' Ausrutscher aus Unkenntnis der Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen herrührte, ein Thema, das nicht zu seinem Fachgebiet gehörte. Schließlich hatte er das tief verwurzelte Erbe des Antisemitismus in Europa nicht geerbt, und daher fehlte ihm eine zeitgenössische europäische Sensibilität für Aussagen des Neuen Testaments, die als antijüdisch ausgelegt werden könnten. Aber genau das ist der Punkt: Ohne kontinuierliche Bemühungen um ein Christentum, das frei von antijüdischen Vorurteilen ist, können Probleme leicht wieder auftauchen - nicht aus Antisemitismus, sondern einfach aus Unkenntnis des explosiven Materials, das der Tradition innewohnt, und der Leichtigkeit, mit der sich dieser Zündstoff entfachen kann.

In den Jahrzehnten vor seinem Pontifikat hatten die Beziehungen zum Judentum oberste Priorität im Kontext des Engagements der Kirche mit anderen Religionen, sowohl wegen der noch frischen Erinnerung an den Holocaust als auch wegen der intensiven Aufmerksamkeit, die die Kirche dem Wiederaufbau und der Neugestaltung Europas nach dem Krieg widmete. Franziskus, ein Mann des globalen Südens, ordnete diese Prioritäten neu und unternahm eine konzertierte Aktion, um die katholische Kirche näher an den Islam heranzuführen - durch Besuche in muslimischen Ländern, Erklärungen gegen Islamophobie und vor allem durch die Unterzeichnung eines gemeinsamen Dokuments mit dem Großimam von al-Azhar in Ägypten, Ahmed al-Tayeb, einer Figur, die für äußerst kontroverse Äußerungen über Juden bekannt ist, um es vorsichtig auszudrücken. Im Gegensatz dazu ging Franziskus davon aus, dass die Aufrechterhaltung des freundschaftlichen Status quo zwischen Juden und Christen nur geringe Anstrengungen seitens der Kirche erfordere.

Jüdische Gemeinden - und insbesondere das israelische Judentum - haben die Beziehungen zur katholischen Kirche in den letzten Jahren ebenfalls vernachlässigt. Säkulare Juden beteiligen sich nur selten am so genannten „jüdisch-christlichen Dialog“, der von der katholischen Kirche in erster Linie als religiös-theologische Aktivität betrieben wird und für ihre Art des Jüdischseins offenbar keinen Platz hat. Die orthodoxen Gemeinschaften ihrerseits betrachten die Kirche und ihre Motive mit großem Misstrauen und haben sich ebenfalls von einem solchen Dialog ferngehalten. Da die Säkularen und die Orthodoxen die beiden größten Bevölkerungsgruppen Israels darstellen, sind sinnvolle Bindungen zwischen dem israelischen Judentum und der katholischen Kirche einfach nicht in dem Maße entstanden, wie sie in der Diaspora bestehen. Darüber hinaus hat Israel seine Beziehungen zur christlichen Welt nicht nur auf diplomatischer Ebene systematisch vernachlässigt, sondern auch in Fragen der Bildung. In den letzten Jahren hat sich diese Vernachlässigung in dem schändlichen Phänomen radikalisierter israelischer Juden manifestiert, die Kirchen in der Jerusalemer Altstadt bespucken, und manchmal sogar noch Schlimmeres - Taten, gegen die die Strafverfolgungsbehörden inzwischen vorgegangen sind, die aber dringend Maßnahmen erfordern, um das Bewusstsein für das Christentum unter den israelischen Juden zu schärfen und Gewalt und Hass zu beseitigen.

Mit anderen Worten: Neben dem vordergründigen Narrativ von der historischen Versöhnung zwischen der Kirche und den Juden, dem unerschütterlichen katholischen Widerstand gegen den Antisemitismus und Israels entschlossenem Schutz der heiligen Stätten und der Religionsfreiheit wächst unter unseren Füßen ein Dschungel neuer Feindseligkeit, der vor allem auf Nachlässigkeit beruht. Keine der beiden Gemeinschaften räumt heute den Beziehungen zu ihrem Gegenüber einen hohen Stellenwert ein. Meiner Meinung nach ist dies ein Fehler. Gerade weil sowohl die Kirche als auch das jüdische Volk heute global und multikulturell sind, haben beide ein echtes Potenzial, die Komplexität des anderen zu schätzen und auf dem seit den 1960er Jahren geschaffenen Fundament aufzubauen, um auf der bereits begonnenen historischen Reparatur eine neue, vielfältigere globale Ebene der Beziehungen zu errichten. Ich hoffe, dass Papst Leo XIV. den Aufbau einer solchen Ebene anführen wird.


*Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Münz



Die Autorin

Karma BEN-JOHANAN

Historikerin, forscht derzeit am Kogod-Forschungszentrum des Shalom Hartman Instituts in Jerusalem. Außerdem unterrichtet sie an der Abteilung für Vergleichende Religion der Hebräischen Universität Jerusalem. Zuvor war sie Professorin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie den Lehrstuhl für jüdisch-christliche Beziehungen innehatte. Sie promovierte an der Zvi Yavetz School of Historical Studies der Universität Tel Aviv. Anschließend war sie Fulbright Postdoctoral Fellow an der University of California in Berkeley und Postdoctoral Research Fellow an der Polonsky Academy for Advanced Studies in the Humanities am Van Leer Jerusalem Institute. 
Ben Johanan wurde 2023 mit dem Dan-David-Preis für das Studium der Vergangenheit ausgezeichnet. Ihr Buch Jacob's Younger Brother: Christian-Jewish Relations after Vatican II (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2022) wurde mit dem Polonsky Prize for Creativity and Originality in the Humanistic Disciplines und dem Catholic Media Association Award ausgezeichnet. Die hebräische Version des Buches A Pottage of Lentils: Mutual Perceptions of Christians and Jews in the Age of Reconciliation (Tel Aviv University Press, 2020) wurde mit dem Shazar Prize for Research in Jewish History 2021 ausgezeichnet.

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