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Online-Extra Nr. XXX


Lexikon der jüdischen Gemeinden
im Deutschen Sprachraum.

Hechingen


KLAUS-DIETER ALICKE


Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum



Klaus-Dieter Alicke
 Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum
 
Gütersloher Verlagshaus 2008
 2364 S. 3 Bände kartoniert im Schuber
 Format: 22,0 cm x 30,5 cm
 EUR 148,00 [D] / EUR 152,20 [A] / SFr 246,00
ISBN 978-3-579-08035-2


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Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum

Hechingen (Baden-Württemberg)  


Anders als in den meisten deutschen Städten ist die Geschichte der Stadt Hechingen und die der dortigen jüdischen Gemeinde aufs engste miteinander verknüpft. Seit Ende des 15.Jahrhunderts wuchs die jüdische Bevölkerung von Hechingen langsam, aber kontinuierlich an -  nur Ende des 16. Jahrhunderts unterbrochen durch eine größere Vertreibungswelle. Dieses Bevölkerungswachstum hielt bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts an.

Um 1845 sollen in Hechingen mehr als 800 jüdische Einwohner gelebt haben, was damals mehr als 25 %  der Gesamtbevölkerung entsprach. Durch Abwanderung in urbane Zentren ging ab den 1860er Jahren ihre Zahl allerdings stark zurück.

Unter preußischer Herrschaft wurde ab 1850 die Industrialisierung Hechingens vorangetrieben; in der Mitte des 19.Jahrhunderts entwickelte sich Hechingen - dank jüdischer Industrieller - zu einem Zentrum der südwestdeutschen Textilindustrie.

Spätestens seit Mitte des 16.Jahrhunderts gab es in Hechingen eine erste Synagoge; sie befand sich vermutlich an der Stelle des heute noch vorhandenen Synagogengebäudes in der Goldschmiedstraße.

Etwa 200 Jahre später wurde eine neue Synagoge errichtet; daneben stand das jüdische Gemeinde- und Schulhaus.

1881 wurde die Fassade der Synagoge im neoklassizistischen Stile umgestaltet.

Daneben gab es in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts noch zwei kleinere Synagogen: eine stand in der Friedrichstraße im ‚jüdischen Stadtteil’, die andere - die „Stiftssynagoge“ der Familie Kaulla -  in der Münzgasse, neben der eine Talmud-Schule betrieben wurde; diese Synagogen bestanden bis 1850 bzw. 1870.

Karoline (Chaile) Kaulla (geb. 1739 in Buchau) war zu ihrer Zeit einer der bedeutendsten Hoffaktorinnen und galt als reichste Frau Deutschlands. Mit 18 Jahren wurde sie mit Akiba Auerbach in Hechingen verheiratet; da sich ihr Ehemann religiösen Studien widmete, übernahm sie - genannt „Madame Kaulla“ - die Geschäfte und erhielt 1768 vom Fürsten zu Fürstenberg in Donaueschingen ihr Patent als Hoffaktorin „Kaulla Raphael“. Zwei Jahre später avancierte sie zur Herzoglich Württembergischen Hoffaktorin. Innerhalb weniger Jahrzehnte häufte die Familie ein beträchtliches Vermögen an, das mit Heereslieferungen in großem Stile erworben wurde. Im Jahre 1809 verstarb Karoline Kaulla siebzigjährig in Hechingen, die sich auch durch ihr soziales Engagement für die Bevölkerung Hechingens einen Namen gemacht hat.

Ihre Verstorbenen begrub die Hechinger Judenschaft zunächst in Haigerloch bzw. Mühringen; weitab von der Stadt - am Galgenrain, in Richtung Sickingen - wurde ab 1650 ein eigenes Beerdigungsareal genutzt; auf diesem sind mehr als 1.000 Grabstätten nachweisbar.



Juden in Hechingen
 

um 1545............. 10 jüdische Familien
um 1640............. ca. 30 Juden
um 1770............. ca. 350   "
um 1800............. ca. 400   "
1842.................. 809   " (ca. 25% d. Bevölk.)
1858.................. 469   "
1871.................. 423   "
1895.................. 233   "
1907.................. 185   "
1925.................. 111   "
1933.................. ca. 100   "  (ca. 2% d. Bevölk,)
1938/1939.......... ca. 80   "
1942 (Sept.)....... ca. 5   "
 
Angaben aus: Casimir Bumiller (Bearb.), Juden in Hechingen. Geschichte einer jüdischen Gemeinde ..., S. 66/67
 



Der reichsweite NS-Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 und damit der Auftakt zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben wurde auch in Hechingen durchgeführt. Vor elf jüdischen Geschäften bauten sich uniformierte SA-Angehörige auf, um „Arier“ am Betreten der Geschäfte zu hindern; zudem wurden Plakate mit der Aufschrift „Deutsche, kauft nicht bei Juden” an die Schaufenster geklebt.

In den folgenden Jahren störten oft Mitglieder der NS-Jugend Veranstaltungen in der Synagoge mit Sprechchören wie: „Nieder mit den Juden!” oder „Raus aus Deutschland”; diese Parolen wurden auch vor dem Haus des Vorstehers der jüdischen Gemeinde, Emil Weil, wiederholt.

Im Sommer 1935 wurde den jüdischen Bürgern Hechingens die Benutzung der städtischen Schwimmbäder verboten.

Nach der Verdrängung der Juden aus der Wirtschaftsleben und ihrer anschließenden Vertreibung verlor die Stadt Hechingen fast die gesamte selbstständige Industrie und zahlreiche Gewerbebetriebe.

Im November 1938 hatte der Reutlinger SA-Standartenführer Karl Schuhmacher den Befehl erhalten, die Synagoge in Hechingen in Brand zu stecken und jüdische Geschäfte zu demolieren. Er beauftragte den örtlichen SA-Sturmführer Max Musiol mit der Durchführung. In den frühen Morgenstunden des 10.November 1938 wurde die Synagoge in der Goldschmiedstraße von einheimischen und aus Reutlingen angereisten SA-Angehörigen zerstört: Sie schlugen Türen und Fenster ein und demolierten die Inneneinrichtung; die Thoranische wurde beschossen. Das Gebäude wurde aber nicht in Brand gesteckt, weil es inmitten einer Häuserzeile lag.

Wegen Kompetenzgerangels der Bürokratie blieb das Gebäude vom Abriss verschont; das Grundstück wurde von der Stadt für wenig Geld gekauft. Das Gebäude diente zunächst als Turnhalle, später als Rekrutierungsgebäude für Soldaten.


Aus den „Hohenzollerischen Blätter” vom 12.11.1938:


Volkszorn zerstört Hechinger Synagoge
Gerechte Vergeltungsmaßnahmen treffen das Judenpack


... In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag sammelten sich in der Goldschmiedstraße vor der Synagoge empörte Volksgenossen, die in durchaus verständlicher und berechtigter Erregung diese jüdische Kultstätte zum Zielpunkt ihres Vergeltungswillens genommen hatten. Binnen kürzester Zeit waren die Türen erbrochen und die gesamten Einrichtungsgegenstände zerstört. In ihrem kaum zu überbietenden Zorn machten die Volksgenossen derart ‘ganze Arbeit’, daß an eine Wiederherstellung der Innenausstattung für den bisherigen Zweck nicht mehr gedacht werden kann. Das ... Haus ... gleicht innen einem Trümmerhaufen. Auch sämtliche Fenster und Türen sind zerschlagen. ...Mit Abscheu spricht jedermann von dem jüdischen Pack, das nun auch hier in Hechingen die Faust des Volkes zu spüren bekam. Möge dieses Beispiel der Judenschaft zeigen, daß Deutschland nicht länger mit sich spielen läßt und seine Feinde dort zu treffen weiß, wo es sie am meisten schmerzt.
Überflüssig zu sagen, daß von Ausschreitungen oder gar Plünderungen nirgends etwas bemerkt werden konnte. Wer Zeuge der antijüdischen Aktionen war, mußte sich vielmehr über die Disziplin, die von der Volksmenge ... gehalten wurde, wundern. ”



Auf Anordnung der Gestapo ließ der Landrat sieben jüdische Männer aus Hechingen in Haft nehmen; die jüngeren wurden im KZ Dachau „in Schutzhaft“ genommen.

Im Gefolge der Ereignisse des 9./10.November 1938 mussten - auf Anordnung des Landrats - die Einzelhandelsgeschäfte jüdischer Besitzer schließen, nur der Verkauf von Lebensmitteln war noch erlaubt.

Jüdische Schüler wurden nun auch vom Besuch öffentlicher Schulen ausgeschlossen; die beiden jüdischen Lehrer Karl Hamburger und Leon Schmalzbach gaben von da an Privatunterricht.

Wer nicht rechtzeitig emigrieren konnte, wurde Ende 1941/Anfang 1942 deportiert; in Hechingen waren davon elf meist ältere Personen betroffen.


Im September 1942 hieß es in der ‚NSDAP-Chronik’ Hechingens:

“ .. Hechingen ist jetzt bis auf die Ehefrau des Glasers  Jakob Fauser, Flora Fauser, geborene Ullmann,  und deren vier Kinder judenfrei. “



Mindestens 29 jüdische Bewohner Hechingens wurden Opfer der Shoa.

Nach Kriegsende wurde das Synagogengebäude der jüdischen Kultusgemeinde Stuttgart übertragen, die es wenige Jahre später an einen Gewerbebetrieb veräußerte; nun wurde es als Lagerhalle genutzt.

In den 1980er Jahren setzte eine Bürgergruppe, die „Initiative Hechinger Synagoge“, sich für die Rettung des ehemaligen Synagogengebäudes ein. Mit hohem Kostenaufwand wurde es schließlich in seiner ursprünglichen Form von 1938 wiederhergestellt. Seit 1986 dient das Gebäude als Stätte der Erinnerung und Begegnung. Auf der Empore informiert eine Dauerausstellung über die lange jüdische Geschichte Hechingens.

Seit Frühjahr 2003 wird die „Alte Synagoge Hechingen“ auch wieder als Gotteshaus genutzt, insbesondere von den Juden  in den Landkreisen Zollernalbkreis und Reutlingen.

Vor dem Hechinger Rathaus findet man am neuen Brunnen mehrere Reliefs, die Aspekte jüdischer Stadtgeschichte widerspiegeln.

Auf dem jüdischen Friedhof erinnert eine Gedenkplatte mit den Namen der verschleppten und ermordeten jüdischen Bürger an die einstige jüdische Gemeinde.

Auf dem Gebiet der Kommune Bisingen, einige Kilometer südlich Hechingens gelegen, existierte ab August 1944 bis April 1945 ein Außenlager des KZ Natzweiler. Das AK Bisingen war eines von sieben Lagern des sog. Unternehmens ‘Wüste’; hier mussten mehr als 4.000 zumeist osteuropäische Häftlinge, darunter mehr als 1.000 Juden, Schwerstarbeit im Ölschieferbruch leisten.

Den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen fielen fast 1.200 Häftlinge zum Opfer; die allermeisten sind auf dem ‘KZ-Friedhof’ in Bisingen begraben.


Weitere Informationen:

Paul Sauer, Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Mitbürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945 , Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 90 - 94

H. Breimesser, Ursprung, Entwicklung und Schicksal der jüdischen Gemeinde Hechingen, Zulassungsarbeit Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, 1968

Juso-AG Bisingen (Hrg.), Das KZ Bisingen - Eine Dokumentation, 1984

Manuel Werner, Die Juden in Hechingen als religiöse Gemeinde, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 20.Jg./1984, S. 102 - 213  und  21.Jg/1985, S. 49 - 169

Joachim Hahn, Synagogen in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1987, S. 75 f.

Otto Werner, Die Juden in Hechingen während der Zeit des Nationalsozialismus, in: 1200 Jahre Hechingen, Hrg. Stadt Hechingen 1987

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 568 -  572

Casimir Bumiller, Die jüdische Gemeinde Hechingen im 16.Jahrhundert, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 14-25/1988/89, S. 159 - 184

Otto Werner, Juden im Zollernalbkreis, in: Der Zollernalbkreis, Stuttgart 1989, S. 149 f.

Casimir Bumiller (Bearb.), Juden in Hechingen. Geschichte einer jüdischen Gemeinde in neun Lebensbildern aus fünf Jahrhunderten -  Ausstellungskatalog zur Dokumentation in der Alten Synagoge Hechingen, Hrg. Alte Synagoge e.V. Hechingen, o.J.  (Anm.: gute zusammenfassende Darstellung der jüdischen Geschichte Hechingens)

Casimir Bumiller, Die alte Synagoge in Hechingen, Hechingen 1991

Otto Werner, Synagogen und jüdischer Friedhof in Hechingen, in: Schriftenreihe ‘Alte Synagoge e.V. Hechingen’ 1, Hechingen 1996

“Rappel”, Revue de la L.P.P.D., Heft No.4/1996, S. 658 ff.

Alte Synagoge e.V. Hechingen (Hrg.), Möglichkeiten des Erinnerns - Orte jüdischen Lebens und nationalsozialistischen  Unrechts im Zollernalbkreis und im Kreis Rottweil, Hechingen 1997, S. 21 ff.

Adolf Vees, Das Hechinger Heimweh - Begegnungen mit Juden, Tübingen 1997

Gedenkstätten in Baden-Württemberg, Hrg. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 1998, S. 30

Otto Werner, Jüdisches Hechingen - Einladung zu einem Rundgang, Hrg. Verein Alte Synagoge Hechingen e.V., Haigerloch 2000

Christine Glauning, Schieferöl und Zwangsarbeit. Das Unternehmen ‘Wüste’ und das Konzentrationslager in Bisingen. Geschichte und Erinnerung, Ulm 2001 (Neuaufl. 2003)

Adolf Vees, Das Hechinger Heimweh - Begegnungen mit Juden, 3.Aufl., Tübingen 2004

Gabriele Katz, Die erste Unternehmerin Süddeutschlands und die reichste Frau ihrer Zeit. Madame Kaulla, Filderstadt 2006

Adolf Vees, Die Synagoge in Hechingen: Von der Verdrängung zum Wiedergewinn der Geschichte, in: Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2007, S. 161 - 167

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...”  Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 176 - 181


Der Autor

KLAUS-DIETER ALICKE



Jhg. 1943, absolvierte in Göttingen ein Studium in Geschichte und Geographie. Seit 1969 war er im Schuldienst des Landes Niedersachsen, seit 1975 an der Hermann-Ehlers-Realschule in Bergen, davon die letzten 18 Jahre als Konrektor.

Neben seiner unterrichtlichen Tätigkeit gehörte er seit 1988 dem pädagogischen Besucherdienst der Gedenkstätte Bergen-Belsen an.

2006 wurde er pensioniert und lebt heute in Winsen/Aller im Landkreis Celle.



Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
redaktion@compass-infodienst.de

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