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ONLINE-EXTRA Nr. 88

Januar 2009

Aus Anlass des in wenigen Tagen bevorstehenden Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar veröffentlicht COMPASS heute und am Tag des Gedenkens selbst (siehe Online-Extra Nr. 89) zwei Überlebendenberichte ganz besonderer Art. Während am 27. Januar ein bislang unveröffentlichter Bericht eines Holocaust-Überlebenden exklusiv als ONLINE-EXTRA erscheinen wird, präsentiert Ihnen das heutige ONLINE-EXTRA Vorwort und Auszüge aus einem "Gesprächsbuch" der ganz besonderen Art.

Der Theologe Norbert Reck ließ sich über viele Monate hinweg von der Jüdin und Holocaust-Überlebenden Hanna Mandel in ihrem Wohnzimmer die Geschichte/n ihres Lebens erzählen. Ihre Erinnerungen, im Wortlaut dokumentiert, sind lebhaft, facettenreich, von verblüffender Präzision und voller Lebensklugheit.

Das Außergewöhnliche des Buches liegt nicht nur in seiner stilistischen Besonderheit - eben der Form des Gesprächs -, sondern auch in dem biographisch-historischen Bogen, den Reck im Gespräch mit Mandel schlägt: Auch die Geschichte vor der Deportation, dem Leben der Familie Mandel in einem kleinen ungarischen Ort, findet ihren Platz, denn jüdisches Leben in Europa hat nicht immer nur Verfolgung und Tod bedeutet. Genauso wenig endet das Buch mit der Befreiung der Konzentrationslager, sondern thematisiert in vielfältiger Weise das Ringen um ein Leben nach dem Holocaust mitten im "Land der Täter".

Enstanden ist auf diese Weise eine ebenso bedrängende wie bereichernde Lektüre – und eine Geschichte, die man nicht mehr vergessen will und kann!



COMPASS dankt dem Herausgeber Norbert Reck und dem Argument-Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!


© 2009 Copyright bei Autoren und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 88


Beim Gehen entsteht der Weg

Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz

HANNA MANDEL
aufgezeichnet und mit einem Vorwort versehen von Norbert Reck


Vorwort


Dienstagnachmittags am Kaffeetisch –
oder: Wie dieses Buch entstand



Zu Beginn war Hanna Mandel überhaupt nicht begeistert von der Idee eines Interviews. Sie hatte mit Journalisten schon schlechte Erfahrungen gemacht. „Die schreiben hinterher so, dass ich mich nicht mehr wiedererkenne“, sagte sie am Telefon. Ich hatte sie angerufen, weil ich mit ihr gerne einen kleinen Beitrag zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz machen wollte. Um sie zu überzeugen, versprach ich ihr, nichts zu veröffentlichen, was sie nicht ausdrücklich zum Druck freigeben würde. Ohne ihre Skepsis aufzugeben willigte sie ein, dass ich sie einmal besuchen dürfe. Dann würden wir ja sehen, ob aus dem Vorhaben etwas werde.

Als sie mich schließlich am vereinbarten Tag in ihrer Wohnung empfing, war der Wohnzimmertisch liebevoll gedeckt; selbstgebackener Kuchen und frisch gebrühter Kaffee standen bereit. Meinen mitgebrachten Blumenstrauß stellte sie dankend in eine Vase, nicht ohne den Hinweis, dass sie von solchen Höflichkeitsgesten eigentlich nichts halte.

Wir setzten uns, und schon waren wir mitten im Gespräch: Hanna Mandel sprach von den Klischeevorstellungen, die viele Menschen von der Befreiung der Konzentrationslager hätten. Sie begann, von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen, die ganz anders waren als diese Klischees. Keine Sekunde verging mit unverbindlichem Geplauder – von Anfang an. Und so blieb es auch in den folgenden zehn Jahren.

Denn schon bald wurde klar, dass es nicht bei dem geplanten kurzen Interview bleiben konnte. Nach dem ersten Treffen ging ich mit mehr als drei Stunden Tonbandaufzeichnungen nach Hause. Wir hatten verabredet, uns wieder zusammenzusetzen, sobald ich alle Tonbänder abgetippt hätte. Dann wollten wir gemeinsam sehen, was sich von diesen Texten für einen Artikel eignete.

Das war keine einfache Angelegenheit, wie sich bald zeigte. Hanna war zwar einverstanden mit meiner schriftlichen Wiedergabe unseres Interviews – „Du hast mich so gelassen, wie ich bin“ –, aber sie hatte immer wieder tiefe Zweifel, ob sich überhaupt mit Worten ausdrücken lasse, was sie erlebt hatte. Vor allem waren das nun nicht mehr Worte in einem Gespräch, in dem alles noch einmal anders gesagt werden konnte, wenn der Gesprächspartner etwas nicht verstanden hatte. Die Worte sollten jetzt auf Papier festgehalten werden. Also musste Satz für Satz geprüft werden, wo eventuell Missverständnisse aufkommen könnten oder wo das Erzählte nicht klar genug war.

Ich sagte Hanna, dass wir alle Zeit der Welt hätten, um gemeinsam eine Fassung unseres Gesprächs zu erarbeiten, mit der wir beide zufrieden sein könnten. So hatte ich es ihr ja schon bei unserem ersten Telefonat versprochen. Der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz war inzwischen längst vorüber, doch es sollte noch viele Wochen dauern, bis unser Artikel fertig war.

Das heißt übrigens nicht, dass Hanna „schwierig“ war, was die gemeinsame Arbeit betraf. Sie war immer froh, wenn wir eine gute, klare Formulierung gefunden hatten, und ging dann entschlossen weiter zum nächsten Satz. Aber sie war eine entschiedene Gegnerin aller sorglosen Oberflächlichkeit, gerade was die Sprache anging. Denn sie hatte oft genug erlebt, wie leicht unbedachte Worte verletzen oder sogar Menschen das Leben kosten können. An solcher Unbedachtsamkeit wollte sie sich nicht beteiligen.

Immer wieder kam es bei unseren gemeinsamen Beratungen vor, dass Hanna seufzte und meinte, eigentlich sei es gar nicht möglich, in einem kurzen Artikel auf den Punkt zu bringen, worum es bei ihrer Geschichte gehe. Man müsste viel weiter ausholen, Hintergründe aufzeigen und Alltagsbeispiele heranziehen, damit überhaupt nachvollziehbar würde, wie die Welt zur Zeit des Holocaust ausgesehen habe und was aus ihr seither geworden sei. Als ich auf einen dieser Seufzer einmal spontan antwortete, man müsste eigentlich ein ganzes Buch über ihr Leben machen, sah mich Hanna ernst an und sagte nach einem Moment des Nachdenkens leise: „Vielleicht sollten wir es wirklich versuchen.“

Bald wurde aus dieser Idee ein ernsthafter Plan, und vermutlich hat dieser Plan es uns erst ermöglicht, den ursprünglichen Zeitschriftenartikel abzuschließen. Denn wenn wir später noch einmal alles ausführlicher zu Papier bringen würden, dann konnten wir jetzt auch das Risiko eingehen, in einem ersten Text nicht alles zu sagen, was gesagt werden müsste. Der Artikel erschien noch im selben Jahr in Heft 9 der Zeitschrift Dachauer Hefte, in der die Erinnerungen der Überlebenden – für eine historische Zeitschrift keineswegs selbstverständlich – von Anfang einen festen Platz hatten.

Die Reaktionen auf unseren Beitrag in den Dachauer Heften waren ermutigend, und so machten wir uns bald erneut an die Arbeit. Nun sollte alles zur Sprache kommen, was in Gesprächen und kurzen Artikeln zumeist auf der Strecke bleibt. Auch die Geschichte vor der Deportation, das Leben der Familie Mandel in einem kleinen ungarischen Ort an der Theiß, sollte in dem Buch einen Platz haben, denn jüdisches Leben in Europa hatte ja nicht immer nur Verfolgung und Tod bedeutet. Genausowenig sollte das Buch mit der Befreiung der Konzentrationslager enden. Es sollte nicht zu dem Missverständnis beitragen, „danach“ habe ganz selbstverständlich das „normale“ Leben wieder begonnen.

„Danach“ war ja erst einmal gar nichts klar und selbstverständlich. Für Hanna war nicht klar, wie sie nach dem Verlust der Familie und ihres früheren Lebens wieder auf die Beine kommen sollte, wie sie weiterleben konnte mit ihren Erfahrungen. Und für die Welt war nicht klar, welche Konsequenzen sie aus dem Holocaust ziehen würde. Würden die Menschen ernsthaft nach den Ursachen von Vorurteilen und Hass fragen? Oder würden sie die Geschichte mit ein paar feierlichen Erklärungen auf sich beruhen lassen? Wie würden die Überlebenden der Lager mit den übrigen Menschen zusammenleben?

In Deutschland interessierten sich bis in die siebziger Jahre hinein nur wenige für die Geschichten der Überlebenden. Das änderte sich erst, als eine neue Generation von Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen zu unterrichten begann und als 1979 im deutschen Fernsehen die Serie „Holocaust“ gezeigt wurde. Mit einem Mal war die Judenverfolgung im Nationalsozialismus ein Thema, mit dem sich nicht nur die Historiker beschäftigten. Hanna begann, Schulklassen zu besuchen und mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht Gespräche zu führen. Sie freute sich über das wachsende Interesse. Zugleich hatte sie immer die Sorge, dass die frühere Gleichgültigkeit nun in das Gegenteil umschlagen konnte: in eine übertriebene Verehrung. Sie wollte nicht als eine besondere Person behandelt werden, nur weil sie überlebt hatte. Das Glück des Überlebens hatte sie immer als ein sehr zwiespältiges Glück empfunden. Vor allem mochte sie es nicht, für klüger oder weiser gehalten zu werden, weil sie in Auschwitz gewesen war. „Ich bin deshalb doch keine Heilige!“, sagte sie oft. Und schließlich war Auschwitz keine Bildungsanstalt gewesen.

Das war Hanna wichtig: Aus monate- oder jahrelanger Gewalt und Todesangst geht niemand als besserer Mensch hervor. Freier und stärker wird man nicht von allein, sondern indem man seine Erlebnisse immer wieder durcharbeitet und darüber nachdenkt, wie man zu dem geworden ist, was man ist. Für Hanna war das ein jahrzehntelanger Weg der Auseinandersetzung. Die Einsichten, die sie dabei gewonnen hatte, waren keine „Früchte von Auschwitz“, sondern das Ergebnis ihrer eigenen Anstrengungen, das Resultat ihrer eigenen Suche nach Antworten.

Auch davon sollte unser Buch erzählen, ohne Irrwege und Fehler zu verschweigen, ohne Scheu davor, auch Alltagsprobleme, finanzielle Notlagen und Ehekrisen anzusprechen. Denn auch diese Dinge gehören zur Realität der Überlebenden der Konzentrationslager. Sie leben ja mitten unter uns und teilen unsere grundlegenden Lebensbedingungen – mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Erlebnisse sie manches schärfer wahrnehmen und kritischer beurteilen lassen. Gerade deshalb dürften nicht allein die Lagererfahrungen der Überlebenden, sondern auch ihre Einschätzungen der Gegenwart für uns aufschlussreich sein.

Hanna und ich trafen uns nun regelmäßig jeden Dienstagnachmittag. Bei Kaffee und Kuchen besprachen wir unsere Neuigkeiten, tauschten Bücher und Zeitungsartikel aus und kommentierten die neuesten Nachrichten. Dann machten wir uns an die Arbeit. Die ersten Monate verbrachten wir mit einem ausführlichen Interview zu Hannas Leben.

Das ging mal flüssig und mal nur stockend voran; mal ging ich mit zwei randvollen Kassetten nach Hause, mal war es nur eine Viertelstunde. Je nach dem, was das Thema des Nachmittags war. Über manche Geschichten haben wir viel gelacht, anderes konnte Hanna auch Jahrzehnte später nur sehr schwer erzählen. Nicht jeder Tag war geeignet für jede Geschichte.

Ich lernte, dass es etwas sehr Intimes ist, über Verfolgung, Erniedrigung und Tod zu sprechen. So etwas kann nur in einer ruhigen, geschützten Sphäre gelingen. Das wird in unserer Talkshow-Kultur oft übersehen. Manches, was bedenkenlos in der Öffentlichkeit ausposaunt wird, verliert gerade dadurch seine Wahrheit. Als wir nach den Monaten des Interviews begannen, die Tonbänder gemeinsam abzutippen, Ergänzungen einzufügen und wiederum Satz für Satz zu besprechen, entschlossen wir uns deshalb, auf jede erzählerische Ausschmückung zu verzichten. Der Inhalt unserer Gespräche sollte schlicht und nüchtern nachzulesen sein. Was schmerzhafter und was leichter zu erzählen war, wollten wir nicht besonders herausstellen. Aufmerksame Leserinnen und Leser würden das ohnehin mitbekommen.

Wir nahmen uns viel Zeit für die Arbeit an diesem Buch. Manchmal ergaben sich auch längere Unterbrechungen durch andere Verpflichtungen von mir oder durch Hannas gesundheitliche Probleme. Wenn wir uns nach solchen Unterbrechungen wieder über die Texte beugten, sahen wir manchmal einiges mit anderen Augen. Manche Geschichte schien nicht mehr ins Buch hineinzupassen, an anderen Stellen nahmen wir plötzlich eine Lücke in der Erzählung wahr, die noch gefüllt werden musste.

Zuletzt aber stand alles fest, was im Buch erzählt werden sollte und was nicht. Nur ein paar sprachliche Präzisierungen wollten wir noch vornehmen, als Hanna – wie bereits mehrere Male zuvor – einen Zusammenbruch hatte und ins Krankenhaus musste.

Sie wusste, dass sie dieses Mal das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen würde. Einem der letzten Besucher, der sie noch bei Bewusstsein antraf, sagte sie traurig: „Jetzt werde ich das Erscheinen des Buchs nicht mehr erleben.“ Darauf hatte sie sehr gehofft, dafür hatte sie in ihren letzten Jahren viel Kraft aufgebracht. Im Februar 2003 ist sie gestorben, zehn Jahre nach unserem ersten Interview, drei Monate vor ihrem 76. Geburtstag.

Wir hatten eben doch nicht mehr „alle Zeit der Welt“, wie ich zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit immer wieder gesagt hatte. Und das ist in mehrerlei Hinsicht wahr.

Es ist wahr, was dieses Buch betrifft. Es hat nun kein letztes Okay von Hanna Mandel bekommen. Nach einiger Zeit überwand ich aber meine Skrupel und versuchte, die letzten notwendigen Korrekturen so auszuführen, dass Hanna damit zufrieden gewesen wäre.

Es ist wahr, was die möglichen Gespräche mit den Überlebenden des Holocaust angeht: Es bleibt nicht mehr viel Zeit, ihre Geschichten über unsere Welt zu hören, die uns niemand sonst erzählen kann. Kein Buch kann das direkte Zuhören ersetzen.

Und es ist wahr, wenn es um unser Zusammenleben auf diesem Planeten geht – ein Thema, das Hanna mehr als alles andere beschäftigte. Um ernsthafte Schritte gegen die Naturzerstörung und gegen die Gewalt zwischen den Geschlechtern, Glaubensbekenntnissen und Hautfarben zu unternehmen, haben wir nicht mehr alle Zeit der Welt. Katastrophen, die nicht aktiv verhindert werden, werden – so sah es Hanna – ziemlich sicher eintreffen.

Kein Buch kann Gespräche mit den Überlebenden ersetzen. Auch dieses Buch nicht. Meine Hoffnung ist trotzdem, dass beim Lesen etwas spürbar wird vom leidenschaftlichen Interesse Hanna Mandels an der Zukunft dieser Welt. Dass diese Leidenschaft ansteckend wirkt. Dass das Nachdenken über ihre Erfahrungen und Gedanken weitergeht. Das wäre mehr wert als alle feierlichen Gedenkreden, die zur Erinnerung an die Shoah gehalten werden.


München, im März 2008
Norbert Reck




HANNA MANDEL

Beim Gehen entsteht der Weg

Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz.
Aufgezeichnet von Norbert Reck


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Argument Verlag
Hamburg 2008
253 S.; Hardcover
17,90 Euro


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Hanna Mandels Lebens­erinnerungen berichten von jüdischem Leben in Europa vor der NS-Zeit, vom Leben und Sterben im KZ, vor allem aber auch vom Weiter­leben und Erleben in der Nachkriegszeit und im Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

»Auch die Geschichte vor der Deportation, das Leben der Familie Mandel in einem kleinen ungarischen Ort sollte Platz haben, denn jüdisches Leben in Europa hat nicht immer nur Verfolgung und Tod bedeutet. Genauso wenig sollte das Buch mit der Befreiung der Konzentrationslager enden. Es sollte nicht zu dem Missverständnis beitragen, ›danach‹ habe ganz selbstverständlich das ›normale‹ Leben wieder begonnen …«

Der Theologe Norbert Reck ließ sich von Hanna Mandel in ihrem Wohnzimmer die Geschichte/n ihres Lebens erzählen. Ihre Erinnerungen, im Wortlaut dokumentiert, sind lebhaft, facettenreich, von verblüffender Präzision und voller Lebensklugheit. Eine ebenso bedrängende wie bereichernde Lektüre – und eine Geschichte, die wir nicht vergessen wollen.



Aus dem 2. Kapitel


Beregszász

Am letzten Tag von Pessach kam die Anordnung. Zur Mittagszeit war schon das Gerücht durch den Ort gegangen, und am Abend war es offiziell: Wir sollten uns am nächsten Tag bereit halten für den Abtransport in ein Sammellager.

Wir konnten aber erst anfangen zu packen, als drei Sterne ohne Suchen am Himmel zu sehen waren; dann erst war der Feiertag zu Ende. Wir wuschen dann zuerst in aller Eile das ganze Pessach-Geschirr ab und trugen es auf den Speicher – wie in jedem Jahr. Das war Geschirr, das nicht mit gesäuertem Brot in Berührung kommen durfte; einmal im Jahr kam es für acht Tage in Gebrauch. Wir verstauten es auf dem Speicher in zwei großen Kisten, holten das normale Alltagsgeschirr wieder herunter und räumten es in die Schränke zurück.

Erst danach fingen wir an zu packen. Da erst, in der Nacht, kamen die Fragen auf: Was sollen wir denn mitnehmen? Zwanzig Kilo pro Person waren erlaubt. Sommersachen? Wintersachen? Oder beides? Welche Schuhe? Mein Vater und ich würden wohl auf jeden Fall auch feste Arbeitsschuhe brauchen, weil wir beide bestimmt arbeiten müssten. Vielleicht auch noch meine nächstjüngere Schwester Edit. Die Kleineren und meine Mutter eher nicht. Aber wie konnte man wissen, wie viel wir zu Fuß zu gehen hätten? Also brauchten sie vielleicht ebenfalls feste Schuhe. Aber zu viel konnten wir auch nicht mitnehmen, denn wenn es warm würde und wir zu warm angezogen wären, wäre das auch schlecht. Alles ging wild durcheinander, die Fragen, die Gedanken. Es war ein Wirbel, eine Aufregung, alle waren wir total aus dem Gleichgewicht. Auf uns lastete eine unaussprechliche Angst. Wir wussten nicht, wohin die Reise gehen würde. Und wir hatten keine Ahnung, dass wir für immer unser Heim verließen.

Am nächsten Morgen waren wir soweit, aber wir durften den Hof nicht verlassen, und so standen wir in der Frühe hinter dem Hoftor und warteten. Fast in jedem Haus in unserer Straße hatten die Familien ihre Sachen gepackt. Hier wohnten sehr viele Juden, und die Synagoge war ja auch in unserer Straße.

Da unser Ort nicht sehr viele Polizisten hatte, ritten sie mit Pferden die Straße auf und ab, und als direkte Bewacher bei den Häusern waren junge Leute eingeteilt. Unter ihnen waren ehemalige Mitschüler von mir, die damals in der vormilitärischen Ausbildung standen.

Die haben mitgeholfen, dass die Deportation klappte? Waren das die Antisemiten des Ortes?

Wahrscheinlich nicht. Ich glaube nicht unbedingt, dass sie Antisemiten waren. Sie lebten mit den üblichen Vorurteilen, aber sie hatten wahrscheinlich nie darüber nachgedacht. Für so etwas braucht es keine Antisemiten. Es braucht Mitläufer, Befehlsempfänger. Ob diese heute die Juden verfolgen und morgen die Ausländer oder übermorgen die Staatenlosen oder eine andere Gruppe – völlig egal: Diese Leute, die bereit sind, für andere schmutzige Dienste zu erledigen, oder laut mitjohlen, das sind immer Menschen, die keinen eigenen Standpunkt haben, die mitschwimmen. Und das ist in so einem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt, noch wesentlich schlimmer als in einer Stadt.

Während wir da so warteten, kam die Lehrerin vorbei, die unsere jüdische Klasse unterrichtet hatte. Meine Mutter weinte, und die Frau kam zu uns herüber und sagte: „Aber Frau Mandel, was machen Sie sich denn Sorgen? Es geschieht euch gar nichts. Schließlich ist mein Mann bei der Armee, er weiß Bescheid. Ihr werdet gut in einem Arbeitslager untergebracht.“

Wer hat euch sonst noch gesehen?

Niemand, nur Frau Fejes kam kurz vorbei und redete mit meiner Mutter. Alle anderen waren wie verschwunden ... Wir standen mehrere Stunden da am Hoftor. Auf dieser Straße war sonst immer viel Leben. Aber jetzt ließ sich niemand sehen. Beim Nachbarhaus direkt neben uns zum Beispiel, bei der Familie Kis, waren alle Rollos heruntergelassen. Das ist mir aufgefallen, weil die Rollos dort tagsüber sonst nie unten waren.

Als ich vor ein paar Jahren wieder in Vásárosnamény war und auf das Haus zuging, waren vorne die Rollos wieder unten. Da kam mir die Erinnerung zurück: Das war damals auch so. Ich machte der Familie einen Besuch, und der alte Herr Kis, 85 Jahre dürfte er inzwischen gewesen sein, sagte zu mir: „Weißt du, wie ich dich und deine Familie dort habe warten sehen, ist mir fast das Herz stehen geblieben.“ Ich erwiderte darauf nichts. Ich war sprachlos. Aber ich dachte mir: Herrgott nochmal, von wo aus konnte er uns denn sehen? Die Rollos waren doch unten! Also musste er aus der hintersten Ecke von einem kleinen Fenster aus die Szene beobachtet haben, und er hatte es nicht gewagt, sich offen zu zeigen.

Aber was hätten diese Leute denn tun sollen? War jetzt nicht ohnehin schon alles zu spät?

Natürlich: An der Deportation hätten sie nichts mehr ändern können in diesem Moment. Die Lawine rollte schon. Aber ein mitfühlender Blick, ein bedauernder Blick ... Einer trauernden Familie am Grab kannst du auch nicht mit Worten oder mit sonst irgendetwas den Schmerz lindern, aber ein Händedruck, ein Blick oder ein Wort: „Ich fühl mit euch“ – das kann es erträglicher machen. Alles ändert sich dann. Ich glaube nicht, dass die Menschen etwas anderes an erster Stelle brauchen. Sie brauchen an erster Stelle Menschlichkeit, Mitgefühl. Abnehmen kannst du niemandem etwas. Wenn jemand Schmerzen hat, kannst du den Schmerz nicht teilen. Aber du kannst zumindest dem anderen zeigen: Ich bin da, du bist nicht allein ... 


Aus dem 10. Kapitel


Fürth

Was bedeutete es für dich damals, nach Deutschland umzuziehen?

... Mich beschäftigte, wenn ich so zurückdenke, viel mehr, was die Leute in meinem Heimatort getan oder unterlassen hatten, denn die kannte ich ja, und ich kannte auch ihre Möglichkeiten. Darüber, was Deutschland verbrochen hatte, hatte ich mir bis dahin überhaupt keine Gedanken gemacht.

Das änderte sich aber schnell. Dass wir jetzt in Deutschland waren, begriff ich so richtig am dritten oder vierten Tag. Übergangsweise wohnten wir erst einmal in einer kleinen Pension in Nürnberg, für zwei Wochen. Ich musste von Anfang an selber kochen, weil wir nur koscher aßen. Also war es für uns nicht möglich, in ein Lokal zu gehen. Wenn wir unterwegs waren, hatten wir grundsätzlich einen kleinen elektrischen Kocher, einen Topf und zwei, drei Teller dabei. Das war immer das erste, was wir auspackten. Und dann kochte ich eben notdürftig eine Suppe oder einen Eintopf.

An diesem dritten oder vierten Tag in Nürnberg ging ich in ein kleines Geschäft einkaufen. Ich brauchte Brot. Der Ladenbesitzer kam von hinten, aus irgend einem wohnungsartigen Etwas, hervor. Ich sagte ihm, was ich brauchte, aber inzwischen klingelte die Ladentür noch einmal. Da kam ein Mann herein mit einem halben Arm, worunter er einen Packen Zeitungen geklemmt hatte. Mit dem gesunden Arm grüßte er: „Heil Hitler!“ Der Geschäftsinhaber grüßte zurück: „Heil Hitler!“ Der Einarmige nahm eine Zeitung aus dem Packen und gab sie dem Inhaber. Der verschwand mit der Zeitung sofort ins Hinterzimmer und legte sie dort ab. Dann kam er zurück und fragte mich noch einmal, was ich brauchte. Mir lief es kalt über den Rücken. Das war meine erste bewusst erlebte Begegnung mit dem Hitlergruß.
Das war 1952. Bis dahin hatte ich gedacht: Naja, das ist jetzt alles vorbei. In Wien war mir so etwas nicht begegnet, also musste ich mich auch nicht damit auseinandersetzen. Zeitungen konnte ich damals noch nicht lesen; von den Nürnberger Prozessen hatte ich nur so am Rande mitbekommen. Doch jetzt plötzlich dieser Hitlergruß und dazu eine Zeitung, die so schnell weggebracht werden musste ...

Ich nahm mein Brot, ging nach Hause und fing an, schrecklich zu heulen. War das noch immer nicht zu Ende? Wie sollte das weitergehen? Und jetzt war ich in diesem Land! Hier sollte ich leben? Als mein Mann nach Hause kam, erzählte ich ihm davon. Aber er wollte gar nichts davon wissen; auf seine typische Art sagte er: „Ach komm, das hast du falsch verstanden“. So wollte er immer wegwischen, was ihm unangenehm oder unbeantwortbar war. Ich war entsetzt, dass er das so wegschob, ich stritt mit ihm und sagte: „Hier will ich nicht bleiben. Ich will nach Israel! Ich will nicht hierbleiben; ich will nicht, dass mein Kind hier aufwächst. Ich will nicht, dass man sie schlägt, weil sie eine Jüdin ist, oder dass man mich schlägt.“

Aus dieser Geschichte ging ein ganzer Gedankenweg hervor. Nach einigen Tagen fragte ich mich: Was habe ich eigentlich erwartet? Wo sollten die alle hin, die an Hitler geglaubt haben? Habe ich geglaubt, dass die plötzlich alle umgedreht waren oder anders dachten? Das war der Anfang meines Nachdenkens darüber, wie weit eine Bevölkerung von einer Sache vergiftet sein kann. Aber noch immer sah ich vor allem die Masse, „die Deutschen“. Erst nach einiger Zeit fing ich an, die Einzelnen zu unterscheiden. Nicht alle waren gleich. Wer war was gewesen? Ich begann, den Leuten ins Gesicht zu schauen und zu suchen, ob ich nicht eventuell ein bekanntes Gesicht aus dem KZ wiedersehen würde, von den Bewachern. Ich hoffte geradezu, es würde denen ins Gesicht geschrieben sein, wenn sie so etwas getan hatten.

Das war natürlich idiotisch. Aber so dachte ich. Um draufzukommen, dass wir alle verschieden sind und dass jeder für sein eigenes Handeln verantwortlich ist, war es für mich vielleicht notwendig, erst einmal diese falsche Sicht gehabt zu haben. Es konnte ja nicht sein, dass jeder bei den Verbrechen dabeigewesen war. Es konnte nicht sein, dass jeder ein Mörder war.

Ich dachte an die jüdischen Blockältesten in Auschwitz. Nicht jeder jüdische Gefangene war ja ein Blockältester. Und nicht jeder Blockälteste war ein Schläger oder eine Schlägerin. Ich erinnerte mich auch an einen Überlebenden aus dem Heimatort meines Mannes, von dem man so zweideutige Dinge erzählte. Dass er angeblich mit einem Haufen Zahngold nach Haus gekommen sei und nie darüber gesprochen habe, was er im KZ erlebt hatte. Warum also sollte es bei den Deutschen nicht auch solche großen Unterschiede geben?

Wenn ich an diese frühen Überlegungen zurückdenke, sehe ich mich immer im Bus stehen, auf der Fahrt von Fürth nach Burgfarrnbach, wo die Schokoladenfabrik war. Es war eine enorm angefüllte Zeit: Wir mussten uns zurechtfinden in der neuen Umgebung, wir waren ganz mit dem Aufbau der Fabrik beschäftigt, Eszter war gerade zwei Jahre alt und brauchte mich ständig, es gab Ärger mit dem Compagnon und mit meinem Schwager ... Und ich musste mittags zur Fabrik rausfahren mit dem Bus, um dort Essen zu kochen, nachdem ich vorher eingekauft hatte. Also nahm ich jeden Tag das Kind und einen Korb mit Lebensmitteln und fuhr lange mit dem Bus, eine Stunde oder mehr ... Und meistens kamen mir da diese Gedanken, beim Warten, beim Stehen im Bus, der vollgepfercht war mit Menschen. Ich sah mir die Gesichter der Leute an, manchmal wurde Eszter unruhig, fast fiel mir inzwischen der Korb runter – so war die Situation. Und wenn dann der eine oder andere recht derb oder rücksichtslos war, dann dachte ich: Auf den tät’s passen, dass er ein Nazi war. Es war eine gewisse Art von Menschen, von denen ich es mir eher vorstellen konnte. Nicht jeder wäre dazu fähig gewesen, nicht jeder hätte es gerne getan – da bin ich sicher.


MIT BLICK AUF DIE TÄTER

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Björn Krondorfer, Katharina von Kellenbach, Norbert Reck
Mit Blick auf die Täter
Fragen an die deutsche Theologie nach 1945

1. Auflage 2006
317 S. Klappenbr.
Format: 12,8 cm x 20,0 cm
EUR 29,95 [D] / EUR 30,80 [A] / SFr 52,90
ISBN 3-579-05227-6


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Dieser Band nimmt neue Impulse der theologischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust sowie deren gesellschaftlichen Nachwirkungen auf. Die Diskussion inspirieren dabei insbesondere kritische Fragen nach den Tätern, ihrer Motivation und Herkunft aus dem christlich-abendländischen Geisteszusammenhang.

Untersucht werden die folgenden Fragen: Schuld und Vergebung in der Seelsorgepraxis an NS-Tätern während der internationalen Nürnberger Prozesse und der westdeutschen Gerichtsverfahren in den 1960er Jahren. Wie ist die katholische Kirche und Theologie mit der persönlichen Schuld hinsichtlich der NS-Zeit und der Schoa in der deutschen Nachkriegsgeschichte umgegangen? Wie präsentieren deutsche protestantische Theologen in ihren Autobiografien die Zeit des Nationalsozialismus, der Schoa und der Nachkriegszeit?



Aus dem 11. Kapitel


München

Am Muttertag gab es in jenem Jahr  [1986] in München am Marienplatz eine Tschernobyl-Demonstration, organisiert von Müttern mit kleinen Kindern. Da ging ich hin und nahm teil. Dort kaufte ich mir dann auch so einen Anstecker mit einer Friedenstaube. Und ich beschloss, diesen Anstecker in Zukunft auch im Büro zu tragen. Ich ahnte natürlich, dass das wieder nicht erwünscht war. Da lernte ich die Beamten dieser Gesellschaft so richtig kennen. Diese kleine Plakette führte dazu, dass mich im Büro plötzlich niemand mehr kannte und niemand mehr grüßte. Von einem Tag auf den anderen war ich die Verfemte.

Ich dachte zuerst noch, ich könnte das gut aushalten, weil ich ja Übung darin hatte. Aber das stimmte nicht. Ich erfuhr damals, wie jede neue Ausgrenzung wieder von neuem wehtut. Jedesmal, wenn einem das passiert, in jeder neuen Situation, hat man das Gefühl, die Welt bricht zusammen, der Boden wird einem unter den Füßen weggezogen. Ich hatte das schon als Kind kennen gelernt, als die Schulklassen in jüdische und nichtjüdische Klassen aufgeteilt worden waren. Das war das gleiche Gefühl: Ich war ausgegrenzt. Nur war ich damals mit den anderen jüdischen Kindern in einer Gruppe; diesmal war ich allein, mit dem Rücken zur Wand.

Langsam, so nach drei, vier Monaten beruhigte sich das wieder, so dass manche sich heimlich umschauten, und wenn keiner sonst in der Nähe war, sagten sie mir Guten Tag. Als ich dann endlich mit jemandem sprechen konnte, fragte ich: „Sagen Sie mal, was ist denn passiert? Wem hab ich etwas getan?“ Ich wusste natürlich, warum mich alle schnitten, aber ich war neugierig auf die Begründung. Ich bekam zur Antwort: „Sie dürfen nicht vergessen, wir sind Beamte; in diesem Haus dürfen wir solche politischen Ansichten nicht zur Schau tragen.“ Ich fragte zurück: „Was ist denn daran politisch, wenn ich für den Frieden bin? Muss ich denn für den Krieg sein? Oder wofür muss ich sein?“ – Die Antwort, die ich auf diese Frage bekam, werde ich nie vergessen: „Normalerweise ist es nicht gut, irgendeine Meinung offen zu sagen.“

Aber es war doch d e i n e Plakette! Du hast sie doch nicht gezwungen, auch eine Friedenstaube zu tragen!

Nein, aber sie dachten, der Chef würde es nicht gerne sehen, wenn sie mit mir noch Kontakt hätten. Nur aus diesem Grunde schnitten sie mich! Wo blieb da die Zivilcourage? Es gab keine. Es gab in meiner Heimat keine, als wir deportiert wurden; es gab in Fallersleben keine, wo eine Aufseherin, mit der man sonst ganz normal reden konnte, uns anschrie, sobald ihre Kameradinnen zuschauten; und es gibt sie heute genausowenig, und deshalb traue ich den Menschen nur wenig, absolut wenig. Ich frage mich: Wo ist da der Unterschied zwischen der damaligen Gesellschaft und der heutigen? Ist das nicht dasselbe?

Also ich meine schon, dass es da Unterschiede gibt. Heute wird man wegen einer politischen Ansicht nicht umgebracht; die Nazis aber hatten einen riesigen Denunzianten- und Terrorapparat.

Nein, du hast mich nicht richtig verstanden! Ich kann auch eine Demokratie von einer Diktatur unterscheiden. Aber meine Frage ist: Was ist der Unterschied zwischen den Menschen der damaligen Gesellschaft und der heutigen? Und da hat sogar dein Hinweis auf den Terror der Nazis einen Sinn: Heute wird man vom Staat nicht wegen seiner Meinung verfolgt, und trotzdem zeigen die Menschen nicht mehr Zivilcourage als früher!

Und wenn man mich fragt, warum ich immer wieder auf die Erziehung zurückkomme, kann ich es genau damit begründen: Wenn die Erziehung in den letzten vierzig Jahren anders gewesen wäre, wenn sie Selbstbewusstsein aufgebaut hätte, anstatt es zu zertrümmern, dann hätten zum Beispiel die Kolleginnen, mit denen ich gearbeitet habe, schon ein bisschen mehr Zivilcourage gehabt. Die hatten sie aber nicht. Sie sind heute so beherrschbar wie früher. Und die Entschlossenheit, mit der sie mich in dieser Arbeitsstelle zur Unperson gemacht haben – was ja eigentlich Angst war –, hat mich noch einmal am eigenen Leib erleben lassen, wie gefährlich eine Gesellschaft ist, in der die Menschen nicht selbständig denken und handeln können.

Umgekehrt, auf die Nazizeit bezogen, glaube ich nicht, dass Hitler so stark war, sondern dass die Menschen so schwach waren, so beeinflussbar. Ihr Selbstbewusstsein wurde schon früh zerstört. [...]

Wie war das mit Deinen Erinnerungen an Auschwitz? Waren es zuerst die Träume, die sie zurückbrachten?

Ja, denn in den Anfangsjahren schaffte ich es nicht, bewusst zurückzudenken. Es machte ja große Mühe, auf die Beine zu kommen, ein neues Leben aufzubauen ... Und man wollte ja auch gerne die Freiheit neu kennenlernen und nicht zurückdenken. Aber jede Geburt eines meiner Kinder hat eine Zeitlang solche Träume in mir hervorgerufen – in der schlimmsten Form. Ich hab ja erzählt, wie ich in Auschwitz mit angesehen hatte, wie ein Kind geboren wurde, und wie dann ein SS-Mann kam, das Kind der Mutter aus den Armen riss und es an einem Balken zerschlug. Du kannst dir vorstellen, dass das in mir regelrecht eingebrannt ist; und in allen möglichen Variationen ist dieses Erlebnis in meinen Träumen immer wieder zurückgekommen.

Es hat dich heimgesucht ...

Ja, „heimgesucht“ ist der richtige Ausdruck! Das einzige, was es für mich erträglicher macht, ist, dass ich heute sagen kann: Es gehört zu meinem Leben. Ich bäume mich nicht mehr dagegen auf. Ich versuche stattdessen, die Dinge besser zu verstehen – durch Psychologie, überhaupt durch das Hineindenken in die Menschen, in bestimmte Situationen und die handelnden Personen, in die bösartigen Menschen, in das, was mit mir geschehen ist. Durch den Versuch zu verstehen ist es mir möglich geworden, damit zu leben. Es verschwindet dadurch nicht, aber es ist verstehbarer geworden. Ich werde nicht nur heimgesucht, ich kann etwas tun.

Auf diese Weise hast du begonnen, deine Erlebnisse zu verarbeiten?

So ist es. Denn man darf nicht steckenbleiben in dem, was man erlebt hat, sonst bleibt man für immer drin. Ich bin da herausgekommen, indem ich begonnen habe, meine Erfahrungen und Gefühle zu untersuchen. Das kann ich mit einer kleinen Geschichte anschaulich machen.

Ich war, so lange ich zurückdenken konnte, immer wenn ich verreisen musste, beim Kofferpacken schon Tage vorher in heller Aufregung. Kurz vor der Abreise hab ich dann wie eine Verrückte Dinge eingepackt ohne nachzudenken, ob ich sie brauchte oder nicht. Ich hatte keine Ahnung, warum das bei mir so war. Ich dachte, das sei eben meine Eigenart. Meine Kinder hatten sich damit abgefunden, wir lebten alle damit.

Jahre später aber, als die Kinder schon aus dem Haus waren und ich alleine lebte, wollte ich einmal zur Kur fahren. Und wieder war es so: Je näher der Abreisetag kam, desto aufgeregter wurde ich. Da sagte ich mir: Jetzt ist Schluss damit! Ich setzte mich hin mit einer Tasse Kaffee und einer Schachtel Zigaretten und sagte mir: Jetzt gehe ich der Sache auf den Grund! Ich saß gute zwei Stunden da und grübelte, ohne dass ich das Rätsel lösen konnte. Plötzlich kam mir aber, wie eine Erleuchtung, ein Bild: die letzte Nacht zu Hause vor der Deportation. Und ich sah plötzlich meine Familie – wie in einem Wirbelsturm. „Papa, soll ich das mitnehmen?“ – „Mama, soll ich das mitnehmen?“ – „Ja, mein Kind, das ja, das nicht.“ Diese Nervosität, die Anspannung – genau das hab ich immer wieder nachvollzogen.

Seit ich das weiß, kann ich packen, völlig in Ruhe. Ich weiß zwar heute, dass ich manchmal etwas übersehe oder vergesse – na und? Dann ist es eben nicht dabei. Aber diesen inneren Wirbel hab ich nicht mehr.  [...]

Deshalb geht es dir nicht in erster Linie darum, Wissen über den Nationalsozialismus zu vermitteln ...

Das wär mir zu wenig. Natürlich braucht man ein Grundwissen, aber mir geht es eigentlich mehr um das Nachdenken über Erfahrungen, vor allem darüber, wie Hass und Vorurteile mörderisch werden können. Ich hab es doch am eigenen Leibe erlebt. Und der Hass ist immer noch da, die Gewalt ist noch da, auch heute. Deshalb interessiert es mich wenig, wie lange welches KZ existiert hat, wie viele Gefangene dort genau waren und all so etwas. Mich interessiert: Woher kommt die Gewalt? Was sind ihre Wurzeln? Was ist mit uns Menschen, dass wir uns gegenseitig so zerstören? Wie konnte es passieren, dass eine Partei, die den Hass als Programm hatte, an die Regierung kam? Und was können wir tun, damit der Hass weniger wird? Wie kann es sein, dass Politiker auch heute mit ausländerfeindlichen Parolen Wahlkampf machen? Warum lassen wir das zu? Wovor fürchten wir uns denn? Das sind für mich die Fragen. Dafür muss man aber klären, was in den einzelnen Menschen vorgeht und wie man ihnen helfen könnte, aus dem Elend, das auch nach Hitler noch andauert, herauszufinden. Und dafür muss ich natürlich auch meine Geschichte kennen und immer besser zu verstehen versuchen.

[...]

Wer waren die Menschen, die uns in Auschwitz bewachten? Die uns schlugen, die uns mordeten? Sie waren Soldaten! Auch die SS war ja so eine Art Soldaten-Organisation. Sie waren auf das Soldatentum dressiert. Sie handelten nur auf Befehl, und sie legten ihre Eigenverantwortung ab, als sie ihre Uniform anzogen. Ich kann sie nicht pauschal beurteilen, dazu müsste ich die Lebensgeschichten der Einzelnen kennen. Aber bei manchen hab ich’s gesehen, wie ihr Gesicht in Freude aufstrahlte, wenn sie jemanden in Qual sahen. Das waren schon Sadisten. Aber warum sind sie so geworden? Das sollte man doch ergründen!

Oder was ist mit den Technokraten, zum Beispiel mit den Atomenergie-Managern? Sie tönen groß, dass es richtig ist, Atomstrom zu erzeugen, dass sie Arbeitsplätze schaffen, dabei wissen sie doch, wie unberechenbar sie die Menschen gefährden. Die Gefahren sind ihnen bekannt. Aber sie nehmen sie in Kauf! Und verkünden lächelnd, dass kein Grund zur Sorge besteht. Wie viele Tote oder Strahlengeschädigte soll es denn noch geben, bis man erkennt, dass diese Kerle überhaupt nicht ehrenwert sind?

Oder nimm die Pharmakonzerne, die Arzneimittel in die Dritte Welt liefern, die hier schon längst verboten sind, weil sie schädlich sind. Sie nutzen die Gesetzeslücken in anderen Ländern und bringen dort die Menschen damit um. Sie wissen, was sie tun, und sie tun es!

Ähnlich ist es bei der Gentechnik, wo kein Mensch weiß, wohin das führt, was daraus eventuell an Gefahren entstehen kann. In so einem Zweifelsfall muss man nein sagen. Und wer dieses Nein nicht sagen will, der nimmt bewusst das Risiko in Kauf, dass am Ende doch Menschen geschädigt werden.

Und das kann man auch im Alltag beobachten. Ich denke, es ist ähnlich bei Menschen, die mit ihren Autos so wahnsinnig rasen: Sie gefährden nicht nur sich selbst mit ihrem Leichtsinn, sondern auch andere. Doch es kümmert sie nicht. Im Kern ist in ihnen eine Verachtung für andere Menschen, die wahrscheinlich ähnliche Wurzeln hat wie bei all diesen Beispielen, die ich gerade aufgezählt habe. Sie können nicht an die Folgen denken, sie können sich nicht in andere einfühlen – lies das mal nach bei Arno Gruen! Er nennt das den „Verlust des Mitgefühls“.

Aber sag mal, jetzt reden wir schon über Verachtung und Gewalt im Allgemeinen? Sind wir vom Nachdenken über den Nationalsozialismus abgekommen?

Ohne ein besseres Verständnis von den Menschen wirst du nicht verstehen, warum die Nazis so mächtig werden konnten, warum sie so viele Anhänger fanden. Man kann auch das Alltagsleben nicht trennen von der Geschichte. Ich denke das immer miteinander – so bin ich halt durch meine eigene Geschichte geworden. Andererseits hast du Recht: Besondere Erkenntnisse über den Nationalsozialismus habe ich nicht. Das sind akademische Fragen, die mich gar nicht so sehr interessieren. Ich möchte nicht stundenlang nur über den Holocaust reden, genauso wenig wie ich stundenlang darüber reden möchte, was in der Welt geschieht, ohne im Gespräch danach zu suchen: Wie könnte man etwas ändern? Was könnte man an Verbesserungen schaffen?

Der Holocaust ist für mich ein Ausdruck der totalen menschlichen Verirrung in einer bestimmten Zeit. Die Gesellschaft war an einem Punkt angelangt, wo man sich an Grausamkeiten und an Unheimlichkeiten überboten hat. Ich glaube nicht, dass es noch einmal zu so einer vorgeplanten, fabrikmäßigen Vernichtung von einem Teil der Bevölkerung kommen wird. Das ist einzig in der Geschichte, und ich glaube, dabei bleibt es auch. Die Gewalt, die heute in der Welt geschieht, ist breiter verteilt, allgemeiner, weniger sichtbar, aber sie ist doch genauso da. Und die Menschen sind immer noch dieselben, damals wie heute.

Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als in die Tiefe zu gehen, an die Wurzeln. Wir sind alle kaputt, da nehme ich mich nicht aus. Wir können kaum menschlich miteinander umgehen, weil wir so viel Gewalt erlebt haben. Und damit meine ich eben nicht nur die KZs; dazu gehören auch die Schläge, die wir als Kinder von Erwachsenen bekommen haben, dazu gehört, wie Frauen behandelt werden von Männern, dazu gehören viele andere Erfahrungen von Erniedrigung und Hass ... Da muss etwas geschehen.

Muss sich also insgesamt das Zusammenleben der Menschen ändern?

Auf jeden Fall! Nur sind die meisten Menschen noch nicht so weit, dass sie fähig wären, für eine andere Politik, für andere Umgangsweisen miteinander einzutreten, sich für eine bessere Erziehung einzusetzen. Es sind bestimmt immer noch neunzig Prozent, die sagen: „Solange es mir gut geht, kümmert es mich nicht.“ So denken viele. Sie können nicht nein sagen, sie haben keine eigene Auffassung von den Dingen – und genau deswegen kann man mit uns noch immer alles machen.

Die millionenfache Ermordung von Juden war auch nur deswegen möglich, weil die Menschen so sind. In dieser Beziehung war Hitler nur ein besonderer Fall. Natürlich ist es nicht das Gleiche, ob ich zur SS gehe oder Soldat werde oder ob ich in einer Waffenfabrik arbeite, aber das Nicht-Denken beginnt genau hier: wenn man nicht darüber nachdenkt, ob man in einer Waffenfabrik arbeitet oder ob man Waschmaschinen herstellt – Hauptsache man hat sein Monatsgehalt.

Das ist das, was mich so wütend macht: wenn jemand an dieser anerzogenen Unselbständigkeit festhält und sie auch noch weitergibt. Natürlich ist meine Wut ungerecht, denn diejenigen können nichts dafür; sie wissen es nicht besser. Aber trotzdem möchte ich manchmal losschreien: Werde selbständig! Fang an zu denken!

Vor einiger Zeit fragte ich eine Bekannte, ob sie zur Kundgebung beim internationalen Frauentag mitgehen würde. Sie sagte mir: „Das interessiert mich nicht. Meine Welt ist in Ordnung, der Rest geht mich nichts an.“ Ich schrie diese Frau an, ich stauchte sie regelrecht zusammen; sie erschrak sehr. Hinterher entschuldigte ich mich bei ihr, aber ich war so wütend, ich sah richtig rot. In mir rasten die Gedanken: Wenn sie nicht kapiert, was in Tschernobyl gewesen ist, dann wird es wieder passieren. Wenn sie nicht kapiert, wie Frauen kleingemacht und abhängig gehalten werden, dann wird es weiter passieren. Weil sie so viele Dinge nicht kapiert, geht sie das alles nichts an, betrifft es ihre Welt nicht. Solche Menschen schauten entweder verschämt oder entschlossen weg, wo Juden abgeholt wurden. Oder sie ließen ihre Rollos runter.

So lief das alles in Sekundenschnelle in mir ab. Dabei ist diese Bekannte ein harmloser, absolut nicht bösartiger Mensch. Es fehlt ihr nur an der Fähigkeit zu begreifen, dass wir alle zusammen in dieser Gesellschaft leben und dass alles uns alle betrifft. Sie lebt in ihrer kleinen Welt und hat keine Veranlassung, etwas mehr nachzudenken. Und das – davon bin ich überzeugt – darf man nicht verharmlosen und darüber hinwegsehen. Das muss man ansprechen! Solche Menschen wiegen sich sonst in einer Sicherheit, in einem Immer-noch-weniger-Denken. Man muss ihnen sagen, dass man auch anders denken kann, dass man umdenken kann.

Das sind die Dinge, die mir heute wichtig sind. Ich selber könnte nie sagen: Meine Welt ist in Ordnung – nur weil es mir persönlich gut geht. Direkt kann ich auch nicht soviel ausrichten gegen die Ungerechtigkeit, aber ich beteilige mich. Mir liegt nach wie vor daran, die Welt nicht so zu lassen, wie sie ist, und die Menschen nicht in ihren Träumen zu lassen. Denn jeder, der anfängt, seine Gedanken zu revidieren, umzudenken, kann unter Umständen einige andere Menschen mitziehen. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.

Dein unerschütterlicher Glaube an den Menschen ...

Woher nimmst du, dass ich an den Menschen glaube? Ich glaube nicht an den Menschen. Ich glaube, dass jeder etwas Gutes in sich hat. Das ist aber etwas anderes. Ich weiß, dass ich die Menschen fürchte – in dem Zustand, in dem sie heute im Allgemeinen sind. Da sehe ich kaum Gutes. Die allerwenigsten entwickeln sich weiter, die allerwenigsten sind so neugierig, dass sie weiter bereit sind zu lernen. Die meisten glauben, sie wüssten alles, sie könnten alles, sie hätten ihren Weg klar vor sich. Aus diesem Zustand heraus, wenn man sich selber nicht in Frage stellt, kann man sich nicht weiterentwickeln.

Wer einmal mit Kindern zu tun hatte, der weiß, wie unbelastet Kinder auf die Welt kommen, welche Offenheit sie mitbringen, dass es einen im Herzen berührt. Wenn man ein solches Kind erschreckt oder einmal im Stich lässt, fängt man an, diese kleine Seele zu vergiften. Es gibt ja mittlerweile viele psychologische Untersuchungen von Menschen, die auf irgendeine Weise gewalttätig oder verantwortungslos oder liebesunfähig geworden sind. Immer ist herausgekommen, dass sie enttäuschte, verschreckte, verängstigte, freudlose oder geschlagene, gequälte Kinder waren, die nur das weitergeben, was sie kennengelernt haben. Ich glaube fest daran, dass die Menschen nicht so geboren werden, sondern dass die Elternhäuser und die Gesellschaft das aus ihnen machen. Der Mensch kommt nicht schlecht auf die Welt. In jedem Menschen steckt etwas Gutes. Darauf kannst du bauen.


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Der Herausgeber

NORBERT RECK



geboren 1961, Dr. theol., ist Redakteur der deutschen Ausgabe der Zeitschrift "Concilium" und freier Autor u.a. für den Bayrischen Rundfunk.

Veröffentlichungen u.a.: Im Angesicht der Zeugen. Eine Theologie nach Auschwitz (Mainz 1998); Abenteuer Gott. Den christlichen Glauben neu denken (Darmstadt 2003).


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Norbert Reck



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