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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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ONLINE-EXTRA Nr. 190

September 2013

Das Verhältnis zum Staat Israel wird in Theologie und Politik vor allem hierzulande nach wie vor viel und oft kontrovers diskutiert. Innerhalb der Theologie geschieht dies zumeist eher im Rahmen dogmatischer und systematischer Fragestellungen (christlich-jüdischer Dialog, palästinensische Befreiungstheologie) und weniger in der kirchlichen Zeitgeschichte. Um so bemerkenswerter ist eine vor wenigen Wochen erschienene Publikation, die sich dem Problemkomplex betont auf zeitgeschichtlicher Ebrene nähert: "Der Staat Israel im westdeutschen Protestantismus. Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948 bis 1972", verfasst von dem Kirchengeschichtler Gerhard Gronauer.

Gronauer nimmt in seinem Buch eine beeindruckende Fülle von Einzelpersonen, kirchlichen Gruppierungen und Gremien der verfassten Kirche sowie ausgewählte evangelische Zeitschriften unter die Lupe, die sich mit der Frage befassten, was die Existenz des Staates Israel theologisch, moralisch und politisch bedeute: Haben Juden ein biblisch verbrieftes Recht auf das Heilige Land? Inwieweit ist angesichts der Schoah eine Solidarität zum Staat Israel geboten? Was folgt daraus für die Bewertung des Nahostkonflikts?

Gleichwohl betont Gronauer, dass er in seinem Buch "keine Staat-Israel-Theologie" vertritt. Er schreibt: "Aufgrund der zeitgeschichtlichen und publizistikwissenschaftlichen Ausrichtung meiner Studie vertrete ich in meinem Buch allerdings keine Staat-Israel-Theologie. Dabei gehe ich durchaus von einem heilsgeschichtlichen Verständnis des Volkes Israel im Sinne von Römer 9-11 aus. Am Erwählungscharakter des biblischen Gottesvolkes hat auch das Land Israel Anteil. Dass Juden im Heiligen Land wohnen dürfen, kann mit der Treue Gottes zu seinem erwählten Volk in Verbindung gebracht werden. Mehr wage ich aber nicht zu sagen. Vor direkten heilgeschichtlichen oder endzeitlichen Zuschreibungen an den Staat Israel als politische Entität halte ich mich zurück."

Diese betont wissenschaftliche Perspektive, die zuvörderst beschreibt und analysiert, ohne dabei zugleich eine bestimmte theologische Botschaft zu propagieren, macht seine Arbeit ebenso wertvoll wie anregend und erkenntiserhellend. Nicht zuletzt liefert er damit eine konstruktive Basis, um mit Christen unterschiedlicher Theologie und politischer Einstellung ins Gespräch kommen zu können.

Die nachfolgenden Auszüge aus seinem Buch geben zum einen seine Einleitung wieder, in der er eine Reihe von Vorbemerkungen und Voraussetzungen für die Beschäftigung mit der Thematik benennt. Und zum anderen deutet ein Auszug aus seinem Schlußkapitel einige der Erkenntisse und Schlußfolgerungen an, die Gronauer durch die Auseinandersetzung mit seinem Thema gewonnen hat.

COMPASS dankt dem Autor und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herzlichst für die Genehmigung zur Wiedergabe dieser Auszüge im nachfolgenden ONLINE-EXTRA Nr. 190!

© 2013 Copyright bei Verlag und Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 190


Der Staat Israel im westdeutschen Protestantismus.

Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948 bis 1972

GERHARD GRONAUER

Teil I: Vorbemerkungen und Voraussetzungen

1. Einleitung

Die Diskussion um ein israelkritisches Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass vom 4. April 2012 zeigt es erneut: Seit Jahrzehnten wird der seit der britischen Mandatszeit andauernde jüdisch-islamische Antagonismus im Nahen Osten in westlichen Nachrichtenredaktionen und Feuilletons, auf Kanzeln und Kathedern und – seit den 1990er Jahren – auf Internetenzyklopädien und Weblogs fortgesetzt.1  Manche Streitfragen wiederholen sich von Zeit zu Zeit, wie auch die im April 2012 von Günter Grass aufgeworfene: Handelt es sich bei den Maßnahmen des Staates Israels zur Sicherung seines Lebensrechts und seiner Landesgrenzen um eine legitime Verteidigung oder um unverhältnismäßige Vergeltungsaktionen und ‚Gefährdung des Weltfriedens‘ (Grass)?

 Auch die den Nahen Osten betreffenden Meinungen aus dem Raum der Kirche werden in der Öffentlichkeit registriert und – je nach zugrunde gelegter Position – gewürdigt oder kritisiert. So riefen im August 2011 die Thesen des ehemaligen Vorsitzenden des Konvents der Beistandspfarrer für Kriegsdienstverweigerer, Jochen Vollmer, einen Schlagabtausch von gegensätzlichen Positionen im Deutschen Pfarrerblatt hervor. Vollmer tadelte in einem Aufsatz die angeblich einseitig proisraelische Ausrichtung des deutschen Protestantismus, wodurch die Palästinenser als „Opfer von Opfern“ vergessen würden. Dass immer noch viele auf der Seite des Staates Israel stünden, der doch „Hunderttausende unschuldige Menschen zu Opfern gemacht hat und noch immer macht“, führte Vollmer auf eine verkehrt ablaufende ‚Kompensation‘ der nationalsozialistischen Verbrechen durch die Deutschen zurück.2 

Dass der Protestantismus eine verzerrte, einseitig positive Sicht auf den Staat Israel einnähme, wie Vollmer konstatiert hatte, wurde von Christian Hartung widersprochen. Letzterer schilderte in der nächsten Ausgabe des Pfarrerblattes seinen exakt gegensätzlichen Eindruck: „Gerade in kirchlichen Kreisen (erst recht in friedensbewegten) erlebe ich viel eher eine ‚Verzerrung‘ zugunsten der Palästinenser.“3 

In den Augen des ehemaligen Chefredakteurs der ZEIT, Michael Naumann, würde sich Vollmers leidenschaftlicher Artikel sicher gut in den von ihm 2002 diagnostizierten „neue(n) deutsche(n) Tonfall“ einfügen, der sich gegenüber Israel überheblich und einseitig kritisch artikuliere.4  Je nach eigenem Standpunkt kann man also in Deutschland und im deutschen Protestantismus einseitig proisraelische oder einseitig israelkritische Stellungnahmen ausmachen.

Ohne Zweifel kritisieren Repräsentanten des verfassten deutschen Protestantismus, der aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und den in ihr zusammengeschlossenen Landeskirchen besteht, immer wieder politische Maßnahmen der israelischen Regierung. Als ranghohe EKD-Vertreter im März 2002 die israelische Siedlungspolitik tadelten, war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen: „Die traditionelle israelfreundliche Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Landeskirchen wandelt sich. Sie weicht immer stärker einer kritischen Haltung.“5  Angesichts dieses Urteils stellen sich die Fragen: Markieren jüngere, die Politik Israels problematisierende Stellungnahmen einen spürbaren Positionswechsel? Und hat es jemals eine bestimmte, als ‚traditionell‘ zu titulierende Haltung der EKD gegenüber dem Staat Israel gegeben? Noch komplizierter wird die Frage, wenn man über die kirchenleitenden Organe hinausgeht und den deutschen Protestantismus im Allgemeinen betrachtet: Welche Tendenzen zeigen sich bei der hier zu erkennenden Pluralität und Stimmenvielfalt?

Die Existenz des Staates Israel und der damit verbundene territoriale Konflikt sind seit 1948 für viele Christen zu einem immer wichtigeren Thema geworden. Theologisch war die Frage von Bedeutung, ob aufgrund der biblischen Verheißungen dem jüdischen Volk ein Anspruch auf das Land zukommt. In ethischer Hinsicht dachte man darüber nach, welche Haltung gegenüber Israel und dem Nahen Osten wegen des von Christen geduldeten Genozids an den Juden angemessen sei. Und aus beiden Betrachtungsweisen zogen Christen unterschiedliche politische Konsequenzen.

Die vorliegende Arbeit verfolgt einen interdisziplinären Ansatz. Zum einen handelt es sich um eine zeitgeschichtliche Studie, die sich mit der Zeit von 1948 bis Anfang der 1970er Jahre beschäftigt. Hier geht es um dominierende Ereignisse sowie prägende Personen und Texte. Dieser Aspekt bestimmt primär den ersten Teil. Der zweite Teil stellt eine publizistikwissenschaftliche Untersuchung dar, die das gleiche Thema innerhalb von Printmedien analysiert. Hier stehen keine Individuen oder Institutionen mit elaborierten Verlautbarungen im Mittelpunkt, sondern inhaltliche Aussagen. Der zeitgeschichtliche und der publizistikwissenschaftliche Aspekt ergänzen sich und ergeben zusammen ein Bild der protestantischen Wahrnehmung des Staates Israel. Mit diesem interdisziplinären Ansatz folge ich ein Stück weit der in der Geschichtsschreibung immer wieder geforderten Ablösung der rein institutionen- und politikzentrierten Perspektive zugunsten einer Beschäftigung mit der „Breitenwirkung von Ideen, religiösen Überzeugungen und theologischen Prägungen“, auch wenn die unterste „Ebene der alltäglichen Orientierungen und des Milieuverhaltens“6  nicht greifbar und somit dieses Kriterium der Mentalitätsgeschichte nicht eingehalten wurde. Aber mein Ansatz spiegelt die Erkenntnis wieder, dass Kirchenleitungen mit ihren Verlautbarungen häufig auf eine Entwicklung reagierten, die zuvor bereits in der kirchlichen Öffentlichkeit unter Einschluss der Publizistik eingesetzt hatte.



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Gerhard Gronauer:

Der Staat Israel im westdeutschen Protestantismus.


Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948 bis 1972.


1. Auflage 2013
518 Seiten mit 1 Tab. gebunden
ISBN 978-3-525-55772-3
Vandenhoeck & Ruprecht



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Gerhard Gronauer untersucht die Wahrnehmung des Staates Israel im Protestantismus Westdeutschlands von 1948 bis 1972. Dabei verfolgt er ein zeitgeschichtliches und ein publizistikwissenschaftliches Interesse. Es werden Einzelpersonen, kirchliche Gruppierungen und Gremien der verfassten Kirche sowie ausgewählte evangelische Zeitschriften dargestellt, die danach fragten, was die Existenz des Staates Israel theologisch, moralisch und politisch bedeute: Haben Juden ein biblisch verbrieftes Recht auf das Heilige Land? Inwieweit ist angesichts der Schoah eine Solidarität zum Staat Israel geboten? Was folgt daraus für die Bewertung des Nahostkonflikts?



Teil IV Ausblick und Ergebnis

1 Ausblick
(…)

2 Ergebnis des historischen Teils

2.1 Erste Phase (1948–1957)
Die Deutschen waren nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie mit ihren eigenen existenziellen und wirtschaftlichen Problemen und mit der Bewältigung der 1949 vollzogenen Teilung des Landes beschäftigt. Deshalb nahmen in quantitativer Hinsicht relativ wenige Protestanten die Schaffung des Staates Israel im Mai 1948 zur Kenntnis (woraus keine Schlussfolgerungen in qualitativer Hinsicht zu treffen sind). Insgesamt kann gesagt werden: Das Schwanken zwischen Neuanfang und Traditionswahrung kennzeichnete auch das Verhältnis des Protestantismus zum Judentum und zum neuen Staat Israel. Es beschäftigten sich zum einen die Einrichtungen und Vereine mit den Vorgängen im Nahen Osten, welche die dortige Arabermission verantworteten bzw. die Palästinadeutschen repräsentierten, zum anderen die judenmissionarisch ausgerichteten Kreise. Daneben existierten bereits die Protagonisten einer liberaleren Form der christlich-jüdischen Begegnung, die zu Mentoren der jüngeren Generation arrivierten und damit als ‚progressiv‘ gelten konnten.

2.1.1 Die Palästinamission
Während alle nichtjüdischen Deutschen das zukünftige Gebiet des Staates Israel bereits vor dessen Gründung verlassen mussten und deren private Besitztümer genauso wie kirchlicher Grund und Boden beschlagnahmt worden waren, konnten die protestantischen Werke im jordanisch gewordenen Teil des Heiligen Landes ihre Arbeit wieder aufnehmen. Auf den neuen jüdischen Staat blickten die im Palästinawerk zusammengefassten Organisationen, die Jerusalemer Propstei und das Kirchliche Außenamt der EKD einerseits aus der Perspektive der materiell Geschädigten, andererseits aus der Sicht sozialer Hilfswerke, die sich der arabischen Flüchtlinge karitativ anzunehmen wussten. Auffallend ist, dass sich Vertreter der Palästinamission in den verbreiteten kirchlichen Zeitschriften kaum zu Wort meldeten. Die Haltung zum Staat Israel zeigte sich eher in Eigenpublikationen und in internen Schreiben. Charakteristisch war der Reisebericht von Bernhard Karnatz aus dem Jahr 1952: Durch seinen Vergleich Palästina-Deutschland und Jerusalem-Berlin erhielt Israel implizit den Charakter einer ‚Feindmacht‘ in Analogie zur Sowjetunion.7  Der Geist des materiell Geschädigten und der Flüchtlingssolidarität prägte auch den Lutherischen Weltbund (LWB), der das Palästinawerk treuhänderisch in seinen Verhandlungen mit der israelischen Regierung zwecks Entschädigungszahlungen für die kirchlichen Liegenschaften vertrat. Die Verhandlungsdokumente selbst waren sachlich gehalten; antijüdische Ausfälle gegen Israel waren ihnen nicht zu entnehmen, auch wenn andere Texte, z. B. der Kriegsbericht des LWB-Mitarbeiters Edwin Moll von 1948, von einem antisemitischen Unterton bestimmt waren.8  Die Schaffung des Staates Israel war auf alle Fälle ein finanzieller und organisatorischer Störfaktor in der Palästinamission.

2.1.2 Die Judenmission
Die Position, dass die Juden in erster Linie zu Christus zu finden hätten und dass sich an Christus ihr Heil entscheide, dominierte viele kirchliche Veröffentlichungen dieser Zeit. Den judenmissionarischen Kreisen ging es nach 1945 keineswegs nur um eine bloße Wiederherstellung der bisherigen Aktivitäten. Sie reorganisierten sich im Bewusstsein der nationalsozialistischen Verbrechen, auch wenn sie daraus noch andere Lehren zogen als spätere progressive ‚Israeltheologen‘. Die Proponenten der Judenmission bezogen ihre Legitimation gerade aus der nationalsozialistischen Unterbindung der Judenmission. Die Existenz eines jüdischen Staates in der Levante evozierte die Frage, wie man unter den neuen Umständen dem missionarischen Anliegen und insbesondere der Verbundenheit mit den dortigen Christen jüdischer Herkunft gerecht werden könne. 

Die israelische Staatsgründung wurde von Vertretern der Judenmission als ein äußerst ambivalentes Unterfangen wahrgenommen, das eine Deutung im Blick auf Christus verlangte. Der Staat Israel irritierte, weil er bestimmte politische Fragen an die Theologie stellte und dem klassischen eschatologischen Denken zu widersprechen schien, wonach den Juden unter der Voraussetzung ihrer Hinwendung zu Christus das himmlische Jerusalem und nicht das irdische Palästina geweissagt sei.9  Grundsätzlich sah man das gegenwärtige Judentum in einer Verbindung zum biblischen Gottesvolk stehen und wusste den Staat Israel auch als Zufluchtsstätte der Verfolgten zu würdigen. Während die einen die biblische Weissagung des Landes im Wirken Christi erfüllt sahen, spielten andere behutsam mit dem Begriff der ‚Verheißung‘, grenzten sich aber gleichermaßen von apokalyptischen wie nationalen Interpretationen ab. Man blickte sorgenvoll auf eine zionistische ‚Blut und Boden‘-Theologie und beschwor damit faktisch das Menetekel eines neuen Nationalsozialismus herauf, diesmal in jüdischer Gestalt. Wenn Deutsche, die gerade den Hitlerstaat hinter sich gelassen haben, derart mit Vergleichen zum Nationalsozialismus operieren, beurteilt man das heute vielfach als sekundären Antisemitismus aus Schuldabwehr.10 

Insbesondere sah sich der Evangelisch-Lutherische Zentralverein für Mission unter Israel (kurz Zentralverein) dazu aufgerufen, gegen pietistisch-endzeitliche Optionen vorzugehen. Diese manifestierten sich in dieser Zeitperiode in der Person des getauften Juden Abram Poljak, der ab 1951 vor Kreisen der Evangelischen Allianz das unmittelbar bevorstehende Millennium ausrief. Im Staat Israel sah Poljak die Keimzelle des Tausendjährigen Reiches.

2.1.3 Progressive Stimmen
Nach Mai 1948 gab es auch Bewertungen der israelischen Staatsgründung, die von den bisher geschilderten Haltungen abwichen und damit Positionen vorwegnahmen, die in größerem Ausmaß erst ab 1958 populär wurden. Als einer der wenigen, die später eine leitende Funktion in der EKD innehaben sollten, bezog Kurt Scharf bereits frühzeitig zur israelischen Staatsgründung Stellung. Im Sommer 1948 nannte er die soeben erfolgte „Wiedergeburt der Nation Gottes“ das „augenfälligste ‚Zeichen der Zeit‘“, das er nur ‚prophetisch-apokalyptisch‘ zu deuten wusste.11 

Neben Scharfs Vorstoß ist vor allem das Wirken des Heidelberger Kreisdekans Hermann Maas zu nennen, der sich selbst als ‚christlichen Zionisten‘ bezeichnet hatte. Maas wurde 1950 als erster Deutscher von der israelischen Regierung zu einem Besuch des Landes eingeladen. Der daraufhin entstandene Reisebericht und das nach dem nächsten Israelaufenthalt 1953 entstandene Buch wurden charakteristisch für einen Großteil der Israelliteratur.12  Wichtig zu wissen ist, dass es sich nicht um einen privaten Individualtourismus handelte, sondern um geführte Reisen durch israelische Regierungsbeauftragte. Sie gingen davon aus, dass Maas den Aufbau des israelischen Gemeinwesens zu Hause positiv darstellen und damit einen spezifischen Beitrag zur Entnazifizierung leisten werde. Der Israeli wurde in den Reiseberichten als der fleißige Arbeiter und Bauer geschildert, der Sümpfe trocken lege und die Wüste zum Leben erwecke sowie in den Kibbuzim die ideale Gesellschafts- und Wirtschaftsform entwickelt habe. Damit sollte bewusst den tradierten antisemitischen Klischees entgegengearbeitet werden. Bei Maas kam auch noch die heilsgeschichtliche Komponente hinzu. Sowohl in der israelischen Staatsgründung als auch in den boomenden Städten und den ertragreichen Feldern erkannte er die Erfüllung biblischer Verheißungen. In den Augen der Vertreter der Judenmission war Maas damit zu weit gegangen.

2.1.4 Das ‚Schilumim‘-Abkommen von 1952
Der Luxemburger Vertrag vom 10. September 1952, der die Wiedergutmachungsverhandlungen (Schilumim) beendete, war das herausragendste Ereignis im deutsch-israelischen Verhältnis seit 1948. Die westdeutschen Kritiker machten vor allem juristische und wirtschaftliche Einwände geltend. In diese Stimmungslage hinein forderten Kirchenmänner wie Hermann Maas und Heinrich Grüber sowie der Deutsche Evangelische Ausschuss für Dienst an Israel (DEADI) die staatliche Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts an den von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen. Zunächst dachte man nur an eine individuelle, nicht an eine kollektive Entschädigung. Sobald aber die israelischen Vorstellungen auf dem Tisch waren, setzten sich diese engagierten Protestanten auch für die Schilumim ein. Vertreter der Judenmission und die Kreise um Maas und Heinrich Grüber zogen hier an einem Strang.

In der Öffentlichkeit wurde allerdings mehr das Wirken der eher politisch und gerade nicht konfessionell agierenden Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit bekannt, in denen liberalere Protestanten aktiv waren. Zu ihnen gehörte neben Franz Böhm, dem Leiter der deutschen Delegation bei den Schilumim-Verhandlungen, der evangelische Hamburger Erich Lüth, der im Spätsommer 1951 viel beachtete Annoncen lancierte, in denen er unter dem Schlagwort ‚Frieden mit Israel‘ um eine deutsch-israelische Aussöhnung warb. Weniger die verfasste Kirche, sondern der Protestantismus im Allgemeinen trug zu einem öffentlichen Klima bei, welches das Abkommen von 1952 ermöglichte. Die offizielle EKD hielt sich in den Diskussionen um die ‚Schilumim‘ wie überhaupt bei allem, was den Staat Israel betraf, bedeckt. Otto von Harling, Oberkirchenrat in der Kirchenkanzlei der EKD, rechtfertigte dieses Verhalten damit, dass die Kirche auf „die seelische und wirtschaftliche Lage des Volkes, zu dem sie sprach“ Rücksicht zu nehmen hätte. Die Kirche verstand sich gerade nicht als progressiver Trendsetter, sondern wollte eine Seelsorgerin an der Bevölkerung sein. Der Suezkrieg von 1956 war dann auch der erste Nahostkrieg, der von kirchlicher Seite – in sehr bescheidenem Ausmaß – mit Friedensaufrufen und Bittgottesdiensten begleitet wurde. Eine besondere Solidarität zu Israel gab es dabei nicht.



BEGEGNUNG VON CHRISTEN UND JUDEN

BCJ.Bayern unterstützt den jüdisch-christlichen Dialog, der sich endgültig von dem christlichen Überlegenheitsgefühl und der missionarischen Grundhaltung dem Judentum gegenüber gelöst hat.


Unsere Ziele:

Im partnerschaftlichen Gespräch mit Jüdinnen und Juden hören wir auf die jüdische Glaubenstradition und wollen

* Kenntnisse über das Judentum vermitteln
* Judenfeindschaft und politischen Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft überwinden
* Projekte fördern, die der Versöhnung von Juden, Christen und Muslimen dienen.

BCJ.Bayern ist Ansprechpartner in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für Fragen des christlich-jüdischen Gesprächs.

Weitere Informationen auf unserer Homepage
BCJ



2.2 Zweite Phase (1958–1967)

2.2.1 Israelreisen als theologische ‚Erfahrung‘
Der soziologische Begriff der ‚Erlebnisgesellschaft‘ passt insofern in unsere Thematik, als der Staat Israel in dieser Zeit zunehmend aus der Perspektive der eigenen Anschauung wahrgenommen wurde. Israelis zu kennen wog mehr als Bücherwissen. Allein zwischen 1958 und 1961 reisten parallel zum allgemeinen Anstieg des westdeutschen Tourismus etliche kirchliche Multiplikatoren und Gruppen nach Israel: Heinrich Grüber, Adolf Freudenberg und Helmut Gollwitzer als Einzelpersonen, Friedrich-Wilhelm Marquardt und Rudolf Weckerling mit Studentengruppen. Deren Israelfahrten wiesen gegenüber dem Besuch der Landesbischöfe Hanns Lilje und Volkmar Herntrich eine weitaus größere Wirkungsgeschichte auf. Die Theologieprofessoren Rolf Rendtorff und Günther Harder, die beide an einem wissenschaftlichen Lehrkurs des Palästinainstituts teilnahmen, durften 1959 nur von der Jerusalemer Altstadt aus in ihr Traumland Israel blicken. Die Existenz des Staates Israel wurde – neben der Schoah – zum Ausgangspunkt einer Erfahrungstheologie, einer spezifischen ‚kontextuellen Theologie‘. Die Ausrichtung am lebendigen Israel war die positive Kehrseite der an einem negativen Geschichtsereignis orientierten ‚Theologie nach Auschwitz‘. Am deutlichsten hat das Friedrich-Wilhelm Marquardt in einem Interview ausgedrückt: „Der Anlass für mein ganzes theologisches Unternehmen seit der Dissertation ist eine Reise nach Israel gewesen“, die von 1959 nämlich, die „meine zweite Taufe“ wurde.13 

Die Schilderungen der Israelreisen um 1960 variierten im Ausmaß der Euphorie und der Kritik, wiesen aber im Großen und Ganzen inhaltliche Parallelen zu den Veröffentlichungen von Hermann Maas auf: Man war sich bewusst, dass man in Israel als Angehöriger des Tätervolks den Überlebenden des größten deutschen Verbrechens gegenübertrat. Die Aufbauleistung der israelischen Nation wurde von vielen Berichterstattern als ein gewaltiges Faszinosum, der Israeli mithin als idealer Mensch beschrieben. Wenn man bedenkt, dass Juden vor 1945 nur Destruktives zugetraut wurde, war die Begeisterung der Israelfahrer verständlich. Der neuen, problematischen Tendenz, dass die Sympathie gegenüber den Israelis nun von deren Leistung – und später von deren Friedensbereitschaft – abhängig gemacht werden könnte, waren sich die Reiseberichterstatter kaum bewusst. Die Beobachtungen im Land wurden von ihnen vielfach mit biblischen Verheißungen in Verbindung gebracht. Und das Gemeinschaftserlebnis in den Kibbuzim ließ ihnen den Sozialismus als die bessere Gesellschaftsform erscheinen. Für viele kirchliche Pilger in den jüdischen Teil des Heiligen Landes galten fortan eine politisch linke Haltung und Israelliebe als zwei Seiten einer Medaille.

Zu Organisationen, die vielen jungen Menschen Erfahrungen in Israel vermitteln sollten, wurden die 1958 ins Leben gerufene Aktion Sühnezeichen (ASZ) und der 1963 gegründete Nes Ammim-Verein. In freiwilligen Arbeitseinsätzen wollte ASZ jungen Deutschen die Möglichkeit geben, die Opfer des Zweiten Weltkriegs und folglich auch die Juden im Staat Israel um Verzeihung zu bitten. Während die erste ASZ-Freiwilligengruppe im Herbst 1961 nach Israel gelangte, konnten sich erst ab 1968 deutsche Bewohner in der nordisraelischen Siedlung Nes Ammim niederlassen.

Wegen theologischer Vorbehalte wurden ASZ und Nes Ammim von Lutheranern aus dem Umfeld der Judenmission argwöhnisch begutachtet. Trotz ihrer ambivalenten Haltung zum Staat Israel, gerieten auch judenmissionarische Kreise in den Bann ihrer eigenen Israel-Impressionen. Ungeachtet ihres kritischen Abwägens setzte sich auch bei ihnen Respekt gegenüber dem jüdischen Staat durch. Gleichwohl machten sie die Erlebnisse im Heiligen Land zu keinem Bestandteil einer Erfahrungstheologie.

2.2.2 Die ‚Delegationsreise‘ der EKD 1962
An der von Heinrich Grüber geleiteten Israelfahrt von November 1962 nahmen namhafte Vertreter der EKD teil. Für den Ratsvorsitzenden der EKD, Kurt Scharf, war es der erste Aufenthalt in Israel. In der Presse war von einer „Delegation“14  der EKD die Rede, was nach etwas Offiziellem klang, obwohl nicht einmal alle Mitglieder des Rates eingeladen worden waren. Offensichtlich wollten sich Grüber und Scharf in ihrem politisch-moralischen Anliegen nicht durch israelskeptische Lutheraner ausbremsen lassen. In Grübers Augen diente die Reise dem Zweck, bei den Kirchenmännern Verständnis für den israelischen Staat zu wecken und von der Wichtigkeit einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu überzeugen. Kurt Scharfs Ansprache in der Gedenkstätte Yad Vashem lag auf der Linie seiner bisherigen Deutung der israelischen Staatlichkeit, indem er die jetzige ‚Einzigartigkeit‘ des ‚Volkes Israel‘ – zwischen Judentum und der israelischen Staatsbevölkerung unterschied er nicht – geschichtstheologisch in das Eschatologische hinein verlängerte.

2.2.3 Zusammenarbeit zwischen Progressiven und Pietisten
Während solche Pietisten, die in den Ereignissen des Nahen Ostens untrügliche Zeichen der Endzeit sahen, in den 1950er Jahren schnell unter Sektenverdacht gerieten, zogen in den 1960er Jahren progressive und pietistische Israelfreunde zeitweilig an einem Strang. Nicht erst der Berliner Kirchentag von 1961 brachte die Existenz eines neuen jüdischen Staates einem größeren Publikum nahe. Auf dem Protestantentreffen in München 1959 berichteten studentische Teilnehmer der von Marquardt und Weckerling geleiteten Reise zusammen mit Gollwitzer von ihren jeweiligen Erfahrungen in Israel. Und die Darmstädter Marienschwesternschaft, die heute allgemein als konservativ-evangelikal gilt und vom offiziellen kirchlichen Leben größtenteils abgeschnitten ist, beeindruckte die Kirchentagsteilnehmer durch ihr ‚Israel-Ruferspiel‘. Zudem schilderte Gollwitzer, wie tief ihn das Israel-Engagement der Marienschwestern berührt habe. 

Zwei weitere Beispiele einer pietistisch-progressiven Zusammenarbeit: Als 1963 im Rheinland der deutsche Nes Ammim-Verein ins Leben gerufen wurde, der sich der Verbesserung des christlich-jüdischen Verhältnisses widmete, war unter den Gründungsmitgliedern auch ein Freikirchler: Waldemar Brenner, der Redakteur des Gärtners, der Zeitschrift der Freien Evangelischen Gemeinden. Zudem: Der Reformierte Johan Hendrik Grolle unterstützte sowohl die apokalyptisch-schwärmerischen Israelkonferenzen des Norwegers Per Faye-Hansen als auch die progressive Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (kurz Kirchentags-AG). Es waren letztlich die Auseinandersetzungen wegen der Judenmission sowie die Neubewertung des Nahostkonflikts nach 1967, die diese Zusammenarbeit von prozionistischen Evangelikalen und Linken wieder zunichte machte.

2.2.4 Innerprotestantische Auseinandersetzungen
Das Nes Ammim-Projekt, dessen deutscher Zweigverein 1963 ins Leben gerufen worden war, blieb innerkirchlich noch lange umstritten. Der Aufbau der christlichen Siedlung in Nordisrael wurde in theologischer Hinsicht von Heinz Kremers sekundiert. Der eschatologisch-messianische Kontext des aus Jesaja 11 entnommenen Namens Nes Ammim zeigte genauso wie das von Kremers verfasste Memorandum, dass dieser Arbeit in Israel eine dezidiert heilsgeschichtliche Theologie zugrunde gelegt wurde. Für Kremers hatte Gott 1948 die biblische Rückkehrverheißung zum zweiten Mal erfüllt. Diese erneute Heimführung der Juden bezeichnete er als ‚Zeichen der Treue Gottes‘, womit die bis dato umstrittene Formulierung der rheinischen Synodalerklärung von 1980 vorweggenommen wurde. Angesichts dieser Theologie befürchteten konfessionelle Lutheraner einen Rückfall in eine schwärmerisch-pietistische Irrlehre. Ob es dieser negativen Einschätzung zuzuschreiben war, dass es dem Nes Ammim-Verein nicht gelang, von Brot für die Welt unterstützt zu werden, ist nicht endgültig geklärt. Insgesamt mussten kirchliche Führungskräfte realisieren, dass die Übernahme moralischer Verantwortung finanzielle Verpflichtungen mit sich brachte: Unter immer mehr Bittstellern hatten die Leitungsgremien eine Auswahl zu treffen, wem sie Kapitalhilfen gewähren wollten.

Ein anderer Streit entstand um eine angebliche Äußerung des Ost-Jerusalemer Propstes Carl Malsch. Progressive Christen – und Juden – sahen in der Jerusalemer Propstei und in der deutschen Palästinamission ungute Kontinuitäten am Werk. Der West-Jerusalemer Journalist Schalom Ben-Chorin, jüdischer Gesprächspartner der Kirchentags-AG, berichtete am 21. September 1962 in der Zeitung Jedioth Chadashoth von israelfeindlichen Äußerungen des Propstes. Dieser Artikel sorgte in protestantischen Dialog-Kreisen für Aufsehen. Im Kirchlichen Außenamt und bei Bernhard Karnatz, dem Vorsitzenden des Jerusalemsvereins, gingen teils gemäßigte, teils heftige Beschwerdebriefe ein. Malsch verteidigte sich auf die Angriffe, dass er die inkriminierte Aussage so nie getroffen habe, konzedierte jedoch, eine proarabische politische Einstellung zu haben. Angesichts einseitig proisraelischer Artikel in deutschen Kirchenzeitungen sehe er es als seine Aufgabe an, gegenüber deutschen Touristen die arabische Position zu erläutern. Mit der Bitte an Malsch, er möge neutraler urteilen und müsse sich in seiner exponierten Stellung vorsichtiger ausdrücken, wurde die Affäre im Januar 1963 zu den Akten gelegt.

In der Öffentlichkeit bekannter wurden die Debatten um den Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 und um den deutsch-israelischen Botschafteraustausch, welcher 1965 Wirklichkeit wurde. Beim Eichmann-Prozess, der den Staat Israel als Ankläger ins Spiel brachte, war Propst Heinrich Grüber als einziger deutscher Zeuge beteiligt. Er verstand sich in Jerusalem als Botschafter des ‚anderen‘ Deutschlands, das sich um gute Beziehungen zu Israel bemühte und sich nicht der Verbrechen der Nazis schuldig gemacht hatte. Zu den kirchlichen Folgeerscheinungen des Prozesses gehörte auch die Gründung der Kirchentags-AG auf dem Berliner Kirchentag 1961, die unter dem Einfluss der Jerusalemer Ereignisse stand. Die christliche Vergangenheitsbewältigung implizierte hier die Forderung, „dem Aufbau und dem Frieden des Staates Israel und seiner arabischen Nachbarn“ zu dienen.15 

Dass die Bundesregierung aufgrund der ‚Hallstein-Doktrin‘ noch lange gezögert hatte, Israel anzuerkennen, wurde von progressiven Kreisen als Skandal empfunden. Protestantische Theologen gehörten zu einem politischen, eher der SPD nahestehenden Netzwerk, das seit ca. 1960 die Anerkennung Israels forderte. Nicht alle Personen und Initiativen, die sich hier engagierten, verfolgten als Primärziel eine Begegnung mit dem Judentum. Vielmehr waren deren Appelle zugunsten Israels Teil einer umfassenden Protestkampagne gegen die als ‚reaktionär‘ und antikommunistisch betrachtete Haltung der Bundesregierung. Ab Juli 1964 wurde diese Frage auch innerhalb des Rates der EKD diskutiert. Wilhelm Niesel, der sich in Übereinstimmung mit dem Ratsvorsitzenden Kurt Scharf wusste, setzte sich nachdrücklich dafür ein, dass der Rat die Bundesregierung zur Herstellung diplomatischer Beziehungen zum Staat Israel offiziell aufforderte. Gegenspieler war Hermann Kunst, der als Bevollmächtigter des Rates in Bonn die Position des Auswärtigen Amtes teilte und einen Vorstoß der EKD verhindern wollte. Kunst unterlag letztlich, weil Niesels Anliegen von einer Mehrheit der Ratsmitglieder unterstützt wurde. Das von Niesel verfasste Schreiben an die Bundesregierung wurde am 26. Oktober 1964 von Scharf unterzeichnet. Um den Jahreswechsel 1964/65 votierten mit Hannover und dem Rheinland auch westdeutsche Landessynoden für einen Botschafteraustausch. Nicht nur bei der Ostdenkschrift von 1965, auch im Blick auf Israel agierten die EKD und einige ihrer Gliedkirchen in einem Sinn, der als politisch progressiv galt. So hatte der westdeutsche Protestantismus den öffentlichen Druck erheblich mit verstärkt, durch den Bundeskanzler Erhard sich gezwungen sah, gegen den Willen des Außenministers die Anerkennung Israels in die Wege zu leiten.


2.3 Dritte Phase (seit 1967)

2.3.1 EKD und Gliedkirchen
Die sich im Frühjahr 1967 zuspitzenden Spannungen zwischen dem Staat Israel und Ägypten alarmierten bereits vor Ausbruch des Sechstagekriegs einzelne Freunde Israels, an prominenter Stelle kirchliche Kuratoriumsmitglieder der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Kurt Scharf war einer der wenigen Kirchenführer, die gegenüber ihrer Pfarrerschaft bereits im Mai von einer drohenden Gefährdung Israels sprachen. Die Nachricht vom Kriegsausbruch zwischen Israel und den arabischen Staaten führte weltweit wie in der westdeutschen Christenheit zu spontanen Friedensaufrufen und zu zahlreichen Fürbittgottesdiensten. Christliche Verbände, Gremien und kirchenleitende Personen sahen sich zu Stellungnahmen veranlasst. Nicht immer spielte hier die Sorge um den israelischen Staat eine Rolle. So genügte dem EKD-Ratsvorsitzenden, Landesbischof Hermann Dietzfelbinger, der Waffengang an sich als Anlass für seine Erklärungen vom 5. Juni, in denen er absolute Neutralität wahrte und keine der beiden Kriegsparteien präferierte. Er universalisierte den aktuellen Krieg, indem er allgemein vor Unversöhnlichkeit und übertriebenem Nationalismus warnte. Hier war der neue israelisch-arabische Krieg zunächst einmal nur eine politische Krise neben anderen. Im Auftrag des Rates der EKD wich der Landesbischof jedoch drei Tage später von seinem strikten Neutralitätskurs ab, indem er betonte, dass der den israelischen Juden angedrohte Völkermord die Deutschen nicht gleichgültig lassen könne. Nicht Dietzfelbingers unparteiische Friedenserklärung vom 5. Juni wurde zu einer offiziellen Verlautbarung der EKD, sondern seine Ansprache vom 8. Juni, in der er der Verbundenheit mit den bedrohten Israelis Ausdruck verlieh.

Bischof Kurt Scharf hingegen ergriff unter Zuhilfenahme heilsgeschichtlicher Kategorien während des Krieges und danach sehr deutlich Partei zugunsten Israels. Die höchsten Wellen schlug der in einem Gottesdienst am 16. Juni verlesene ‚Aufruf‘, für den der Staat Israel derart „in die Absichten Gottes mit hineingenommen“ sei, dass die politischen Feinde dieses Staatswesens zugleich als Gegner Gottes gälten.16  Die Kritiker des ‚Aufrufs‘ reagierten sowohl mit einer Mahnung zur Trennung von Religion und Politik als auch mit einem Insistieren auf der klassischen Substitutionslehre.

2.3.2 Weitere Diskussionen und Entwicklungen
In der auf den Sechstagekrieg folgenden Zeit wurde der jüngste Waffengang im Nahen Osten noch häufig thematisiert, z. B. auf dem Kirchentag in Hannover zwei Wochen danach. Der Jerusalemer Propst Malsch warb um Verständnis für den arabischen Standpunkt. Mit ihm meldete sich eine Stimme der ‚alten‘ Palästinamission zu Wort, die sich in den nächsten Jahren mehr und mehr mit den Voten der israelkritischen ‚neuen Linken‘ decken sollte. Es war zunächst einmal die außerkirchliche ‚neue Linke‘, die sich im Laufe des Jahres 1968 von der Israelsolidarität der frühen 1960er Jahre lossagte. Als es den Palästinensern gelang, sich als eine progressive Befreiungsbewegung zu profilieren, bekam der Staat Israel, der seit dem Junikrieg 1967 jordanisches, syrisches und ägyptisches Territorium okkupiert hielt, ein Imageproblem. Für viele junge Linke erschien deshalb eine Aufkündigung der Solidarität mit Israel folgerichtig zu sein. Mit einer kleinen Verzögerung gewann der neue Trend auch bei den Evangelischen Studentengemeinden (ESG) Anhänger, ohne aber die ganze kirchliche Linke antiisraelisch werden zu lassen.

Denn ‚Israeltheologen‘ wie Helmut Gollwitzer und Friedrich-Wilhelm Marquardt bemühten sich weiterhin um eine heilsgeschichtliche Deutung, die sich allerdings von endzeitlich-apokalyptischen und biblizistischen Varianten abhob. Gollwitzer relativierte sogar die ansonsten von ihm favorisierte Position des Pazifismus, indem er dem jüdischen Staat ein Recht auf Selbstverteidigung zugestand. Den Versuch der Prager Christlichen Friedenskonferenz (CFK), den Staat Israel auf eine Stufe mit ‚imperialistischen‘ Ländern und ‚rechten‘ Militärdiktaturen zu stellen, beantworteten Gollwitzer und andere Protagonisten des christlich-jüdischen Gesprächs mit deutlichem Protest. Den argumentativen Schwachpunkt der CFK-Erklärung vom 4. Juli 1967 entdeckten sie in dem Widerspruch, dass die CFK in allen ihren Stellungnahmen die Einheit von Glaube und Politik beanspruche, diese Einheit aber hinsichtlich des Staates Israel außer Kraft setze.

Kritisch gegenüber einer mangelnden Trennung von Glaube und Politik waren auf jeden Fall die Vertreter des Zentralvereins und des neuen Arbeitskreises ‚Kirche und Judentum‘ der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). In Kontinuität zu älteren judenmissionarischen Vorgaben stellten sie besondere ‚Israeltheologien‘ unter Häresieverdacht und warnten die israelische Gesellschaft vor nationaler Überheblichkeit. Die Angehörigen der ‚Israeltheologien‘ sowie deren Kritiker kamen seit 1968 in der EKD-Studienkommission ‚Kirche und Judentum‘ zusammen, deren Arbeit in die erste EKD-Studie „Christen und Juden“ von 1975 mündete. In diesem zurückhaltenden Kompromisspapier anerkannte die EKD das jüdisch-israelische Selbstverständnis und schrieb die christliche Verantwortung für das Wohlergehen der israelischen Entität dem Wissen um die Schoah zu.

2.3.3 Kirchliche Aktivitäten in Israel/Palästina
Verlauf und Ausgang des Junikrieges bedeutete auch hinsichtlich der Kirchen und kirchlichen Einrichtungen im plötzlich abgetrennten Westjordanien eine Unsicherheit. Man wusste nicht, ob das Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem dem Haschemitischen Königreich wieder zurückgegeben oder von Israel annektiert werden würde. Die neue Lage führte dazu, dass die Gemeindeglieder in Amman von der Leitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien, welcher Propst Hansgeorg Köhler vorstand, abgeschnitten waren. Der Palästina-Aufenthalt des EKD-Ratsvorsitzenden Dietzfelbinger im Februar 1968 war überschattet vom Vorwurf israelischer Regierungskreise, der Propst sei zu antiisraelisch eingestellt. Daran war auf alle Fälle richtig, dass sich Köhler der arabischen Seite gegenüber verpflichtet wusste. Die Diskussion um Köhlers wirklichen oder vermeintlichen Antiisraelismus erinnert an die Debatte um die Äußerungen Carl Malschs. Auch Köhler beachtete die Erkenntnisse der christlich-jüdischen Begegnungen weniger, als es für ihn möglich gewesen wäre. Innerhalb der deutschen Gemeinde in Jerusalem wurde der Propst zu einem Gegenspieler der tendenziell proisraelischen Mitarbeiter und Freunde von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste.



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3 Ergebnis des publizistikwissenschaftlichen Teils
(…)

4 Schluss

In dieser Studie wurde die Wahrnehmung des Staates Israel im westdeutschen Protestantismus von 1948 bis 1972 unter Einschluss der kirchlichen Publizistik nachgezeichnet. Der historische und der publizistikwissenschaftliche Teil bestätigen sich gegenseitig. Es wurde deutlich, dass sich der Protestantismus von Anfang an mit dem Staat Israel auseinandersetzte, wobei die Partizipierung der westdeutschen Christen am Nahostgeschehen im Laufe der Jahre stetig anstieg. Verschiedene protestantische Staat-Israel-Vorstellungen wurden nicht primär auf der Ebene der Kirchenleitungen ausgebildet, sondern auf einer Ebene darunter entwickelt: Theologen und Publizisten, Initiativgruppen und Einzelpersonen brachten in Büchern, Verlautbarungen und Zeitschriftenartikeln die Themen ein, die letztlich auch von Mitgliedern der Kirchenleitungen Besitz ergriffen bzw. die Kirchenleitungen zum Handeln zwangen. Auch im Blick auf die Gesamtgesellschaft trug der Protestantismus zu einem Klima bei, in dem sich die Bundesregierung gegenüber Israel öffnen konnte. Man denke etwa an das ‚Schilumim‘-Abkommen oder den Botschafteraustausch.

Es dauerte allerdings bis in die 1960er Jahre, dass die offizielle EKD auf die Bühne trat und sich beispielsweise zugunsten der deutsch-israelischen Anerkennung aussprach. Hintergrund des zögerlichen Eintretens der verfassten Kirche war das anfängliche Bemühen, einer Politisierung der Kirche zu wehren. Weder der Rat der EKD noch die von ihm einberufenen Kommissionen waren ein monolithischer Block; ihre Mitglieder wurden von z. T. gegensätzlichen Interessen bestimmt, was sich exemplarisch an den Unterschieden festmachen lässt, wie die Bischöfe Hermann Dietzfelbinger und Kurt Scharf auf den Sechstagekrieg reagierten. Gegenüber den pointierten Voten von Einzelpersonen blieben die Gremien der EKD deshalb Kompromisspositionen verhaftet.

Das Verhältnis zwischen Theologie und Politik war auch einer der Hauptunterschiede der Staat-Israel-Rezeption in den 1950er und späten 1960er Jahren. Bestimmten einst theologische Prämissen das Urteil über den jüdischen Staat, so waren später eher innerweltliche Kategorien ausschlaggebend. Die Überschriften der drei Zeitspannen verdeutlichen dies: Während bis Ende der 1950er Jahre eine judenmissionarisch orientierte Heilsgeschichte ‚weltliche‘ Themen dominierte („Der Staat Israel als Störfaktor der Mission“), schoben sich Ende der 1960er Jahre politische Deutungsmuster, die Frage nach Recht und Unrecht, in den Vordergrund („Der Staat Israel als Politikum“): Die politische Pro-Israel-Theologie wurde vom propalästinensischen Engagement deutlich in Frage gestellt. 

Zwischen Phase I und III liegt der Zeitabschnitt, in dem die Begegnung mit dem Staat Israel den christlich-jüdischen Austausch förderte, was wiederum die Ausbildung heilsgeschichtlicher Betrachtungen unterstützte („Der Staat Israel als ‚Motor‘ der christlich-jüdischen Annäherung“). Besonders in Phase II waren viele bereit, aus der christlichen Neubesinnung auf das Judentum politische Konsequenzen zu ziehen und den Staat Israel weitestgehend zu unterstützen. Das bis heute nicht ausgeräumte Dilemma daran war, dass man damit in Konflikt mit arabisch-palästinensischen und folglich mit ökumenischen Interessen geriet, insbesondere nach 1967.

Die eingangs zitierte These einer ‚traditionell israelfreundlichen Haltung‘17  der Evangelischen Kirche, die erst in jüngster Zeit israelkritisch werde, stimmt so nicht. Der historische wie der publizistikwissenschaftliche Teil der Arbeit kommen zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis zum Staat Israel durchgehend ambivalent war, dass Protagonisten einer proisraelischen und einer proarabischen Einstellung ständig um Einfluss kämpften. Als feste Tradition bildeten sich lediglich ein prinzipielles Ja zum jüdischen Selbstverständnis und das Bekenntnis zum Existenzrecht des jüdischen Staates heraus. Letzteres war aus völkerrechtlicher Hinsicht zwar obsolet, hatte aber seinen Hintergrund darin, dass dieses Existenzrecht durchaus theologisch bestritten werden konnte.

Der protestantische Diskurs um den Staat Israel lässt letztlich den Wert einer Diskussionskultur deutlich werden. Dass in dem dauerhaften Ringen um das rechte Verständnis profilierte Einzelpositionen abgeschliffen wurden und Kompromisshaltungen vielfach eine größere Durchsetzungskraft aufwiesen, muss kein Nachteil sein. Die Chance des deutschen Protestantismus liegt darin, dass die unvermeidliche Pluralität, die zwar in Irrwege führen kann, auch die Möglichkeit in sich birgt, genau solche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Auch im Blick auf die Staat-Israel-Rezeption gilt, dass diejenigen, die aus proisraelischer oder proarabischer Hinsicht eindimensionale geschichtliche Entwicklungslinien gezogen haben – sei es als Verfalls- (früher gut, heute schlecht) oder als Erfolgsgeschichte (früher schlecht, heute gut) –, irgendwann von der Faktizität eines Diskurses überrascht werden, in dem sich das Maßvolle und Bescheidene gegenüber allen Radikalpositionen als stärker erweist.



ANMERKUNGEN



1 Grass veröffentlichte das Gedicht „Was gesagt werden muss“, das eigentlich nur ein sprachlich aufbereiteter politischer Kommentar ist, in der Süddeutschen Zeitung und machte sich v. a. durch den Satz angreifbar: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ (GRASS, Was gesagt werden muss). – Vgl. die polemische Antwort von BRODER, Henryk M.: Ein Lob auf Grass. Der Literaturnobelpreisträger hat die Antisemitismus-Debatte auf den neuesten Stand gebracht, in: Die Welt, 12.04.2012, S. 8.
2 VOLLMER, Jochen: Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker. Der Israel-Palästina Konflikt und die Befreiung der Theologie, in: Deutsches Pfarrerblatt 111 (8/2011), 404 u. 406.
3 HARTUNG, Christian: Geschöntes Narrativ der Palästinenser unkritisch übernommen, in: Deutsches Pfarrerblatt 111 (9/2011), S. 491.
4 NAUMANN, Michael: Der deusche Tonfall. Vom Opportunismus der deutschen Israel-Kritik, in: Die Zeit (16/11.04.2002), S.1; Naumann kritisierte mit seiner Aussage Rolf Koppe als Auslandsbischof der EKD.
5 RASCHE, Uta: Ein neuer Ton und deutlichere Worte. Die evangelische Kirche äußert Kritik an Israel, in: FAZ Nr. 74 (28.03.2002), S. 4; Bezug auf Aussagen von EKD-Ratsvorsitzenden M. Kock und Bischof W. Huber.
6 KUHLEMANN, Frank-Michael: Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860 bis 1914, Göttingen 2002, S. 17.
7 So KARNATZ, Missionarisch-diakonische Arbeit im Heiligen Lande. Ein Reisebericht für die Freunde des Jerusalemsvereins von Juni 1952 (EZA, 6/1579).
8 So Bericht Molls vom 19. 8. 1948 (EZA, 2/351 und 6/1610).
9 Vgl. HARTENSTEIN, Israel, 66.
10 S. a. Teil I, 3.2.
11 SCHARF, Kurt: Israel und Palästina – heute. Zu den Ereignissen im Nahen Osten, in : Zeichen der Zeit 2 (1948), S. 278.
12 So MAAS, Hermann: Skizzen von einer Fahrt nach Israel, Karlsruhe 1950; und DERS., … und will Rachels Kinder wieder bringen in das Land, Heilbronn 1955.
13 MARQUARDT in einem Interview in Amsterdam vom 25. 9. 1996. Zit. und übersetzt bei: PANGRITZ, Andreas: "Wendung nach Jerusalem". Zu Friedrich-Wilhelm Marquardts Arbeit an der Dogmatik, in: Evangelische Theologie 65 (2005), S. 8.
14 O. VF., Reise, 700.
15 RENDTORFF/HENRIX, Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, Gütersloh 1986, E.III.16, 553f.
16 EKBB (West), Aufruf.
17 S. a. Teil I, 1.



Der Autor

GERHARD GRONAUER

Dr. theol., ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und lebt in Dinkelsbühl (Mittelfranken).

Er ist Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der CVJM-Hochschule und am CVJM-Kolleg in Kassel.

Er gehört der Theologischen Arbeitsgemeinschaft von „Begegnung von Christen und Juden in Bayern“ (www.bcj.de) an und ist Dekanatsbeauftragter für Ökumene.



Kontakt zum Autor:
ggronauer@web.de

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