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ONLINE-EXTRA Nr. 368

September 2025

Die Tragödien, die sich in vielerlei Hinsicht derzeit in Israel, dem Gazastreifen und im gesamten Nahen Osten abspielen, bergen viele und komplexe Aspekte, die bis zu diesem Augenblick für die Menschen vor Ort zu unendlich viel Leid und Schmerz führen. All diese Aspekte werden nahezu weltweit und natürlich auch und gerade bei uns in Deutschland heftig diskutiert. Dabei ist unbestritten, dass diese Diskussionen seit dem Massaker der Hamas am 9. Oktober 2023 eine Eskalation auf allen Ebenen, insbesondere was Ausmaß und Gewalttätigkeit des Antisemitismus betrifft, erfahren haben, wie wir sie vor wenigen Jahren noch für unmöglich hielten. 

Vor allem zwei Aspekte werden in den beiden ONLINE-EXTRA Ausgaben, deren erste heute und deren zweite am 7. Oktober erscheinen wird, thematisiert. Im Hintergrund des heute erscheinenden ONLINE-EXTRA Nr. 368 steht die besorgniserregende Beobachtung, dass die immer heftiger geführten Kontroversen um Israel, Gaza und die Rolle Deutschlands/Europas nicht selten zu einer militanten Sprachlosigkeit zwischen den beteiligten Lagern geführt hat. Konträre Positionen werden immer weniger miteinander diskutiert, sondern gegenseitig dämonisiert. Die Trennlinien und Spaltungen zwischen den diversen Lagern scheinen unüberwindbar, ein in der Sache hartes, dem rationalen Argument verpflichtetes (Streit-)Gespräch miteinander ummer unmöglicher. 

Vor diesem Hintergrund ist dieser Tage ein Band erschienen, der dieser Tendenz einen vorbildhaften Kontrapunkt entgegenstellen will. Es ist ein Briefwechsel zweier Freunde, die sich in der Sache nichts schenken und gleichwohl im Ton und in der Argumentation dem freundschaftlichen als auch rationalen Diskurs verpflichtet zu bleiben versuchen. Hamed Abdel Samad, Politikwissenschaftler und Islamkenner, dessen Kritik am Islamismus ihm eine lebensbedrohliche Fatwa einbrachte, und Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung", beide seit Jahren in Freundschaft miteinander verbunden haben sich Briefe zur Lage im Nahen Osten geschrieben und tauschen sich direkt und kontrovers zu vielen Fragen aus: Betreibt Israel in Gaza einen Genozid? Unterstützen die Palästinenser den Terror? Auf welcher Seite steht Deutschland? Und: Wie kann die Zukunft der Region aussehen? Nachzulesen ist ihr Briefwechsel nun in dem Buch "Was darf Israel? Ein Streit", der bei dtv vor kurzem erschienen ist. 

Nachfolgend präsentiert COMPASS mit freundlcher Genehmung des Verlags einen (gekürzten) Auszug aus diesem Briefwechsel, der einen ersten Eindruck dieses mittlerweile von vielen Seiten hoch gelobten Briefwechsels vermittelt. Bitte beachten Sie auch die näheren Angaben zum Buch in der Anzeige weiter unten.


© 2025 Copyright beim Verlag
online für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 368


Was darf Israel? Ein Streit

HAMED ABDEL-SAMAD und PHILIPP PEYMAN ENGEL


Lieber Hamed,

ich bin schockiert. Ich habe deinen Post auf X gelesen, in dem du Israel des Genozids, des Völkermords in Gaza bezichtigst. Auf Facebook sprichst du von angeblichen monatelangen systematischen Kriegsverbrechen in Gaza. Du schreibst, dass Israel den Frieden verhindere, indem es den ganzen Gaza-Streifen in Schutt und Asche lege und den Menschen dort die Lebensgrundlage entziehe. Du schreibst: „Wer die Eroberungsphantasien der Islamisten kritisiert, muss auch die alttestamentarischen Eroberungsphantasien von Netanjahu und seiner rechtsradikalen Regierung kritisieren.“

Ich bin entsetzt. Ich kann nicht glauben, dass der Eintrag wirklich von dir stammt. Wir kennen uns schon sehr lange, Hamed. Du weißt, dass ich dich für dein Wirken und deinen Mut bewundere. Es gibt nicht viele Menschen, die einen höheren Preis für die Freiheit des Wortes gezahlt haben als du. 

Seit Jahren wirst du rund um die Uhr von mehreren Leibwächtern geschützt. Dein „Vergehen“: Du sprichst Klartext über Islamisten. Du legst dich mit den Mullahs in Teheran an; du verteidigst unsere gemeinsamen humanistisch-universellen Werte wie nur wenige in diesem Land – koste es dich, was es wolle.

Genozid, Völkermord, systematische Kriegsverbrechen: Ich möchte ganz ehrlich sein – deine Vorwürfe erinnern mich an die elenden antisemitischen Ritualmord- und Brunnenvergifterlegenden, die seit Jahrhunderten in immer wieder abgeänderter Form gegen Juden erhoben werden. Völkermord und Genozid: Es sind Vokabeln aus dem Lexikon der klassischen Antisemiten, bloß ein wenig angepasst an den „antikolonialen“ Zeitgeist.

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen. Israel würde vorsätzlich Babys erschießen, heißt es, alle Palästinenser in Gaza auslöschen wollen, den gesamten Gaza-Streifen aushungern: Die Hamas-Propaganda wird begierig aufgenommen und weiterverbreitet. Ganz gleich, wie kontrafaktisch sie ist. Je abartiger die Schlagzeile, desto begieriger wird sie geglaubt.

Ich frage dich: Hat Israel nicht wie jeder andere Staat auf der Welt das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu wehren? Sollen die Israelis sich einfach umbringen lassen? Hat Israel nicht wie jeder andere Staat sogar die Pflicht, seine zahlreichen nach Gaza deportierten Staatsbürger zu befreien? Würde Deutschland es akzeptieren, über Jahrzehnte von seinen Nachbarn mit Zehntausenden Raketen attackiert zu werden?

Hamed, es war das schlimmste Pogrom an Juden nach dem Holocaust! Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung wären am 7. Oktober 12.000 Bundesbürger ermordet worden. Würde Deutschland nicht darauf reagieren?

Nach dem Scheitern der diplomatischen Gespräche – die Hamas weigert sich bis heute, die Waffen niederzulegen und die Geiseln freizulassen – sind, wie leider schon oft zuvor, Angriffe auf die Hamas der einzige Weg, die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Um die übrigen Geiseln zu befreien, muss Israel den militärischen Druck auf die Hamas erhöhen.

Das zweite Ziel dieses Krieges ist die Vernichtung der Hamas. Es sollte keiner großen Begründung bedürfen, dass brutal mordende Terroristen mit aller Härte bekämpft werden müssen. Es gehört zum erklärten Ziel der Hamas, Israel auszulöschen. Und mit Menschen, die einen umbringen wollen, kann es keine Kompromisse, keinen Frieden, keine Zukunft geben.

Es wird Zeit, dass die Welt aufwacht und Israels Situation nach dem 7. Oktober begreift. Es darf keine Äquidistanz zwischen einer Mörderbande auf der einen Seite und einem demokratischen Staat auf der anderen Seite geben. Hoffentlich verzeihst du mir meine radikale Ehrlichkeit, Hamed. Ich hoffe, wir können – hart in der Sache und trotz aller Unterschiede – miteinander diskutieren. Es ist notwendiger denn je.

Viele Grüße, Philipp




Hamed Abdel-Samad 
und Philipp Peyman Engel

Was darf Israel?
Ein Streit


dtv Verlagsgesellschaft
München 2025
160 S.
Euro 16,- 


informieren und/oder bestellen

PRESSESTIMMEN

Ein Glücksfall. Denn wollte man aus der aktuellen Fülle an Büchern und Streitschriften über den Nahen Osten eines herausgreifen, das beide Positionen aufs Schärfste umrissen darlegt, mit allen Widersprüchen und blinden Flecken und mit einigen winzigen Überschneidungen – es wäre gut, wenn es dieses wäre.
(Süddeutsche Zeitung)

Ein Dokument der enormen Spannung. (...) Wer das Buch gelesen hat, versteht am Ende beide Seiten besser und wünscht sich mehr Räume, in denen so gestritten werden darf.
(zeit.de)



Lieber Philipp,

dass du über meine Worte empört bist, freut mich. Ja, genau das sollst du sein. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der sanfte Formulierungen ausreichen. Die Katastrophe hat längst alle Grenzen der Vorstellungskraft gesprengt. Und während die Zahl der Toten immer größer wird, während Kinder verhungern, fließen deutsche Waffen weiter nach Israel, als wären es Hilfspakete.

Danke, dass du mich daran erinnerst, dass ich immer Klartext gesprochen habe, über Islamisten und über die Mullahs. Ich habe meine Sicherheit aufs Spiel gesetzt, um die Werte zu verteidigen, die wir angeblich teilen: Freiheit und Menschenwürde. Genau aus diesem moralischen Impuls kritisiere ich Israel heute. Genau aus diesem Grund sage ich: Was Israel in Gaza tut, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wer dazu schweigt, verrät die Werte, die er vorgibt zu verteidigen.

Ich habe nicht die Seiten gewechselt, Philipp. Ich bleibe bei den Werten, nicht bei den Flaggen. Ich habe mich längst von jeder ethnischen, religiösen oder nationalen Identität befreit. Deshalb kann ich jeden kritisieren, der diese universellen Menschenrechte missachtet, unabhängig davon, woher er kommt. Wahrheit kennt keine Stammbäume. Prinzipien sind blind für Identität, oder sollten es zumindest sein.

Du hingegen – verzeih mir die Schärfe – scheinst immer noch in den unsichtbaren Fesseln deiner jüdischen Identität gefangen zu sein. Diese tribale Bindung färbt dein Bewusstsein, lenkt deine Prinzipien, lässt dich Recht und Unrecht verwechseln. Seit fast einem Jahrhundert kämpfen Juden und Palästinenser nicht nur um Land. Sie kämpfen um eine Erzählung, um Mythen, um eine unbewegliche Identität, eine Identität, die sich in der Rolle des ewigen Opfers eingeschlossen hat und nicht mehr herausfindet.

Was beiden entgeht: Im Laufe der Jahre sind sie sich immer ähnlicher geworden. Mit heiligem Eifer bekämpfen sie beim anderen genau das, was sie in den eigenen Reihen nicht nur dulden, sondern aktiv fördern: Ausgrenzung, religiösen Fanatismus und hemmungslose Gewalt als politisches Werkzeug.

Glaubst du wirklich, Israel sei noch Opfer? Ein Staat, der die Westbank seit fast sechs Jahrzehnten besetzt hält, Palästinenser enteignet und vertrieben hat, in Gaza eine biblische Verwüstung anrichtet, die bisher über 50.000 Tote, überwiegend Frauen und Kinder, gefordert hat, unterstützt von der größten Militärmacht der Welt? Ein Staat, der über das modernste Waffenarsenal im Nahen Osten verfügt? Nein, Philipp, Opfer sind dort jene, die unter Trümmern begraben werden, nicht jene, die sie erschaffen.

Du schreibst: „Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung wären am 7. Oktober 12.000 Bundesbürger ermordet worden. Würde Deutschland darauf nicht reagieren?“ Das ist eine gute Frage.

Aber drehen wir den Spieß um: Israel hat in Gaza über 50.000 Menschen getötet und über 110.000 verletzt, verstümmelt. Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung wären also über sechs Millionen Bundesbürger getötet oder verletzt worden. Man kann die Frage auch anders stellen: Wären in diesem Krieg 50.000 Juden in Israel getötet worden, hätte man dann nicht von Völkermord und zweitem Holocaust gesprochen?

Ja, der 7. Oktober war ein barbarisches Massaker. Ich habe es verurteilt, auf Deutsch, auf Arabisch, auf jeder Bühne, die mir zur Verfügung stand. Aber Unrecht wird nicht durch neues Unrecht geheilt. Brandstifter wie Netanjahu und sein rechtsradikales Kabinett sind keine Feuerwehrleute, auch wenn sie noch so laut „Selbstverteidigung“ schreien. Niemand hat Israel das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen, aber was hat die Zerstörung von 90 Prozent der Wohnhäuser in Gaza mit Selbstverteidigung zu tun? Seit wann gilt das Aushungern von Zivilisten als Akt der Selbstverteidigung?

Israel ignoriert heute, was jüdische Identität einst auszeichnete: Mitgefühl, Verantwortung und Gerechtigkeit. Vergib mir, wenn ich ins Pathos verfalle, aber ich glaube: Israel wird immer mehr zu einer Last für die jüdische Seele. Je mehr Israel auf Nationalismus, Zionismus und Gewalt setzt, desto mehr entfernt es sich vom jüdischen Auftrag Tikkun Olam: die Welt zu heilen.

Du bist entsetzt, weil ich das Wort „Genozid“ benutzt habe? Ich sage dir: Ich bin entsetzt darüber, dass dich ein einziges Wort mehr erschüttert als der Tod von 20.000 Kindern. Entsetzter darüber, dass ein Wort dich auf die Barrikaden treibt – die systematische Vernichtung einer ganzen Generation dir aber kein Wort, keine Tat wert ist.

Gerade von dir, lieber Philipp, hätte ich keinen empörten Brief an mich erwartet, sondern einen offenen Brief an Netanjahu. Einen Brief, in dem du ihm sagst, dass er weder in deinem Namen noch im Namen aller Juden sprechen darf. Ich hätte erwartet, dass du einen Brief an unsere ehemalige Außenministerin schreibst, in dem du forderst, dass die deutsche Erinnerungskultur nicht auf einem Auge blind sein darf – dass sie auch die Gräueltaten in Gaza sehen und benennen muss und dass die Lehre aus dem Holocaust Deutschland verbietet, das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, zu akzeptieren.

Nicht ich habe die Seiten gewechselt, Philipp. Sondern die, die Freiheit nur noch für sich selbst fordern.

Schöne Grüße, Hamed


 


Der Autor

Hamed ABDEL-SAMAD

Jhg. 1972, studierte Sprachen und Politikwissenschaft. Er arbeitete für die UNESCO sowie am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur in München. Seit März 2025 Gastprofessor an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Keio in Tokio. Seine Bücher sind allesamt Bestseller und sorgen für Aufsehen. Auf seinem millionenfach frequentierten YouTube-Kanal interpretiert Abdel-Samad den Koran in arabischer Sprache historisch und politisch. Wegen dieser Tabubrüche wurde 2013 eine Fatwa gegen ihn verhängt; seither lebt er unter permanentem Polizeischutz. Bei dtv sind von ihm lieferbar: ›Aus Liebe zu Deutschland‹, ›Schlacht der Identitäten‹, ›Islam. Eine kritische Geschichte‹ und ›Der Preis der Freiheit‹.


Der Autor

Philipp Peyman ENGEL

Jhg. 1983 in Herdecke, ist als Sohn einer persischen Jüdin und eines deutschen Vaters im Ruhrgebiet aufgewachsen. Der Journalist ist Chefredakteur der Wochenzeitung ›Jüdische Allgemeine‹ und Autor des Buches ›Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch‹ (dtv). 2023 wählte ihn das Medium Magazin zum Chefredakteur des Jahres. 2024 erhielt Engel den renommierten Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt. 
Essays von Engel zum jüdischen Leben, Antisemitismus und Israel erscheinen regelmäßig im ›Spiegel‹, in der ›ZEIT‹ und in anderen Medien.
   




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