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Koordinierungsrat





ONLINE-EXTRA Nr. 94

April 2009

Am heutigen 21. April 2009 begeht Israel und mit ihm viele Juden in aller Welt den Yom haShoah, den Holocaust-Gedenktag. Nach jüdischer Tradition beginnen die Feierlichkeiten mit Sonnenuntergang am 27. Nisan des jüdischen Kalenders und enden am Abend des nächsten Tages. Ursprünglich wurde als Datum der 15. Nisan vorgeschlagen, das Datum des Aufstandes im Warschauer Ghetto (19. April 1943), wurde aber schließlich verworfen, da dies nur einen Tag nach dem Pessach-Fest wäre. Das jetzige Datum liegt genau acht Tage vor dem Yom haAtzma'ut, dem israelischen Unabhängigkeitstag. Der Yom haShoah wurde unter David Ben Gurion und Jitzchak Ben Tzwi 1959 eingeführt.

"Shoah" - Der hebräische Terminus für die Vernichtung der Juden in Europa lenkt in der Fremdartigkeit seiner Begrifflichkeit einmal mehr den Fokus auf die Problematik, diesem unfassbaren Menschheitsverbrechen einen Namen zu geben. Weit mehr noch und viel länger schon als "Shoah" wird jedoch der Begriff  "Holocaust" verwendet, um das Unbegreifliche dieses Verbrechens zu benennen. Der nachfolgende Beitrag geht ausführlich auf die Genese des Begriffs "Holocaust" ein, erläutert seine Problematik und geht der Frage nach, inwieweit "Shoah" die bessere, angebrachtere Wortwahl wäre.

Eingebunden sind diese Überlegungen in eine grundsätzliche Diskussion der Problematik einer angemessenen sprachlichen Repräsentation jener Ereignisse und Erfahrungen, die just mit diesen beiden Begriffen gemeint sind. Wie in Worte fassen, was nicht fassbar zu sein scheint, wie zur Sprache bringen, was jenseits allen Verstehens zu liegen scheint, welche Begriffe benutzen für das, was nicht begreifbar erscheint? Wie umgehen mit dem, "wohin die Sprache nicht reicht ..."?


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Beitrags an dieser Stelle!

© 2009 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 94


"Wohin die Sprache nicht reicht ..."

Holocaust und Shoa: Sprache und Sprachbilder zwischen Bilderverbot und Schweigegebot


CHRISTOPH MÜNZ


I EINFÜHRUNG


Das Problem einer angemessenen Repräsentation jener Ereignisse und Erfahrungen, die u.a. mit den Begriffen "Holocaust" und/oder "Shoah" zu benennen versucht wird, stellt sich in allen Bereichen menschlicher Ausdrucksfähigkeit und Kreativität. Unbehagen mit und Kritik an den Produkten dieser Ausdrucksfähigkeit – seien sie literarischer oder dokumentarischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher Natur – stehen ausgesprochen oder unausgesprochen fast immer in engem Zusammenhang mit dem Postulat der "Unverstehbarkeit" des Holocaust und rekurrieren – hier explizit, dort implizit – auf die Wirkmächtigkeit eines "Bilderverbots", das, seiner religiösen Ursprünge entwachsen, im vorliegenden Kontext seinen säkularen Kulminationspunkt gefunden zu haben scheint.

Selbstverständlich vermag sich auch Sprache und sprachliche Repräsentation diesem Konflikt nicht zu entziehen, zumal doch die Sprache vor allem dort, wo sie semantisch aufgeladen ist, als in Worte geronnene Bilder, "Sprachbilder", begriffen werden kann. Was in Anbetracht des Scheiterns einer adäquaten Darstellung der Erfahrung des Holocaust im künstlerischen Bereich droht, das "Bilderverbot", mündet im Rahmen der Unzulänglichkeiten von Sprache und "Sprachbildern" nicht selten in einem "Schweigegebot". Denn: Wie in Worte fassen, was nicht fassbar zu sein scheint, wie zur Sprache bringen, was jenseits allen Verstehens zu liegen scheint, welche Begriffe benutzen für das, was nicht begreifbar erscheint?

Im Folgenden soll diese Problematik in zweierlei Hinsicht reflektiert werden: zum Einen mit Blick auf die Sprache selbst und zum anderen beispielhaft anhand eines der wohl prominentesten "Sprachbilder" in diesem Kontext, dem Begriff "Holocaust".1


II UNVERSTEHBARKEIT UND SPRACHE



»Nur nicht leicht ist es, eigentlich davon zu reden, – das will sagen: eigentlich kann man überhaupt und ganz und gar nicht davon reden, weil sich das Eigentliche mit den Worten nicht deckt; man mag viel Worte brauchen und machen, aber allesamt sind sie nur stellvertretend, stehen für Namen, die es nicht gibt, können nicht den Anspruch erheben, das zu bezeichnen, was nimmermehr zu bezeichnen und in Worten zu denunzieren ist. Das ist die geheime Lust und Sicherheit der Höllen, daß sie nicht denunzierbar, daß sie vor der Sprache geborgen ist, daß sie eben nur ist, aber nicht in die Zeitung kommen, nicht publik werden, durch kein Wort zur kritisierenden Kenntnis gebracht werden kann, wofür eben die Wörter ›unterirdisch‹, ›Keller‹, ›dicke Mauern‹, ›Lautlosigkeit‹, ›Vergessenheit‹, ›Rettungslosigkeit‹, die schwachen Symbole sind... Nein, es ist schlecht davon zu reden, es liegt abseits und außerhalb der Sprache, diese hat nichts damit zu tun, hat kein Verhältnis dazu, weshalb sie auch nicht recht weiß, welche Zeitform sie darauf anwenden soll und sich aus Not mit dem Futurum behilft, wie es ja heißt: ›Da wird sein Heulen und Zähneklappern‹«.
(Thomas Mann, Doktor Faustus, geschrieben 1944/45. Es handelt sich um die Antwort des Teufels auf die Frage Adrian Leverkühns nach der Beschaffenheit der Hölle.)


Die ordnungsstiftende Macht der Sprache, dass wir unsere Gedanken, Gefühle, unsere äußeren und inneren Erlebnisse und Erfahrungen "zu Sprache" bringen können, den Dingen einen Namen zu geben imstande sind, dieses qualitativ wesentliche Bestimmungsmerkmal der Gattung Mensch setzt uns erst in die Lage, uns selbst und die Welt auf Orientierung, Sinn und Verstehen hin zu strukturieren. Die fundamentale Bedeutung der Sprache in ihrer sozialen, kommunikativen und kognitiven Dimension, ihre welterschließende und weltbildkonstruierende Rolle ist, bei aller Verschiedenheit und Interpretation der Zusammenhänge und Mechanismen im einzelnen, in Sprachphilosophie und Linguistik unumstritten. Wie aber soll man vor diesem Hintergrund Erfahrungen und Erlebnisse sprachlich strukturiert zum Ausdruck bringen, die man in einer Welt gemacht hat, die ihrem ganzen Wesen nach auf die systematische Zerstörung aller sinnstrukturierten, sozialen und kommunikativen Aspekte des Menschseins zielten? Der Holocaust war eine »Welt der Extreme, ein Universum der Desorientierung, gewissermaßen dazu geschaffen, seine Opfer in einem Zustand der Orientierungslosigkeit zurückzulassen.«2 

Zuerst und unmittelbar traf dieses Problem all jene, die dem Grauen des Holocaust entkommen waren und die zugleich das tiefe Bedürfnis verspürten, Zeugnis abzulegen. Sie alle waren mit dem Problem konfrontiert, das Wittgenstein’sche Diktum – ›Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt‹ – durchbrechen zu müssen, denn sie wollten von einer real durchlittenen Welt erzählen, die aber offenbar jenseits der Grenzen ihrer Sprache lag. All ihr Bemühen, über den Holocaust zu schreiben oder zu sprechen stand und steht »unter der Herrschaft eines Paradoxons: das Ereignis muss mitgeteilt werden, gleichwohl es nicht mitteilbar ist.«3

Naturgemäß besonders intensiv wurde das Problem Sprache und Holocaust unter jenen reflektiert und diskutiert, die dem Holocaust in fiktional-literarischer Weise beizukommen suchten96. Schriftsteller und Dichter sahen sich dabei mit noch einem weiteren Diktum konfrontiert, dem von Adorno, demzufolge nach Auschwitz Gedichte – und damit auch Literatur insgesamt – zu schreiben unmöglich sei.4 

Mit der bedrohlichen Nicht-Mitteilbarkeit der Holocaust-Erfahrung sah sich auch die Psychologie konfrontiert, oder genauer jene wenigen Psychologen und Psychotherapeuten, die sich in ihrer Arbeit mit den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager engagiert auseinander setzten. Eindrücklich berichtet Hans Keilson ein Beispiel aus seiner therapeutischen Praxis: »Im Folgenden möchte ich ... von einem Fall berichten, in dem es, da die Sprache sich mir versagte, zu einem solchen Abbruch [der Therapie] kam; alle Worte, die ich noch sprach, erschienen mir im gleichen Augenblick inhaltslos, leer, fremd, falsch. Ich erinnere mich auch deutlich noch eines Gefühls von Scham, Verlegenheit, so dass ich schließlich zu sprechen aufhörte. Mein Gegenüber, an den die Rede gerichtet war, muss bereits früher als ich die Unmöglichkeit eingesehen haben, sich mit Worten zu verständigen. Er schwieg. Es handelte sich um einen damals 12jährigen Jungen aus einer orthodox-jüdischen Familie des gehobenen Mittelstandes, der als Waise aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen zurückgekommen war, wo er seine Eltern und fünf Geschwister verloren hatte.«5 

Auch für die Historiker, für die Geschichts-schreiber, die über den Holocaust zu schreiben sich entschlossen haben, ist es ein eminentes Problem, »wie wir schreiben sollten«.6 Raul Hilberg erläutert aus seiner Sicht die Quintessenz dieser Problematik wie folgt: »Sie alle erinnern sich an Adornos Diktum, es sei barbarisch nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Ich bin kein Poet, aber mir ist der Gedanke gekommen, dass wenn dieses Urteil wahr ist, ist es dann nicht ebenso barbarisch, nach Auschwitz Fußnoten zu schreiben? Ich hatte in meiner Vorstellung den Prozess der Vernichtung zu rekonstruieren, die Dokumente in Paragraphen zu bringen, die Paragraphen in Kapitel, die Kapitel in ein Buch. Ich dachte immer, dass ich auf solidem Boden stehe; ich hatte keine Sorgen über ein künstlerisches Versagen. Nun erzählt man mir, dass ich in der Tat damit erfolgreich war. Und das ist ein Grund zu einiger Sorge, denn wir Historiker usurpieren die Geschichte exakt dann, wenn wir in unserer Arbeit erfolgreich sind, und dies sage ich, weil heutzutage einige Leute das, was ich geschrieben habe, in dem fälschlichen Glauben lesen, dass sie hier, auf meinen gedruckten Seiten, den wahren Holocaust, wie er wirklich gewesen ist, finden werden.«7 


"Denk an die Tage der Vergangenheit -
Lerne aus den Jahren der Geschichte

Herausgegeben von Christoph Münz / Rudolf W. Sirsch

40 Jahre Buber-Rosenzweig-Medaille.
Mit einem Geleitwort von Bundespräsident Horst Köhler




Lit-Verlag
Münster 2009
392 S.
39,90 Euro




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Seit 1968 verleiht der Deutsche Koordinierungsrat während der Eröffnungsfeier zur Woche der Brüderlichkeit die Buber-Rosenzweig- Medaille. Ausgezeichnet werden Personen, Institutionen oder Initiativen, die sich insbesondere um die Verständigung zwischen Christen und Juden verdient gemacht haben. Die Medaille wird in Erinnerung an die jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig verliehen.

Der vorliegende Band versammelt nahezu vollständig und zum ersten Mal die auch heute noch lesenswerten Laudationes und Dankesworte der Preisträger aus den vergangenen vierzig Jahren. Mit Beiträgen von Ernst Ludwig Ehrlich, Friedrich Dürrenmatt, Schalom Ben-Chorin, Sir Yehudi Menuhin, Richard Von Weizsäcker, Lea Rabin, Joschka Fischer, Johannes Rau, Daniel Barenboim, Leon De Winter u.v.a.



Einen zusätzlich verschärfenden Aspekt erhält die gesamte Problematik des Sprechens und Schreibens von und über den Holocaust nicht zuletzt dadurch, dass auf Seiten der Nazis die Tat des Holocaust selbst in Planung und Durchführung gewissermaßen auch eine sozial-kommunikative ›Meisterleistung‹ darstellte. Eine ›Meisterleistung‹, die sich durch einen gleichermaßen akribischen wie euphemistischen Sprachgebrauch auszeichnete: »Es gehört zu den eigentlichen Schaudern der Nazizeit, dass alles, was geschah, festgehalten, katalogisiert, aufgezeichnet und niedergeschrieben wurde; dass man den Worten Dinge auszudrücken aufgab, die eigentlich von keinem Menschenmund ausgesprochen und auf keinem von Menschenhand hergestellten Stück Papier festgehalten werden sollten.«8

Auch hierin liegt ein Stück trauriger Einzigartigkeit: Die Planung und Durchführung des Holocaust wurde von einer Form verwilderter Versprachlichung begleitet, die bei dem Versuch, sie nachzuvollziehen, über sie zu reflektieren, sie zu verstehen, es uns Heutigen die Sprache buchstäblich verschlägt. »In den Kellerräumen der Gestapo haben Stenographen, gewöhnliche Frauen, alle Laute der Furcht und der Agonie der gebrannten, geschlagenen oder gemarterten Menschen sorgfältig aufgeschrieben. Die experimentellen Torturen, die in Belsen und Mauthausen an lebenden Wesen vorgenommen wurden, sind genauestens festgehalten. Die Anordnungen über die Zahl der Hiebe, die an den Marterpfählen von Dachau verabfolgt wurden, waren schriftlich fixiert. Wenn polnische Rabbiner gezwungen wurden, mit Hand und Mund offene Latrinen auszuräumen, standen deutsche Offiziere dabei, um den Tatbestand zu photographieren, zu protokollieren und zu etikettieren. Trennten die Wachmannschaften der SS an den Eingängen zu den Todeslagern Mütter und Kinder voneinander, gingen sie dabei nicht schweigend vor, sondern proklamierten die bevorstehenden Greuel durch lautstarken Hohn: ›Heidi, heida, juchheisassa, Scheißjuden in den Schornstein!‹ So wurde zwölf Jahre lang immer wieder das Unaussprechliche ausgesprochen, das Undenkbare aufgeschrieben, registriert, tabellisiert und zur Akte genommen.«9

Auf nachdrückliche und anschauliche Weise beleuchtet der jüdische Philosoph und Literaturwissenschaftler George Steiner das Problem unter einem für das Judentum sehr spezifischen Aspekt. Dabei bindet er seine Reflexion in einen zunächst überraschend anmutenden, tatsächlich aber sachlich adäquaten Rahmen ein. Steiner weist zu Beginn seiner Ausführungen darauf hin, dass die Frage, »ob es eine Art von menschlicher Sprache gibt, in der sich adäquat über Gott sprechen läßt«, vor allem ein in der christlichen Theologie diskutiertes Problem war und ist.10 Das hermeneutische Dilemma liege dabei nun hauptsächlich in der Kluft zwischen den beschränkten Möglichkeiten sprachlicher Begriffsbildung und der per definitionem jenseits solcher Beschränkungen liegenden Idee von Gott. »Das Gebet zu Gott stellt kein Problem dar; der Diskurs über Gott ein nahezu unlösbares.«11 Die Sprache hinkt hier immer entscheidend hinter dem her, was sie zu fassen sucht. Im Judentum aber, fährt Steiner fort, habe dieses »Problem linguistischer Erkenntnistheorie oder hermeneutischer Theologie keine überragende Rolle gespielt«, weil das Judentum im Grunde keine Entsprechung zum christlichen Begriff der ›Theologie‹ kenne. »Die authentischste und beständigste Stärke des jüdischen Bewusstseins besteht nicht in einer Reflexion oder einem metaphysischen Diskurs über Wesen und Eigenschaften Gottes, sondern in einem ›Leben in Seiner Gegenwart‹.«12

Für das dergestalt mehr dialog- und handlungsorientierte Judentum liegt somit aber eine der dramatischsten Folgen des Holocaust darin, »dass das Judentum, das religiöse wie das weltliche, von jenem hermeneutischen Dilemma (gewaltsam, unwiderruflich) durchdrungen wurde. Das Problem, ob es eine menschliche Form von Sprache gibt, die einem Verstehen von Auschwitz und einer entsprechenden Begrifflichkeit adäquat ist, ob also der Sprache nicht zu enge Grenzen gesetzt sind, als dass sie der Shoah-Erfahrung gerecht werden könnte, hat sich inzwischen unauslöschlich der jüdischen Existenz eingeprägt.«13 Natürlich hat dies für Juden vor allem Konsequenzen für die religiöse Rede zu und die theologische Rede über Gott. Darüber hinaus aber ist auch selbst der »weltlichste Jude ... das explizite Geschöpf seiner Vergangenheit, der jüdischen Geschichte. Selbst der jüdische Atheist oder der entschlossenste Assimilationswillige orientiert seine Identität im Hinblick auf das historische Schicksal des jüdischen Volkes und das Rätsel seines Überlebens. Mit welchen Verstehenskategorien, mit welcher Grammatik der Vernunft, ja, mit welchem Vokabular im allerkonkretesten Sinne lässt sich der Abgrund von 1938-45 begreifen, artikulieren, interpretieren?«14 Vor diesem Hintergrund wird die identitätszerstörende Sprengkraft deutlich, mit der alle Reflexion jüdischerseits nach und über Auschwitz bedroht ist. Denn über einen »entscheidenden Teil seiner eigenen Geschichte zu schweigen ist für einen Juden gleichbedeutend mit Selbstverstümmelung.«15

Über diesen besonders das Judentum betreffenden Aspekt hinausgehend, erörtert Steiner auch die universalen Implikationen, die dies für die Sprache in seinen Augen hat. Für ihn markiert Auschwitz »auf einer kollektiven historischen Skala den Tod des Menschen als eines rationalen, ›vorwärtsträumenden‹ Sprachorganismus (des zoon phonanta der griechischen Philosophie). Die Sprachen, die wir heute auf diesem verseuchten Planeten sprechen, sind ›posthuman‹.«16 In konsequenter Fortführung dieses Gedankens, kommt er zu einem Ergebnis, dessen empirische Basis in dem Schweigen vieler Überlebender des Holocaust liegt und noch viel mehr in dem Nie-mehr-zur-Sprache-kommen-können der Millionen von Opfern: »[...], was für eine Art von Rationalität, was für eine Art von geregelter Logik der sozialen und psychologischen menschlichen Gegebenheiten, welche Prozesse rationaler Analyse und kausaler Erklärung stehen der Sprache noch zur Verfügung nach dem Krebsbefall der Vernunft, nach der Travestie jedweder Sinnhaftigkeit, wie die Shoah sie verkörperte? Es sind Zweifel solchen Ausmaßes, dass sie mich zu der (vorläufigen) Einstellung gebracht haben, dass Schweigen die einzige – wenn auch auf ihre Weise selbstmörderische – Option ist; dass der Versuch, verstehend und interpretierend über Auschwitz zu sprechen oder zu schreiben, bedeutet, das Wesen jenes Geschehens völlig zu verkennen und die von der Menschlichkeit her erforderlichen Grenzen innerhalb der Sprache völlig falsch zu ziehen.«17 Dies ist, in anderen Worten, nichts anderes als ein philosophisch-historisch begründetes "Bilderverbot" auf sprachlicher Ebene, das in Form eines "Schweiggebots" formuliert ist.

Auch die Sprache der ›Täter‹, die deutsche Sprache, nimmt Steiner im Kontext seiner Position ins Blickfeld. Bereits im Jahre 1959 schrieb er einen aufsehenerregenden und vielfach scharf kritisierten Essay, der die »Wechselbeziehungen zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit« angesichts des »deutschen Sprachkollaps zum Nazi-Jargon« zum Gegenstand hatte, und dies unter besonderer Berücksichtigung der »Vergeßlichkeitsakrobatik, die dem Sturz Hitlers nachfolgte«.18 Mit Blick auf den euphemistischen Charakter der Nazi-Sprache, von der die Planung und Durchführung des Holocaust begleitet wurde, urteilte Steiner, »eine Sprache, aus der die Hölle spricht, nimmt auch die Gewohnheiten der Hölle in ihrer Syntax an.«19 Er argumentiert, in einer Sprache, die dazu diente, Auschwitz und Bergen-Belsen zu organisieren und zu rechtfertigen, in einer solchen Sprache setzte sich etwas »von der Lüge und dem Sadismus ... im Mark der Sprache fest«.20 Denn die »buchstäblich unsäglichen Wörter, die dazu benutzt werden, die Shoah zu planen, anzuordnen, zu inventarisieren und zu rechtfertigen, die Wörter, die es nach sich ziehen und amtlich machen, dass Kinder vor den Augen ihrer Eltern bei lebendigem Leibe verbrannt werden, dass Greise und Greisinnen in Exkrementen langsam ertränkt werden, dass in einer wortreichen Mordbürokratie Millionen ausgelöscht werden, es sind deutsche Wörter. Es sind Wörter, denen die halluzinatorische Verstiegenheiten, denen der Todeskitsch der Nazirhetorik eine Kraft, eine Konsequenz verliehen haben, wie sie wenige andere Wörter in menschlicher Geschichte besessen haben.«21 Trotzdem, oder genauer exakt deswegen, kommt er zu der frappierenden Überlegung, die einzige Sprache, »in der überhaupt etwas Einsichtiges, etwas Verantwortliches über die Shoah zu sagen versucht werden kann, das Deutsche« ist.22 Und, so vermutet er, »wenn es denn überhaupt eine Rehumanisierung der Sprache nach der Shoah geben sollte, eine Wiederherstellung der Sprache in ihrer verlorengegangenen Gabe, zu und über Gott zu sprechen, zu und über den Menschen überhaupt in einem verantwortlichen Sinne zu sprechen, dass eine solche Wiedergutmachung und Wiederherstellung nur aus dem Todesidiom selbst kommen kann.«23

Steiners Überlegungen verdeutlichen die abgrundtiefe Dimension des Zusammenhangs zwischen Verstehbarkeit und Versprachlichung der Erfahrung des Holocaust für das Judentum. Darüber hinaus sieht er in nahezu metaphysischer Weise die Sprache selbst derart beschädigt, dass es im Grunde keines "Bilderverbots" mehr bedarf: Die Sprache verfügt nicht mehr über die erforderliche Qualität, jene "Bilder" zur Sprache zu bringen, die auf Erfahrungen basieren, welche »sich in einer Welt abspiel[t]en, wohin die Sprache nicht reicht, wo sie ›versagt‹.«24



Frieden für Israel

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    Gregory Baum, Hubert Frankemölle und
    Christoph Münz (Herausgeber)

    Frieden für Israel
    Jewish Peace-and-Justice-Groups in Israel

    Verlage Lembeck u. Bonifatius 2002
    275 Seiten


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    Betreff: Frieden für Israel


Die Medien sind jeden Tag voll von Bildern des Krieges in Israel, der – wie bekannt ist – auch als Krieg der Bilder geführt wird. Beteiligt sind Israelis wie Palästinenser, nicht zuletzt aber auch die westlichen Medien, die die Auseinandersetzung für ihre Zwecke instrumentalisieren und durchaus kein objektives Bild liefern.

Wer weiß schon in Deutschland, dass es in Israel auf jüdischer Seite mehr und prozentual größere Friedensgruppen gibt als in Deutschland? In Israel (ein Land von der Größe Hessens) brachte z.B. 1982 die Friedensbewegung Peace now 400.000 Demonstranten auf die Straße. Trotz aller Rückschläge der Friedensbewegung demonstrierten im Februar 2002 wiederum in Tel Aviv 20.000 Menschen für den Abzug der israelischen Armee aus den Gebieten der Palästinenser und für einen gerechten Frieden.

Vielfach wird jede Kritik an israelischer Politik in den USA und bei uns als Antisemitismus ausgelegt. Dies kann man den Autoren der 11 Friedensgruppen, deren jüngste Erklärungen in diesem Buch gesammelt und kommentiert sind, sicherlich nicht vorwerfen, da sie als Juden mit unterschiedlichen Akzenten, aber übereinstimmend für eine gerechte Lösung plädieren. Bevor Nichtjuden sich aktiver einmischen, was immer wieder gefordert wird, sind solche jüdischen Stimmen wahrzunehmen: von allen politisch Interessierten, insbesondere aber auch von Christen, von Israel-Touristen und von Politikern.
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III DER BEGRIFF »HOLOCAUST«


»..., da prüfte Gott Abraham und sprach zu ihm: ›Abraham, Abraham!‹ Er antwortete: ›Hier bin ich!‹ Da sprach er: ›Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast, den Isaak, und gehe in das Land Morija und bringe ihn dort auf einem der Berge, den ich dir sagen werde, als Brandopfer dar!‹ ... Darauf nahm Abraham das Holz zum Brandopfer und lud es seinem Sohne Isaak auf; er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand. So gingen sie beide miteinander. Da sprach Isaak zu Abraham, seinem Vater: ›Mein Vater!‹ Er antwortete ›Ja, mein Sohn!‹ Der sagte: ›Siehe, da ist das Feuer und das Holz, wo ist denn das Lamm zum Brandopfer?‹ Abraham erwiderte: ›Gott wird sich das Lamm zum Brandopfer schon ersehen, mein Sohn.‹ So gingen sie beide miteinander. Als sie an den Ort kamen, den Gott ihm gesagt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, band seinen Sohn und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Dann streckte Abraham seine Hand aus, nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief der Engel Jahwes vom Himmel her ihm zu und sprach: ›Abraham, Abraham!‹ Er antwortete: ›Hier bin ich!‹ Da sprach er: ›Strecke deine Hand nicht nach dem Jungen aus und tu ihm nichts zuleide. Denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.‹«
(Gen. 22, 1-2 u. 6-12)


Nicht nur die Geschichtswissenschaften, sondern die Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt definieren und tradieren sich wesentlich über ihre Begrifflichkeiten. Die Abklärung der Genese und die Definition zentraler Termini markieren in hohem Grade die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin. Fortschritt und Wandel der Wissenschaften lassen sich nicht zuletzt am Fortschritt und Wandel ihrer Termini ablesen. Präzision und methodische Sauberkeit in der Entwicklung und dem Gebrauch wissenschaftsrelevanter Begrifflichkeiten gelten als Gütezeichen wissenschaftlichen Arbeitens. Vor diesem Hintergrund ist es um so erstaunlicher, dass einer der zentralen Begriffe der Zeitgeschichte – und nicht nur ihr – bis in die jüngste Zeit nahezu unhinterfragt, selten reflektiert und lange einmütig Anwendung fand: ›Holocaust‹. Weit über die Grenzen der Wissenschaft hinaus hat dieser Begriff Eingang gefunden in die breite Öffentlichkeit. Der Begriff selbst und das, was mit ihm gemeint ist, ist derart zum Bestandteil allgemeiner Bildung geworden, dass ihm nur in seltenen Fällen noch die erläuternde Beschreibung – Ermordung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges – nachfolgt. Ohne Übertreibung kann man hier von der ›Karriere eines Begriffs‹ sprechen, wenngleich – ebenfalls sehr erstaunlich und entgegen allem wissenschaftlichen Usus – die Ursprünge, Mechanismen, Wege und Gründe dieser ›Karriere‹ bislang noch keine systematische Erforschung erfahren haben.25

Dabei ist es weder unausweichlich noch auf Anhieb einleuchtend, dass dieser Begriff zur vorherrschenden Bezeichnung der Ermordung an den Juden arriviert ist. Der Begriff ›Holocaust‹ entstammt ursprünglich dem Griechischen holokau(s)tos und fand über das Lateinische holocaustum seinen Weg in den europäischen Sprachbereich. Das Griechische holokau(s)tos ist eine Zusammensetzung aus holos = ganz, vollständig und kau(s)tos = verbrannt, meint also etwas, dass vollständig verbrannt ist. Von hierher rührt dann die Generalisierung im Sinne von total zerstört, und im Deutschen wäre holokau(s)tos mit Ganzopfer oder Brandopfer zu übersetzen. Fast erscheint es naheliegend, in diesem Sinne die Ermordung der Juden in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches mit ›Holocaust‹ zu benennen, »ruft doch dieser Terminus Erinnerungen wach an den Geruch brennender Leiber in den Brandöfen der Nazis.«26 Eine solche Sichtweise verkennt jedoch die ursprünglich am weitesten verbreitete Assoziation dieses Begriffs: »Der Sprachgebrauch von ›Holocaust‹ vor dem Zweiten Weltkrieg hat eine Konnotation, welche sich nur wenige derer bewusst sind, die ihn heute benutzen«, nämlich den des religiösen Opfers. Wirft man einen Blick in die Septuaginta, die griechische Übersetzung der Bibel, findet man den Terminus in all seinen Abwandlungen (holokautos, holokautoma, holokautosis) über zweihundertmal, »und ohne Ausnahme wird der Begriff gebraucht, um ein Opfer zu bezeichnen – in den allermeisten Fällen im Sinne eines Opfers für Gott.«27 Unter anderem führte dies dazu, dass die Standardübersetzung der Bibel ins Englische, die sog. King James Version, den Begriff in seiner anglifizierten Form als holocaust an entsprechender Stelle aufnahm und ihm dergestalt Eingang in den englischen Wortschatz verschaffte.

Kurios und wunderlich: Das erste in den USA publizierte Buch, das ›Holocaust‹ im Titel führt, stammt aus dem Jahre 1959 und handelte keineswegs von der Vernichtung der europäischen Juden, sondern von der sog. »Coconut Grove«-Katastrophe in Boston, der tragischsten Feuerkatastrophe im Amerika der frühen 40iger, bei der ein ganzes Theater samt aller Besucher im Feuer umkamen.28  Zudem gab (und gibt) es zweifellos eine Reihe von Alternativen zum Terminus ›Holocaust‹ zur Bezeichnung der Ermordung der Juden. Und in der Tat gab es bis in die Mitte der 50er Jahre hinein keinen ›Holocaust‹ im heute gebräuchlichen Sinne des Wortes. Während und unmittelbar nach dem Krieg sprach man etwa von ›permanentem Pogrom‹, von der ›jüngsten Katastrophe‹, der ›jüdischen Katastrophe‹, oder vom ›großen Desaster‹.29 Etwas später kamen Begriffe wie ›Vernichtung‹, ›Auslöschung‹ oder ›Massaker‹ hinzu. Sie alle sind – bewusst oder unbewusst – im Grunde Übersetzungen des modern hebräischen Wortes Sho’ah, das im engeren Sinne schlicht Katastrophe meint.

1953 beschloss die Knesset, das Parlament des Staates Israel, in einem Gesetz die Errichtung einer Gedenk- und Forschungsstätte für die sechs Millionen und gab ihr den Namen Yad Vashem – Martyrs’ and Hereos’ Remembrance Authority.30  Im Jahre 1955 entschied man in Yad Vashem, den hebräischen Begriff Sho’ah ins Englische zu übersetzen mit ›disaster‹ (Katastrophe), und teilte die Erforschung der ›Katastrophe‹ in drei Sektionen ein: »Das Aufkommen der Katastrophe 1920-1933«, »Die Anfänge der Katastrophe 1933-1939« und »Die Katastrophe 1939-1945«.31  Fast zur gleichen Zeit trat dann bereits der Terminus ›Holocaust‹ im Sprachgebrauch auf und zwar in den Jahren 1957-59. In dieser frühen Zeit beschränkte sich der Gebrauch von ›Holocaust‹ zur Bezeichnung der Ermordung der Juden in Europa jedoch weitgehend auf wissenschaftliche Kreise und wurde vornehmlich von jüdischen Autoren benutzt.32 So etwa auf dem Zweiten Weltkongress für Jüdische Studien in Jerusalem und im dritten von Yad Vashem veröffentlichten Jahrbuch.33 In der Folge wechselte man in Yad Vashem insgesamt im Sprachgebrauch von ›Katastrophe‹ zu ›Holocaust‹. Noch bevor 1961 Hilbergs fulminantes und bahnbrechendes Standardwerk zum Holocaust erschien und ebenso noch vor dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, waren der Begriff und Gebrauch von ›Holocaust‹ auf akademischer Ebene eingeführt. 1968 schließlich war der Terminus im angelsächsischen Raum auf solch breiter Front etabliert, dass sogar die amerikanische Library of Congress sich gezwungen sah, ›Holocaust – Jewish, 1939-1945‹ als eigenständiges Schlagwort in ihrer bibliographischen Arbeit aufzunehmen.34

Warum aber kam es dazu, dass ein Begriff, der ausschließlich dazu diente, das religiöse Opfer im biblischen Judentum zu benennen, zur Bezeichnung für die Ermordung der Juden wurde? Bedenkt man die fatalen religiösen Konnotationen, die der Gebrauch dieses Terminus zwangsläufig mit sich führt, ergibt sich eine mehr als paradoxe Situation. Wenn man nämlich das »Etikett ›Holocaust‹ benutzt, dann impliziert man eine teilweise religiöse Korrespondenz zwischen Juden und Nazis: Wenn die ersteren das Brandopfer sind, dann folgt zwangsläufig, dass letztere diejenigen sind, die das Opfer offerieren. Im Ergebnis überträgt man damit den Nazis eine quasi ›priesterliche‹ Rolle.«35 Und schließlich gibt es neben Opfer und Opfergeber einen dritten im Bunde: den Adressat des Opfers, Gott selbst. Das religiöse Opfer geht seiner Idee nach von dem stillschweigenden Einvernehmen zwischen Anbieter und Adressat des Opfers aus. Und derjenige, der das Opfer anbietet darf hoffen, dass er hierdurch Wohlgefallen bei Gott findet. Nicht selten ist es gar so, dass Gott selbst das Opfer einklagt. Man übertrage nur diese Zusammenhänge auf Nazis, Juden und ihre Ermordung, und man möchte meinen, dass der Begriff ›Holocaust‹ »der denkbar letzte Terminus ist, den Juden als angemessene Charakterisierung für den Genozid an ihnen akzeptieren würden. Dennoch ist dies ganz klar nicht so. Heute ist es der gewählte Begriff – und, ebenso klar, bis zu einem gewissen Punkt ist diese Wahl auch von Juden getroffen (oder zumindest akzeptiert) worden.« Freilich ohne sich in den allermeisten Fällen der erwähnten Konnotationen bewusst zu sein, geschweige denn sie zu teilen. »Warum aber dann diese Wahl? Warum auf einen Terminus konzentriert sein, von dem man sagen kann, er lege nahe, daß Gott und die Nazis Komplizen in der Opferung der Juden gewesen seien? Warum nennen wir den Holocaust ›Holocaust‹?«36

Eine der naheliegendsten Hypothesen wäre, dass man den Begriff völlig unabhängig seiner religiösen Wurzeln wählte und dass er seinen Eingang in den angelsächsischen Sprachgebrauch seiner Assoziation zu Zerstörung, Feuer und Krieg verdankt. In diesem Sinne etwa argumentiert David Roskies, wenn er darauf hinweist, dass »Holocaust für das englische Ohr ein apokalyptischer Begriff für ... Zerstörung war. Wie viele andere gewichtige Worte der englischen Sprache hatte ›Holocaust‹ seine Wurzeln im Lateinischen und obwohl er für Juden als auch Nicht-Juden eine vage Verbindung zurück zur Bibel andeutete, ..., so hatte der Begriff doch keine der vorgefertigten Konnotationen anderer alternativer Bezeichnungen«.37 Nach Roskies war es also gerade die nichtreferentielle Qualität, die durch Unkenntnis gewährleistete Unbelastetheit des Terminus ›Holocaust‹, die seinen weithin akzeptierten Gebrauch förderte. Wenngleich dies durchaus zutreffen mag für die Mehrheit derer, Juden wie Nicht-Juden, die den Terminus ›Holocaust‹ in Unkenntnis der religiös-sakralen Hintergründe benutzen, so kann doch mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß »diejenigen jüdischen Denker und Schreiber, die als erste diesen Begriff übernahmen und – was noch wichtiger ist – es zuließen, dass er weithin Verbreitung fand« keineswegs in Unkenntnis der Zusammenhänge waren, »die leichthin ermittelt werden konnten, indem man schlicht ein Wörterbuch aufschlug.«38 Man könne doch wohl kaum davon ausgehen, argumentieren Garber/Zuckerman, dass man in der Wahl eines Begriffes, der ein solch schreckliches, entscheidendes und für jüdische Identität schwerwiegendes Ereignis benennen soll, leichtfertig und ignorant gewesen sei. Im Gegenteil: »Es muss mit großer Sorgfalt und entsprechender Überlegung geschehen sein. Überdies gibt es kaum einen Zweifel daran, dass der Mann, der am meisten dafür getan hat, ›Holocaust‹ im modernen Bewusstsein zu etablieren, sich sehr darüber im Klaren war, was er da tat und sich ebenso all der Nuancen, die der Begriff ›Holocaust‹ beinhaltet, voll bewusst war. Dieser Mann ist Elie Wiesel.«39 

Und in der Tat ist Elie Wiesel in diesem Zusammenhang ohne Zweifel die Schlüsselfigur, der einem Katalysator gleich diesem Terminus den Weg in den öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Sprachgebrauch geebnet hat. Ob er dabei wirklich der erste war, der den Begriff in seiner heute üblichen Weise gebrauchte oder nicht, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Zweifelsohne war seine Einführung und sein Gebrauch dieses Begriffs in seiner Wirkung »der einzig entscheidende Faktor, der zur Legitimation im gegenwärtigen Sprachgebrauch führte. Wir könnten sagen, dass Wiesel für ›Holocaust‹ das ist, was Columbus für die Entdeckung Amerikas bedeutet. Ob er im strengen Sinne der erste war oder nicht, ist nicht der springende Punkt – er war der erste, der ›Holocaust‹ sozusagen ›auf die Landkarte‹ gebracht hat.«40

Wiesel begann eigenen Angaben zufolge in den späten 50er Jahren mit dem Gebrauch des Wortes ›Holocaust‹. Aus der Feder Wiesels ist es erstmals gedruckt zu finden in seiner Rezension des »Theresienstädter Requiems« von Josef Bor in der New York Times Book Review vom 27. Oktober 1963.41 Von da an erfuhr der Begriff jene Popularisierung und Akzeptanz, die parallel hierzu – wie oben ausgeführt – auch für den akademischen Bereich zu verzeichnen ist, und die ihren Höhepunkt sicher in der Ausstrahlung der Fernsehserie ›Holocaust‹ 1978 in den USA und 1979 anschließend auch in Deutschland fand.42

Was waren die Beweggründe Wiesels, den Holocaust ›Holocaust‹ zu nennen? Aus vielen Stellungnahmen Wiesels lässt sich eindeutig schließen, dass er sich bei dem Gebrauch des Wortes ›Holocaust‹ der Assoziationen dieses Begriffes mit dem religiös-sakralen Bereich des Opfers voll bewusst war. Allerdings hatte Wiesel dabei eine ganz bestimmte Opferszene im Sinn: die Akedah, die Bindung Isaaks, jene Geschichte der hebräischen Bibel in Genesis, Kap.22, in der Abraham von Gott aufgefordert ist, seinen einzigen Sohn Gott zum Opfer darzubringen. In welchem Sinne verbindet Wiesel Akedah und Holocaust?

»Die Akedah«, erläutert Elie Wiesel, »ist das wohl geheimnisvollste, herzzerbrechendste und zugleich eines der wunderbarsten Kapitel unserer Geschichte. Die ganze jüdische Geschichte kann tatsächlich mit Hilfe dieses Kapitels verstanden werden. Ich nenne Isaak den ersten Überlebenden des Holocaust, weil er die erste Tragödie überlebte. Isaak war auf dem Weg, ein korban olah zu sein, was wirklich ein Holocaust ist. Das Wort ›Holocaust‹ hat eine religiöse Konnotation. Isaak war bestimmt als Opfer für Gott.«43

Garber/Zuckerman weisen daraufhin, dass die Figur Isaaks offensichtlich bestimmte archetypische Grundmotive enthalte, die es Juden ermögliche, »ein Verständnis davon zu gewinnen, was andernfalls zu schrecklich sein mag, um es verstehen zu können. Wir glauben, dass es diese ›Isaak-Archetypen‹ sind, denen Wiesel sich zuwandte, als er sich entschied, den Holocaust ›Holocaust‹ zu nennen.«44 Welches sind die archetypischen Grundmotive der Akedah mit Blick auf den Holocaust? Sie seien in Kürze aufgelistet:


- Isaak, die stumme Opfergabe: »Er geht zum Schlachtplatz ohne Klage, ohne Protest und nahezu fraglos. [...] So mag man in der Akedah eine Antwort auf eine der schärfsten Fragen finden, die ein Opfer des Nazi-Genozids zu geben versuchen musste: Warum hast du keinen Widerstand geleistet? [...] Vielleicht empfindet ein Überlebender das als die einzige sinnvolle Antwort, die er jenen geben kann, die nicht dort waren und wahrscheinlich nicht verstehen, was es bedeutete, in den Nazi Lagern gewesen zu sein, etwas, was man die Antwort des Schweigens nennen könnte – ein Schweigen, das die Akedah zu erklären hilft.«


- Isaak ist ein ganz besonderes Opfer, ein yahid. Die gebräuchliche Übersetzung für yahid ist einziger Sohn, präziser jedoch wäre der Einzige. In diesem Sinne ist »Isaak gleich Israel, oder zumindest der entscheidende, einzige Vorgänger von Israel. Mehr noch, Isaaks Tod hätte die Zerstörung eines ganzen Volkes bedeutete, noch bevor es hätte geboren werden können – ein Genozid im Mikrokosmos.«


- In diesem Sinne stellt Isaak die Verkörperung der jüdischen Geschichte dar. »Denn Juden haben sich selbst immer als yehidim betrachtet, die ›Einzigen‹, auserwählt von Gott, und diese Auserwählung hatte oftmals tödliche Konsequenzen. [...] Wenn Gott Israel auserwählt hat, bedeutet dies bis zu einem gewissen Grad, dass Er sie zu Opfern gemacht hat, sie in die Gefahr führt ›wie Schafe zur Schlachtbank‹, gerade so sicher wie Er Isaak in der Akedah zum Opferaltar führte. Daher ist der Archtypus vom auserwählten Opfer in hohem Maße der Schlüssel zum Verständnis, warum Wiesel den ›Holocaust‹ mit der Akedah verbindet.« 


- Isaak, der erste Überlebende. Wiesel selbst erklärt: »Fast bis zur letzten Minute hatte es den Anschein, als ob die Tragödie (der Akedah) geschehen würde. Und doch blieb Isaak ein Glaubender. Mehr noch, Yitzhak [=Isaak] bedeutet im Hebräischen ›er wird lachen‹. So fragte ich mich, ›wie wird er lachen können?‹. Und an dieser Stelle ist es, wo ich den Sprung mache: Isaak, der erste Überlebende einer Tragödie, eines Holocaust, wird uns lehren, wie wir lachen können, wie wir überleben können und wie wir weiter glauben können.« 


Betrachtet man die verschiedenen Motive Wiesels, den Holocaust mit Blick auf die Akedah als ›Holocaust‹ zu bezeichnen, könnte man als übergreifenden und sicher ausschlaggebenden Grund nennen, dass es für Wiesel »wesentlich war, dass Gott miteinbegriffen war in das Universum dieser äußersten Katastrophe des Judentums. [...] Er wählte diesen Terminus, weil es ihm als der einzige Weg erschien, das Spezifische dieser Tragödie als einer jüdischen Tragödie zu bewahren.«49

Erst im Laufe der 80er Jahre wurde man zunehmend der religiösen Konnotationen gewahr, die der Begriff ›Holocaust‹ mit seinen biblischen Wurzeln in sich trägt, und folglich steht seitdem der Begriff unter starker Kritik. Insbesondere seit Claude Lanzmanns epochalem neunstündigen Film Shoah aus dem Jahre 1985 ist ein starker Trend zu verzeichnen, ›Holocaust‹ durch den hebräischen Begriff Sho’ah (Katastrophe, Vernichtung) zu ersetzen. Vorwiegend geschieht dies mit der Begründung, der Terminus Sho’ah entbehre all der fatalen religiösen Konnotationen, die der Begriff ›Holocaust‹ mit sich bringt. Dies ist jedoch – in gewissem Umfang – ebenfalls ein Trugschluss. Die gesamte modern-hebräische Sprache fußt elementar und wesentlich in Lexikon und Grammatik auf dem biblischen Hebräisch. Dem gemäß sollte es nicht verwundern, dass auch der scheinbar religiös unbelastete Begriff Sho’ah seine biblischen Ursprünge und damit einen dezidiert religiösen Kontext hat. Bereits 1979 hat Uriel Tal kenntnisreich hierauf aufmerksam gemacht.50 Er verweist auf die entsprechenden Stellen in der hebräischen Bibel, an denen der Terminus Sho’ah Verwendung findet, und zeigt auf, dass es sich um Situationen handelt, in denen dieser Terminus dazu diente, eine für Israel drohende Gefahr, Elend, Katastrophe oder Zerstörung zum Ausdruck zu bringen.51 Die rabbinische Exegese, so Tal, interpretierte Sho’ah zumeist im Sinne von Dunkelheit, Verwüstung oder Leere. Nimmt man den Kontext jener Stellen hinzu, in denen in der Bibel von Shoah gesprochen wird, stellt man fest, dass »alle biblischen Bedeutungen des Terminus Sho’ah ganz klar göttliches Urteil und Vergeltung implizieren.«52 Damit ist Sho’ah im Kontext des jüdisch-biblischen Konzepts von Sünde, Strafe und Vergeltung zu sehen und somit, zumindest was seine Wurzeln betrifft, keineswegs ohne religiösen Kontext und Konnotation.53

Erstmals verwendet und veröffentlicht, um die Massenvernichtung der Juden zu beschreiben, wurde der Begriff Sho’ah bereits Ende 1940 in einer Sammlung von Augenzeugenberichten jüdischer Ghettobewohner Warschaus. Auf einer bedeutenden Konferenz hebräisch schreibender Schriftsteller im Juli 1942 in Jerusalem überschrieb der neoromantische Dichter Shaul Tchernichovsky seinen Vortrag mit dem Titel ›Das Gesetz der schrecklichen Sho’ah, die über uns kommt‹. Auf einer weiteren Konferenz ebenfalls in Jerusalem im November 1942, an der u.a. vierhundert Rabbiner teilnahmen, »wurde proklamiert, dass die Sho’ah, die gegenwärtig die Juden Europas treffe, ohne Präzedenzfall in der jüdischen Geschichte sei.«54 Einer der ersten, der Sho’ah in historischer Perspektive benutzte, war der Historiker Ben Zion Dinur (Dinaburg).55 Er äußerte sich im Frühjahr 1943 dahingehend, dass die »Sho’ah eine Katastrophe sei, die die Einzigartigkeit der Geschichte des jüdischen Volkes unter den Nationen symbolisiere.«56 Eine Sammlung verschiedenster Texte, die zwischen 1943 und 1958 entstanden, dokumentiert beeindruckend den zunehmenden Gebrauch des Wortes Sho’ah in der hebräischen Schriftsprache zur Bezeichnung dessen, was heute mit Holocaust benannt wird.57

Im Unterschied zum Begriff ›Holocaust‹ jedoch machte der Begriff Sho’ah in der hebräischen Alltagssprache eine seinen dezidiert religiösen Kontext verlierende Transformation durch. »Semantisch blieb der Terminus Sho’ah nahe seiner Wurzeln im biblischen Sprach- und Symbolgebrauch, während seiner in den biblischen Wurzeln gründenden theologischen Bedeutung existenziell eine historische und persönliche Dimension hinzugefügt wurde«.58 Auf diese Weise ist der religiöse Kontext und Ursprung des Begriffs Sho’ah um ein gutes Stück mehr verdeckt, als es bei dem Begriff ›Holocaust‹ der Fall ist. Damit erscheint er flexibler und eventuell verwendbarer, unbefangen verwendbarer, um die Ermordung der Juden zu benennen. Allerdings gibt es auch Zweifel, ob nicht gerade durch den theologisch unbelasteten Alltagsgebrauch des Wortes Sho’ah im modernen Hebräisch die referentielle Qualität und Spezifik des Terminus als Alternativbegriff zu ›Holocaust‹ verloren gehen könne.59



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IV SCHLUSS

Steiners Reflexionen über den Zusammenhang von Sprache und Holocaust, insbesondere aber die Ausführungen zu den problematischen Implikationen der Begriffe »Holocaust« und »Shoah« illustrieren die scheinbare Vergeblichkeit aller Anstrengungen, das Unbenennbare zu benennen. Was bedeutet es, dass wir es offenbar mit einem Ereignis zu tun haben, dessen Wirklichkeit und Gehalt einerseits von einzigartiger und weltgeschichtlicher Bedeutung ist, andererseits wir aber nicht in der Lage sind, es zu benennen, »dass wir kein Wort haben, um das Verbrechen [angemessen] zu bezeichnen«?60

Die Sprache ist ein bewundernswert dynamisches, zu Wandlung und Weiterentwicklung fähiges System. Die Geschichte einer jeden Sprache stellt eindrucksvoll die Fähigkeit des menschlichen Geistes zum Sprachwandel und zur Wortneuschöpfung unter Beweis. Vielleicht war in der Geschichte der Menschheit nie zuvor in solchem Ausmaß der Zwang zu Wortneuschöpfungen gegeben, wie in den letzten zwei Jahrhunderten. Mit der Industriellen Revolution, der Entwicklung und Ausformung der modernen, technologischen Gesellschaft geht zugleich eine Fülle neuer Wortschöpfungen einher, die das jeweils neu Erfundene und Entdeckte bezeichnen. Der Mensch war nicht allein in der Lage, Elektrizität, Eisenbahn, Plastik, Raketen, Computer zu erfinden, sondern ebenso sie mit Name und Wort zu versehen. Wo immer der menschliche Geist sich hineinvertieft hat, fand er einen brauchbaren Weg der Verbalisierung. Kein (Sprach-) Bilderverbot und ebenso kein vermeintliches Schweigegebot hinderten ihn daran. Dass dies im Falle dessen, was wir ›Holocaust‹ oder wie auch immer zu nennen pflegen, stets unbefriedigend blieb und bleibt, könnte nachgerade als Beleg für Steiners These von der Beschädigung der Sprache selbst gedeutet werden. Offenbar will es dem ›menschlichen Geist‹ nicht gelingen, eine Sprache, ein ›Sprachbild‹ für ein Ereignis zu finden, das zugleich eines seiner ureigensten und jüngsten Produkte ist: das Königreich der Nacht, anus mundi, Shoah, der Holocaust.

Das Unbehagen an diesem Befund samt seiner impliziten Aporien und Paradoxien lässt sich nicht auflösen – es sei denn durch ein radikales (Sprach-)»Bilderverbot« bzw. »Schweigegebot«. Keinen Ausweg, aber eine tragfähige Perspektive, wie und in welchem Bewusstsein mit diesem Befund umzugehen ist, weist vielleicht Micha Brumlik. Er gab einst im Zusammenhang mit der Diskussion um eine ästhetische Darstellung des Holocaust in Form eines Mahnmals etwas zu bedenken, das meines Erachtens nahtlos auf die hier diskutierten Aspekte im Blick auf Sprache und Versprachlichung übertragbar ist: »Es ist eine Eigentümlichkeit des Gegenstandes, der Massenvernichtung, also eines moralisch nicht geheuren Verbrechens und eines unfassbaren, untröstlichen Leidens, dass keine Form, keine moralische Zwecksetzung und kein guter Wille ihm genügen können. Erst wenn man sich demütig darauf verständigt hat und bei seiner Kritik nicht die Illusion erzeugt, es könne doch noch eine Form gefunden werden, die diesem Einwand entgeht, erst dann lässt sich im Bewusstsein notwendigen Scheiterns über Pläne, Projekt und Konzepte handeln.«61


ANMERKUNGEN



1 Die nachfolgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf meinem Buch “Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz“, Gütersloh 1995 (vor allem Kap. 2 u. 3). In der hier vorliegenden Form erschien der Aufsatz erstmals in: Bettina Bannasch/Almuth Hammer (Hg.), Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentation der Shoah, Frankfurt/New York 2004.
2 Emil Fackenheim, To Mend the World: Foundations on Future Jewish Thought, New York 1982, S. 226. Sämtliche innerhalb dieses Beitrags wiedergegebenen, im Original englischsprachigen Zitate wurden von mir ins Deutsche übersetzt.
3 Emil Fackenheim, To Mend the World, S. 26.
4 Das Adorno’sche Diktum führt mitten in die Spannung von Sprache und Schweigen, Bilderverbot und Schweigegebot hinein. Wie kaum ein anderer hat Elie Wiesel diesen Zusammenhang oft und vielfach reflektiert: »Bevor ich schreibe, muss ich das Schweigen ertragen, dann bricht das Schweigen aus. Im Anfang war das Schweigen – keine Worte. Das Wort selbst ist ein Ausbruch. Das Wort selbst ist ein Akt der Gewalt; es bricht das Schweigen. Wir können dem Schweigen nicht ausweichen, wir müssen es auch nicht. Was wir tun können ist, die Worte mit Schweigen zu beladen. Wenn eine meiner Erzählungen nur aus Worten besteht, ohne Schweigen, dann ... veröffentliche ich es nicht. Das Unausgesprochene ist genauso wichtig wie das Ausgesprochene; das Gewicht des Schweigens ist notwendig. Über das Schweigen zu reden heißt, es zu reduzieren, aber in jedem Buch spreche ich vom Schweigen. Da sind Zonen des Schweigens, da sind Schatten des Schweigens. Schweigen hat seine eigene Archäologie, sein eigenes Gedächtnis, seine eigenen Farben: es ist dunkel und grau und lang und kurz und rauh und weich. Schweigen ist das Universum selbst«. Elie Wiesel, in: Irving Abrahamson (Hrsg.), Against Silence. The Voice and Vision of Elie Wiesel, Bd.. II, New York 1985, S.119.
5 Hans Keilson, Wohin die Sprache nicht reicht, in: Psyche 38 (1984), S. 919.
6 Raul Hilberg, I was not there, in: Berel Lang (Hrsg.), Writing and the Holocaust, New York 1988, S. 21; Hervorh. i. Orig. An anderer Stelle bemerkt Hilberg: »Wir verfügten über keine Sprache, mit der wir dieses beispiellose Ereignis hätten beschreiben können. ... Die unangemessene Terminologie, die uns zur Beschreibung dieses Ereignisses zur Verfügung stand, war die des 19. Jahrhunderts.« Raul Hilberg, Opening Remarks: The Discovery of the Holocaust, in: Petr Hayes (Hrsg.), Lessons and Legacies: The Meaning of the Holocaust in a Changing World, Evanston 1991, S.13.
7 Raul Hilberg, I was not there, S. 25.
8 George Steiner, Das hohle Wunder, in: Ders., Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt/M. 1969, S. 134.
9 George Steiner, Das hohle Wunder, S. 135.
10 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik: ein Versuch über die Shoah, in: Aktzente 34 (1987), H. 3, S.194.
11 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 194.
12 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 194.
13 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 194f.
14 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 195.
15 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 195.
16 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 196.
17 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 196.
18 George Steiner, Das hohle Wunder, S. 129f. Dieser Aufsatz, »Das hohle Wunder«; erregte zornigen Widerspruch in Deutschland. Die Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter« widmete der Debatte eine Sondernummer (Heft Nr. 6, 1963, mit Beiträgen von u.a.: Hilde Spiel, Hans Weigel, Marcel Reich-Ranicki, Peter Rühmkorff, Rudolf Krämer-Badoni), und die Gruppe 47, die bedeutendste Gruppierung deutscher Schriftsteller nach 1945, diskutierte bei ihrem Treffen im Frühjahr 1966 in den USA kontrovers und heftig über Steiners Thesen. Besonders feindselig, so Steiner, habe der akademische Berufsstand, »dem ich selber mit einem gewissen Unbehagen angehöre«, reagiert.
19 George Steiner, Das hohle Wunder, S. 135.
20 George Steiner, Das hohle Wunder, S. 137. »Wörter sind nicht unschuldig, können es nicht sein, sondern die Schuld der Sprecher wächst der Sprache selber zu, fleischt sich ihr gleichsam ein.« Dolf Sternberger, Vorbemerkung in: D. Sternberger/G. Storz/W. E. Süskind (Hrsg.), Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, 3. Aufl. 1968 (EA: 1945), S.12.
21 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 197f.
22 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 197.
23 George Steiner, Das lange Leben der Metaphorik, S. 198. Kritisch äußerte sich dazu Elie Wiesel: »Einer unserer brillanten Kollegen hat vorgeschlagen, die einzige Sprache, in der über dieses Ereignis zu schreiben möglich ist, sei Deutsch. Die Sprache der Mörder. Warum nicht die Sprache der Opfer? Was ist mit Yiddisch? Und was mit Hebräisch? Ist Hiob überflüssig geworden? Existiert Jeremiah nicht mehr? Wenn wir von Tragödie sprechen, mit welchen Worten tun wir das dann? Mit Jeremiahs Worten!« Elie Wiesel, Some Questions That Remain Open, in: Asher Cohen/Joav Gelber/Charlotte Wardi (Hrsg.), Comprehending the Holocaust: Historical and Literary Research, Frankfurt/Bern/New York/Paris 1988, S.17.
24 Hans Keilson, Wohin die Sprache nicht reicht, S. 925.
25 Soweit ich sehe, gibt es bisher nur drei außerordentlich verdienstvolle Aufsätze, die sich mit der Genese und dem Gebrauch des Wortes ›Holocaust‹ als der Bezeichnung für die Ermordung der Juden während des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen: Gerd Korman, The Holocaust in Historical Writing, in: Societas 2 (1971), S. 251-270; Uriel Tal, Excurses on the Term Shoah, in: Shoah 4 (1979), S. 10-11; und Zeev Garber/Bruce Zuckerman, Why do they call the Holocaust 'The Holocaust': An inquiry into the psychology of labels, in: Modern Judaism 9 (1989), H. 2, S. 197-211. Die Aufsätze von Tal und Korman sind im wesentlichen auch die Grundlage der Ausführungen von James E. Young, der darüber hinaus vor allem den Prozess der »Metaphorisierung« des Begriffs Holocaust untersucht; vgl. James Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/M. 1992, bes. S.139-163.
26 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 198.
27 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 199.
28 Paul Benzaquin, Holocaust!, New York 1959.
29 Der Begriff ›permanenter Pogrom‹ wurde erstmals 1941(!) von Jacob Lestschinsky im Blick auf die Vorgänge in Nazi-Deutschland benutzt und von ihm definiert als ein von einer Regierung organisiertes Pogrom, das »keine vorübergehenden oder begrenzten politische oder ökonomische Ziele kennt, sondern die Ausrottung, die physische Vernichtung der jüdischen Menschen« zum Inhalt hat. Jacob Lestschinsky, The Anti-Jewish Program: Tsarist Russia, Third Reich and Independant Poland, in: Jewish Social Studies 3 (1941), S.147f. Für weitere Nachweise der genannten Begriffe siehe: Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, 2. Auflage Gütersloh 1996, S. 102, Anm. 128.
30 Zur Entstehung, Bedeutung und Namensgebung von Yad Vashem siehe: Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben, S. 181-195.
31 Vgl.: Martyrs' and Heroes' Remembrance Authority, Yad Vashem 1955, S. 7, 9, 17 und 19.
32 Vgl.: James Young, Beschreiben des Holocaust, S.145; Gerd Korman, The Holocaust in Historical Writing. Nach meinen eigenen – bescheidenen – Recherchen dürfte eine der frühesten Verwendungen von ›Holocaust‹ in diesem Sinne außerhalb streng wissenschaftlicher Literatur in dem populär-wissenschaftlichen Werk eines Nicht-Juden über die Geschichte des American Jewish Joint Distribution Committee aus dem Jahre 1960 zu finden sein; siehe: Herbert Agar, The Saving Remnant. An Account of Jewish Survival, New York 1960 (Klappentext).
33 Vgl.: die Angaben bei Gerd Korman, The Holocaust in Historical Writing, S.260f.
34 Die unter diesem neuen Stichwort aufgelisteten Bücher und Artikel waren zuvor verteilt auf Stichworte wie ›Zweiter Weltkrieg‹ oder ›Geschichte der jüdischen Gemeinden‹; vgl. die Angaben bei Gerd Korman, The Holocaust in Historical Writing, S.261.
35 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 200.
36 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 200.
37 David Roskies, Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture, Cambridge 1984, S. 261.
38 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 202.
39 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 202. Insofern geht Jäckels Vermutung fehl, wenn er noch jüngst meinte, ein »Kenner der Bibel kann es eigentlich nicht gewesen sein, der diesen Begriff [Holocaust] auf den Mord an den Juden übertrug.« Eberhard Jäckel, Der Mord an den europäischen Juden und die Geschichte, in: Wolfgang Beck (Hrsg.), Die Juden in der europäischen Geschichte, München 1992, S.25. Das Kuriosum besteht eben darin, dass ein ausgewiesener Kenner der Bibel, der Elie Wiesel zweifellos ist, genau aufgrund seiner Kenntnis der Bibel diesen Terminus wählte! Dazu gleich mehr. Später allerdings bereute Wiesel diesen Schritt: »Ich muss Ihnen gestehen, dass ich leider derjenige war, der dieses Wort [Holocaust] in diesem Zusammenhang eingeführt hat, und ich bin nicht stolz darauf. Ich kann es nicht mehr länger benutzen.« Elie Wiesel, Some Questions That Remain Open, S.13.
40 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 202.
41 Vgl. hierzu auch die Angaben Wiesels in: Irving Abrahamson (Hrsg.), Against Silence, Bd. 1, S.185-190.
42 Garber/Zuckerman ermittelten in einer Untersuchung, die den Zeitraum von 1961-1985 umfasst, die Anzahl der Dissertationen in den USA, in deren Titel der Terminus Holocaust auftaucht. Vor 1970 waren keine entsprechenden Dissertationen verzeichnet. Zwischen 1970 und 1975 waren es 21, zwischen 1976 und 1980 fanden sie bereits 97 und zwischen 1981 und 1985 waren es schließlich 274 Dissertationen, die im Titel das Wort Holocaust führten; vgl.: Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S.210, Anm.14.
43 Elie Wiesel, in: Irving Abrahamson, Against Silence, Bd. 1, S. 385. Der biblisch-hebräische Begriff korban olah bedeutet Ganz- oder Brandopfer und liegt der lateinischen Übersetzung als holocaustum zugrunde. Zahlreiche gleichlautende Äußerungen Elie Wiesels findet man u.a. in Aufsätzen Elie Wiesels der Jahre 1965, 1970 und 1971, die alle nachzulesen sind in: Irving Abrahamson, Against Silence, Bd.1, bes. S.243-244 u. S.271-275, Bd. 2, bes. S.3-8. Abrahamson selbst kommentiert: »Die Akedah geht dem Holocaust voraus, aber für Wiesel ist der Holocaust schon in der Akedah präfiguriert.« Irving Abrahamson, Against Silence, Bd. 1, S.40).
44 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 203.
45 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 203f.
46 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 204.
47 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 204.
48 Elie Wiesel, in: Irving Abrahamson, Against Silence, Bd. 1, S. 385.
49 Garber/Zuckerman, Why do they call the Holocaust, S. 206.
50 Vgl.: Uriel Tal, Excurses on the Term Shoah, S. 10-11; die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf diesem Aufsatz. Tals Aufsatz erschien im ersten Jahrgang der Zeitschrift ›Shoah‹, die trotz ihrer erstklassigen Beträge nur wenig verbreitet war und bereits mit dem 4. Jahrgang ihr Erscheinen einstellte. Dies mag die geringe Beachtung des Tal’schen Artikels erklären. Als ich im Herbst 1991 in der zentralen Bibliothek der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem, die von sich behauptet, alle über das Thema Holocaust handelnden Zeitschriften zu archivieren, nach den Ausgaben eben dieser Zeitschrift ›Shoah‹ fragte, stellte sich zur Verblüffung der Bibliotheksleitung heraus, dass man von der Existenz dieses Journals keine Kenntnis hatte.
51 z.b. Jes. 6,11; 10,3; Zeph. 1,15; Hiob 30,3; 30,14; 38,27; Ps. 35,8; 63,10.
52 Uriel Tal, Excurses on the Term Shoah, S. 11.
53 Zur jüdisch-biblischen Vorstellung von Sünde, Strafe und Vergeltung (mipnej chata'neu – unserer Sünden wegen geschah...) sieh ausführlich: Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben, S. 202-210.
54 Uriel Tal, Excurses on the Term Shoah, S. 10.
55 Ben Zion Dinur war nach der Gründung Israels Minister für Erziehung und Kultur und war maßgeblich beteiligt an der Gestaltung des Gesetzes zur Gründung Yad Vashems, dessen erster Direktor er auch wurde; vgl. Gerd Korman, The Holocaust in Historical Writing, S.260, Anm.21.
56 Uriel Tal, Excurses on the Term Shoah, S. 10; siehe auch: Ben Zion Dinur, From Hatred to Extermination. Seven Lectures at the Second World Congress, History of the Jewish People, 4. August 1957, Yad Vashem 1959, S.14-45.
57 Fishl Shneerson, Psycho-History of Sho'ah and Rebirth, hrsg. von Eliezer Tur Shalom, Tel Aviv 1958; dieser Beitrag behandelt u.a. ausführlich die religiösen Traditionen und Konnotationen, die mit dem Begriff Shoah verbunden sind.
58 Uriel Tal, Excurses on the Term Shoah, S. 11.
59 In einem persönlichen Gespräch mit Historiker Yaakov Lozowick, einst pädagogischer Leiter der Seminare für Ausländer und ehemaliger Archivdirektor von Yad Vashem/Jersusalem, äußerte dieser ein gewisses Unbehagen am Gebrauch des Terminus ›Shoah‹. Er verwies darauf, ›Shoah‹ sei tatsächlich ein vielbenutztes Wort der hebräischen Alltagssprache, das eben auch in vergleichsweise banalen Zusammenhängen selbstverständliche Anwendung finde. Verschütte beispielsweise ein Kind ein Glas Milch, habe man einen wichtigen Termin verpasst, oder einen Autounfall erlitten, so sei dies immer eben auch eine ›Shoah‹, eine Katastrophe.
60 Jürgen Seim, Notizen zur Deutbarkeit des Holocaust, in: Evangelische Theologie 48 (1988), S. 447.
61 Micha Brumlik, Paradoxie aller Ästhetik, in: Ute Heimrod/Günter Schlusche/Horst Seferens (Hrsg.), Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1999, S. 510.


Der Autor

CHRISTOPH MÜNZ


Dr., Jhg. 1961. Historiker u. Germanist; arbeitet als Freier Journalist und Herausgeber, Übersetzer und Publizist.


Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zum Antisemitismus, Holocaust sowie zur jüdischen Geschichte und Religion allgemein;
Herausgeber des Newsletters "COMPASS-Infodienst für christlich-jüdische und deutsch-israelische Tagesthemen im Web"; Chefredakteur der sechssprachigen, im Internet erscheinenden Artikelseiten des Internationalen Rates der Christen und Juden (ICCJ) www.jcrelations.net


Vorstandsmitglied des Deutschen KoordinierungsRates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR; Dachverband der 'Gesellschaften' in Deutschland); Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK).


Kontakt zum Autor:
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