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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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ONLINE-EXTRA Nr. 296

Dezember 2019

Israel: Sehnsuchtsraum, Heimat und Heiliges Land für Juden und Jüdinnen - und zugleich vermintes Gelände, blutgetränkter Boden, umstrittenes Gebiet, buchstäblich und im übertragenen Sinne. Denn Israel, dieser kleine Landstrich kaum größer als das Bundesland Hessen, steht zugleich im umkämpften Brennpunkt politischer, ökonomischer und kultureller Interessen. Nicht zuletzt spielen dabei auch die Religionen eine wichtige Rolle, denn Israel - und in besonderem Maße noch dazu die Stadt Jerusalem - sind auch für Islam und Christentum von zentraler religiöser Bedeutung. Was als gemeinsames Zentrum von Austausch und Begegnung, als Motor eines religionsübergreifenden Friedens, als einendes Symbol von Versöhnung und Verständigung dienen könnte ist auch und gerade im Konzert der drei Weltreligionen nicht selten zum Paradebeispiel divergierender, schier unüberwindlicher Grenzen und Mauern zwischen den Menschen und Religionen geworden. Grund genug sich mit der religiösen und theologischen Bedeutung des Landes in und zwischen den Religionen zu beschäftigen.

Genau dies tut auf vorbildliche Weise, mit einem breiten Themenspektrum und großer Komepetenz die Ausgabe 1/2019 der "Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext" (ZfBeg), die sich dem Thema "Israel. Heiliges Land - für wen?!" widmet. Einer der vielen lesenswerten Beiträge stammt aus der Feder des schweizer Jesuiten Christian Rutishauser, der zu einem der interresantesten und wichtigsten theologischen Persönlichkeiten im christlich-jüdischen Dialog der Gegenwart gehört. Er setzt sich in seinem Beitrag vor allem mit der Bedeutung Israels für das Christentum auseinander: "Eretz Israel – Ein Land, das Christen heilig ist". In seinen eigenen Worten skizziert er die Schritte seines Nachdenkens wie folgt:

"Zunächst soll die Darstellung des Landes in der Hebräischen Bibel skizziert werden (1). Danach werden einige jüdisch-theologische Überlegungen aufgenommen, die angesichts des Nahostkonflikts Land und Staat Israel so bedenken, dass sie mit nicht-jüdischen Positionen vereinbar sind (2). Die christliche Neuinterpretation der Landverheißung des Alten Testaments und das Verständnis des Landes als Heiliges Land gilt es dann darzulegen (3). Im vierten Abschnitt sollen christlich-theologische Stimmen zu Wort kommen, die den Zionismus und die Errichtung des Staates Israel deuten (4). Schliesslich werde ich vorschlagen, Land und Staat Israel im Kontext einer Theologie des Judentums zu verstehen (5)."

COMPASS dankt der Redaktion der "Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext" herzlichst für die Genehmigung der Wiedergabe des Beitrages von Christian Rutishauser, der heute als ONLINE-EXTRA Nr. 296 erscheint: "Eretz Israel - Ein Land, das Christen heilig ist".

© 2019 Copyright bei Autor, Redaktion
u. Verlag der ZfBeg
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 296


Eretz Israel – Ein Land, das Christen heilig ist

CHRISTIAN M. RUTISHAUSER SJ


Der Konflikt um Israel/Palästina erhitzt säkulare wie religiöse Gemüter. Persönlicher Glaube, kollektiv-religiöse Identität, europäische Geschichte sowie kulturell-gesellschaftliche und politische Entwicklungen greifen in einer unentwirrbaren Gemengelage ineinander. Sachliche Argumentation und grundlegende Reflexionen aber sind notwendig, um den zwei Ethnien und drei Glaubenstraditionen zwischen Jordan und Mittelmeer den je angemessenen Raum zuzusprechen und der globalen Bedeutung des Landes Rechnung zu tragen.

Um Entwirrung zu ermöglichen, müssen politische, gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Bereiche unterschieden werden. Zugleich bedarf es der Fähigkeit, sie angemessen miteinander in Beziehung zu setzen. Das Ziel ist, allen Betroffenen so weit gerecht zu werden, dass sie in diesem Land, das zum »Haus des Islam« gehört, den Christen heilig ist und für Juden Heimstätte vor Gott darstellt, eine Zukunft haben. Diese Zukunft aber wird kaum so aussehen, wie die meisten sie sich erhoffen, denn alle Parteien werden aneinander gebunden.

Die folgenden Ausführungen sind nur ein bescheidener Beitrag zur Frage, welche Bedeutung der Landverheißung der Hebräischen Bibel heute zukommt. Die Rückkehr so zahlreicher Juden nach Eretz Israel seit Ende des 19. Jahrhunderts und die Errichtung des Staates Israel rufen auch Christen dazu auf, die Landfrage in der Bibel neu zu bedenken. Dabei schreibe ich als römisch-katholischer Theologe aus Europa, der sich dem jüdisch-christlichen Dialog verpflichtet weiß.

In diesem Kontext weist die Kirche allem vo - ran die Substitutionstheologie zurück, die besagt, die Kirche habe als verus Israel das Judentum als Volk Gottes abgelöst. Mit dem Ablehnen dieser Lehrmeinung anerkennt die Kirche den »ungekündigten Bund« Gottes mit dem jüdischen Volk. Entsprechend muss sie sich auch mit der engen Bindung des Judentums an Eretz Israel befassen. Zugleich weiß sich die Kirche den palästinensischen Christen aller Konfessionen durch die Taufe verbunden, schaut mit Wertschätzung auf die geistlich-theologische Tradition des Islam und sorgt sich um ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen.

In dieser Tradition zielt mein Aufsatz über die aktuelle Tagespolitik im Nahostkonflikt hinaus. Er ist jedoch im Bewusstsein der großen politischen Entscheidungen im Land und der zivilgesellschaftlichen Realität daselbst, an der so viele Menschen leiden, geschrieben.

Zunächst soll die Darstellung des Landes in der Hebräischen Bibel skizziert werden (1). Danach werden einige jüdisch-theologische Überlegungen aufgenommen, die angesichts des Nahostkonflikts Land und Staat Israel so bedenken, dass sie mit nicht-jüdischen Positionen vereinbar sind (2). Die christliche Neuinterpretation der Landverheißung des Alten Testaments und das Verständnis des Landes als Heiliges Land gilt es dann darzulegen (3). Im vierten Abschnitt sollen christlich-theologische Stimmen zu Wort kommen, die den Zionismus und die Errichtung des Staates Israel deuten (4). Schliesslich werde ich vorschlagen, Land und Staat Israel im Kontext einer Theologie des Judentums zu verstehen (5).

1) Die Landverheißung in der Hebräischen Bibel


Wie die Umstände zur Zeit der nomadisierenden Erzväter und Erzmütter auch gewesen sein mö gen und wie auch immer der Exodus historisch rekonstruiert wird, der für den Glauben normative Torahtext spricht von einer Landverheißung an Abraham und Jakob (Gen 12,1; 15,18; 17,8; 28,13ff). Sie ziehen in das Land, das Gott ihnen zeigt, obwohl klar ist, dass das Land bereits bevölkert ist. Doch sowohl Abraham als auch Jakob und seine Söhne müssen das Land wieder verlassen (Gen 12,10-20; Gen 37-50). Mit seinem ersten Landkauf erwirbt Abraham lediglich ein Stück Boden für Saras Grab (Gen 23). Davor gibt es im Land keine feste Bleibe. Auch das Volk der Israeliten entsteht in Ägypten (Ex 1,1-7). Die Landverheißung beginnt sich mit dem Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten zu erfüllen: Dem Weg Abrahams ins Land entspricht der über vierzig Jahre dauernde Exodus durch die Wüste zum verheißenen Land. Vier der fünf Bücher der Torah beschreiben diesen Weg, auf dem die Israeliten lernen, ein Volk zu sein, das seine Kultur nicht wie die Ägypter auf Ausbeutung und Unrecht aufbaut, sondern gemäß der gerechten Weisung Gottes. Es soll Volk Gottes werden. Doch auch hier: Das Volk findet wegen seiner Unbelehrbarkeit samt seinem Führer Moses das Grab vor dem Einzug ins Land (Dtn 1,34ff; 34,1-8). Erst im Buch Josua, also in einem Buch, das gemäß jüdischer Lesart zu den frühen Propheten gehört, wird der Einzug ins Land beschrieben. Die schriftliche Torah aber, die im Zentrum des Bundes zwischen Gott und seinem Volk steht, beschreibt nur den Weg auf das Land zu.

Das Sich-im-Land-Niederlassen ist im Buch Josua als eine gewaltvolle Eroberung beschrieben, die punktuell auch die Vernichtung der einheimischen Bevölkerung legitimiert (Jos 6f), in derselben Radikalität, wie unter den Israeliten selbst Abweichler ausgemerzt werden (Num 16). Die politische Organisation der Gesellschaft im Land variiert im Verlaufe der Geschichte dann beträchtlich: Auf den lockeren Stämmebund in der Zeit der sogenannten Richter folgt die Einführung der Monarchie, die in den Büchern Samuel insofern kritisch dargestellt wird, als sie einerseits die Souveränität Gottes und seiner Gebote gefährden und konkurrenzieren könnte. Anderseits stellt die Monarchie eine Angleichung an andere Völker wie zum Beispiel Ägypten dar (1 Sam 8). Eine auf Ungerechtigkeit und Machthierarchien basierende Gesellschaft aber sollte der Exodus gerade überwinden. Die Alternative, wirklich Volk Gottes zu sein, steht auf dem Spiel. David und Salomo werden jedoch die idealtypischen Könige. Auf die Zerstörung der beiden Königreiche Israel und Juda im Jahre 722 bzw. 586 v. Chr. folgt die Zeit der Vertreibung aus dem Land. Nach dem babylonischen Exil ist die politische Unabhängigkeit des Volkes zunächst nicht gegeben, bis sich im Hasmonäerstaat (167 – 63 v. Chr.) eine priesterlichtheokratische Regierung durchsetzt. Danach ist das jüdische Volk unter römischer Herrschaft, bis 70 n. Chr. Jerusalem zerstört und 137 n. Chr. das Volk aus Judäa vertrieben wird.

Der kurze Überblick zeigt, dass die politische Souveränität des Volkes im Land oft nur von kurzer Dauer war. Zudem ging die Bewegung »aus dem Land« und »zurück ins Land« unentwegt weiter. In der Torah, die gemäss historischer Forschung ihre Form gerade angesichts der Diasporaerfahrung in Babylonien gefunden hat, wurden Bedingungen formuliert, die für das Wohnen im Land gelten. Vier Aspekte dieser biblischen Landtheologie sind zentral:


1 Beim Einzug ins Land wird klar, dass es bereits eine einheimische Bevölkerung gibt (Dtn 4; 7). Das Volk Israel ist nicht eine indigene Bevölkerung.
2 Die Israeliten erhalten das Land als Leihgabe vom eigentlichen Besitzer, nämlich Gott selbst (Dtn 9,4f).
3 Die Gabe des Landes ist Grundlage für eine alternative Gesellschaft, die aus der Torah in Gerechtigkeit auch für den Fremden lebt (Dtn 7; 8).
4 Die Israeliten haben kein Bleiberecht im Land. Wenn sie ihrem Auftrag nicht nachkommen, werden sie vertrieben (Lev 18, 24-30). Das Leben in der Diaspora wird als Strafe Gottes gedeutet, die Rückkehr als Versöhnung. Bereits bei den Propheten verbindet sich die Rückkehr ins Land mit messianischer Hoffnung: Gott selbst wird das Volk aus der Zerstreuung zurückführen (Ez 37,21f; Jer 237f; etc.). Jerusalems Zerstörung und Wiederaufbau, die Vertreibung aus Jerusalem und die Rückkehr in die Stadt werden stets als Strafe, Vergebung und erneute Treue Gottes zu seinem Volk verstanden.

Zusammenfassung
1 Der Gott der Bibel ist so »verrückt«, dass er ein Volk in ein Land führt, wo es bereits eine Bevölkerung gibt.
2 Biblische Landtheologie ist keine Blut-und- Boden-Theologie. Es geht nicht um natürliches Existenzrecht. Das Land ist für ein ethisches Projekt gegeben. Gott verheißt das Land nicht nur, er vertreibt auch aus dem Land.
3 Es gibt keine Theologie des Landes ohne eine Theologie der Diaspora. Die Bewegung zwischen beiden Orten, nicht nur das Wohnen an ihnen, ist von Bedeutung.
4 Die Landverheißung ist unabhängig von einer bestimmten politischen Form, in der sich das Volk Gottes im Land organisiert. In jeder politischen Organisationsform bleibt Gott ultimativer Souverän.



ZfBeg
Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext





Heft Nr. 1 - 2019
Israel . Heiliges Land - für wen?!



Reinhold Boschki
Julia Münch-Wirtz
Wilhelm Schwendemann

Verantwortliche Schriftleitung

Ulrich Ruh
Redaktion

in Kooperation mit
Daniel Krochmalnik

Das vollständige Inhaltsverzeichnis dieses Heftes können Sie hier einsehen:
Inhalt

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2) Jüdisch-theologische Interpreten des Landes

Das Judentum wird zu Recht zu den großen Weltreligionen gezählt, erhebt es doch universalen Wahrheitsanspruch. Es hat sich auf der ganzen Welt verbreitet und ermöglicht in jeder Epoche einen ganzheitlichen religiösen Lebensvollzug. Dabei ist das Land Israel immer ein geistiger Bezugspunkt geblieben. Die Sehnsucht, aber auch das Gebot, in Eretz Israel zu leben, hat immer wieder Juden dazu gebracht, ins Land zurückzukehren, eine sogenannte Alija zu machen.

Die Diaspora, hebräisch Galut, und das Land bilden zwei Pole im jüdischen Denken und Glauben, die aufeinander bezogen sind. Eine nur positive Bewertung des Landes und eine negative der Diaspora wäre aber zu einfach, denn jüdische Existenz gründet im Leben aus der Torah, während die Rückkehr ins Land im traditionell-rabbinischen Denken der messianischen Endzeit überlassen wurde. Es ist denn auch kein Zufall, dass die großen jüdischen Kulturleistungen in der Galut hervorgebracht wurden. Man denke an die jüdische Philosophie und Mystik, die großen Gesetzessammlungen wie auch an den Babylonischen Talmud. Sogar die Hebräische Bibel selbst ist im Zusammenhang mit dem babylonischen Exil entstanden und darf mit den Worten von Heinrich Heine als »portatives Vaterland« der Juden bezeichnet werden.1

Das Leben außerhalb von Eretz Israel wird dann mit dem prophetischen Auftrag, Licht für die Völker zu sein, ihnen Recht und Gerechtigkeit vorzuleben wie auch den Glauben an den Gott Israels zu bringen, positiv bestimmt. Von Jesaja (Jes 42,6; 49,6) bis in die Gegenwart hinein wird auf diese Weise die universale Bedeutung des Judentums beschrieben.

Alija zu machen, also ins Land zurückzukehren und im Land zu wohnen, wird unterschiedlich begründet: Die Sammlung des Volkes im Land wird seit biblischer Zeit, wie wir gesehen haben, als messianisches Zeichen gedeutet. Auch wenn der moderne Zionismus zunächst eine säkulare Bewegung war, um den Juden eine nationale Heimstätte zu schaffen, so wird er spätestens seit dem Sechstagekrieg 1967 auch religiös verstanden. Der Vater des messianisch interpretierten Zionismus ist der Oberrabbiner der vorstaatlichen jüdischen Gemeinschaft in Eretz Israel, Rabbiner Abraham Isaak Kook, verstorben 1935.

Heute wird die Siedlerbewegung in der Westbank von einer endzeitlich-messianischen Theologie getragen.2 Sie stellt fest, dass der völkerrechtlich anerkannte Staat Israel sich am Rande des biblisch verheißenen Landes etabliert hat, gleichsam ante portas. Kerngebiete von Eretz Israel sind aber eindeutig Samarien, Judäa und Jerusalem, also seit 1967 besetzte Gebiete.

Eine andere theologische Begründung für das Leben im Staat Israel besteht darin, im Land möglichst umfassend alle Gebote der Torah leben und auch eine jüdische Gesellschaft bilden zu können. So argumentierte Jeschajahu Leibowitz, der bis zu seinem Tod 1994 in Jerusalem lebte, die israelische Politik aber oft scharf kritisierte. Ebenso Rabbiner Joseph B. Soloveitchik, der in den USA lebte und es ausschlug, Oberrabbiner im Staat Israel zu werden. Er war einst Ehrenpräsident der religiös-zionistischen Bewegung Mizrachi. In diesem Zusammenhang ist auch der Kulturzionismus zu nennen, dem es um die Entfaltung der hebräischen Sprache und Kultur im biblischen Land ging. Neben Simon Dubnov und Achad Haam war Martin Buber einer seiner großen Vertreter. Buber war vom religiösen Sozialismus geprägt und zielte auf einen hebräischen Humanismus ab, der dem jüdischen Volk in Eretz Israel erneuerte Identität geben sollte.3 Dass dieses Ideal angesichts des schwierigen politischen Zusammenlebens mit den Arabern im Land umgesetzt werden muss, thematisierte Buber immer wieder. Seine Schriften zur jüdisch-arabischen Koexistenz sind heute leider kaum relevant. Dieser humanistische Kulturzionismus wäre jedoch eine Alternative zum national-religiösen Zionismus, der immer stärker die jüdische Identität auf Kosten der palästinensischen, christlichen wie muslimischen Bevölkerung durchsetzen will.

Heute suchen andere theologische Denker, wie zum Beispiel der in Toronto lebende David Meyer, Zugänge zum Land, die mit palästinensischer Präsenz vereinbar sind. Er spricht davon, dass der Zugang zu Eretz Israel gefunden werden müsse.4 Er spricht von einer »Rabbinisierung« des Landes und versteht darunter, wie der heilige Torahtext zu verstehen sei: Die Mehrdeutigkeit des Landes müsse ins Bewusstsein rücken, sein positiver Bezug zur Diaspora, seine Heiligkeit, die dem politischen Machtkalkül entzogen sei etc.

Ohne hier jüdisch-theologische Positionen zum Land weiter vorstellen zu können, möchte ich den Christen empfehlen, sich in die vielfältigen jüdisch-theologischen Zugänge zum Land zu vertiefen.5 Sonst ist die Gefahr groß, Land und Staat Israel entweder nur säkular oder aber religiös fundamentalistisch zu verstehen.

3) Das Heilige Land der Christen

Die Christen haben die Hebräische Bibel als Altes Testament zur eigenen Offenbarungsschrift gemacht und dabei die Landverheißung mit Josuas Eroberung des Landes als erfüllt interpretiert. Auch für dessen Namensvetter Jesus aus Nazareth hat das Land eine Bedeutung, sammelt er doch von den Rändern her, von Galiläa her, mit seiner Bewegung das Volk. Er führt es zur Mitte, nach Jerusalem. Allerdings ist für diesen neuen Josua gerade die Gewaltlosigkeit das Markenzeichen für den Zugang zu Eretz Israel: »Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben.« (Mt 5,5). Gemäß der Kindheitsgeschichte des Matthäusevangeliums wird Jesus zudem wie einst die Israeliten aus Ägypten ins Land geführt (Mt 2,13-23).

Im Grundduktus stellt das Neue Testament jedoch nicht eine Bewegung ins Land dar. Im Gegenteil, es geht vom Land weg: »Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern«, lautet der Missionsauftrag des Auferstandenen (Mt 28,19). In der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen wird die Ausbreitung des frühen Christentums außerhalb des Landes nachgezeichnet. Dabei bleibt aber eine Rückbindung ans Land und an Jerusalem, wenn die Paulusgemeinden in Kleinasien Geld sammeln (Apg 11,27-30; 2 Kor 8f). In Dankbarkeit wird die Verbindung zu Jerusalem aufrechterhalten, von wo aus, wie mit der Völkerwallfahrt in Jes 2 und Mi 4 skizziert, Gottes Weisung zu allen Völkern gebracht wird: »Das Heil kommt von den Juden.« (Joh 4,22).

Das Land, wo in der Nachfolge Christi gemäß der göttlichen Weisung gelebt wird, ist nun die ganze Erde. Davon zeugt Paulus – in dessen zahlreichen Rückgriffen auf Abraham als dem Garanten des Bundes, der durch Christus für alle Menschen geöffnet wird (Röm 4), fehlt die Landverheißung, wie auch bei seiner Aufzählung der Privilegien der Erwählung der Israeliten (2 Kor 11, 21ff). Das Ziel des christlichen Weges ist nun nicht mehr das irdische, sondern das himmlische Jerusalem. Seine Darstellung ist der Fluchtpunkt des Neuen Testaments in Off 21f. Paulus schreibt: »Unsere Heimat ist in den Himmeln.« (Phil 3,20).

So kann für das frühe Christentum ein Doppeltes gesagt werden: Einerseits lösen sich die Po le »im Land« und »in der Diaspora« auf. Gott kann überall auf der Welt angebetet werden und will in »Geist und Wahrheit« angebetet sein (Joh 4,19- 24). Justin der Märtyrer formuliert dies zum Beispiel explizit.6 Anderseits wird das Land auf den Himmel und die menschliche Seele hin spiritualisiert. Origenes schreibt: »Eine heilige Stätte suche ich nicht auf Erden, sondern im Herzen… Die heilige Stätte ist die reine Seele.«7

Als das Christentum im 4. Jahrhundert zur staatstragenden Religion im römischen Reich und die Erwartung einer geschichtlichen Endzeit endgültig fallengelassen wird, entsteht ein neues Interesse am Land der Bibel. Doch den Christen geht es nicht mehr um die Landverheißung. Auch wollen sie nicht im Land wohnen; das ist kein Gebot mehr für sie. Vielmehr wird das Land in historischer Rückbesinnung Erinnerungsort an das Heilswirken Gottes. Es wird für die Christen zum Heiligen Land, weil Gott, der Heilige, da gewirkt hat und weil sein Sohn, Jesus Christus, da einst lebte. Das Land wird im Konzept der Heilsgeschichte ein sakramentaler Verweis auf Gottes Handeln.

Nun werden im Land einzelne heilige Stätten und Pilgerorte aufgrund von biblischen Texten identifiziert. Schon Egeria lässt sich von der lokalen Bevölkerung auf ihrer Pilgerreise zwischen 381 und 384 n. Chr. zeigen, wo die biblischen Ereignisse stattgefunden haben. Im Felde liest sie den Bibeltext dazu, betet und markiert den Ort. Die großen Konzilien von Nizäa, Konstantinopel, Chalcedon und Ephesus im 4. und 5. Jahrhundert wiederum führen dazu, dass im Land Gedächtniskirchen errichtet werden, damit der neu formulierte Glaube gefeiert werden kann.8 Die Stätten und über sie hinaus das ganze Land erhalten mehr und mehr eine liturgisch-sakrale Funktion.

Das neue Verständnis vom Heiligen Land und seiner Spiritualisierung bringt drei Entsprechungen hervor, die das Christentum überall auf der Welt prägen:

1 Dort wo Märtyrer in der Nachfolge Jesu gestorben sind, werden überall auf der Welt über ihren Gräbern Gedenkkirchen errichtet. Sie entsprechen der prächtigen Grabes- und Auferstehungskirche am Ort von Jesu Tod und Auferstehung in Jerusalem.

2 Die Pilger aus dem Heiligen Land bringen nun Erinnerungsgegenstände mit nach Hause, al - len voran Reliquien aus dem Umfeld von Jesu Hinrichtung und die Knochen der Apostel. Reliquien aber sind mobile Erinnerungsgegenstände und ermöglichen es, überall auf der Welt für sie Altäre und Kirchen zu errichten. Sie entsprechen den heiligen Stätten im Heiligen Land. Vom Mittelalter an lassen Jerusalempilger das Grab Jesu nach ihrer Heimkehr in Europa an verschiedenen Orten nachbauen. So breitet sich das Heilige Land über Kirchenund Gedenkbauten überallhin aus.

3 Auch das himmlische Jerusalem erhält in den gotischen Kathedralen mit ihren farbigen Glasfenstern und ihren Leuchtern, welche die himmlische Stadt mit den zwölf Toren darstellen, räumliche Entsprechung. Der gotische Kirchenbau ließ sich von Off 21f inspirieren. Die Sehnsucht der mittelalterlichen Christenheit nach der himmlischen Heimat und nach dem Heiligen Land stellt denn auch einen Motivationsstrang für die Kreuzzüge dar. Die heiligen Stätten sollten in diesem Krieg für die Pilger wieder zugänglich gemacht werden.

4) Christliche Stimmen zu Land und Staat Israel heute

Als sich Theodor Herzl 1904 an Papst Pius X. wandte und um Unterstützung für den politischen Zionismus bat, antwortete ihm dieser: »Wir können nicht verhindern, dass die Juden nach Jerusalem gehen, doch wir werden es nie gutheißen.«9 Erst nach der Schoah fand ein Umdenken statt. Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt mit Nostra Aetate eine grundsätzlich positive Verhältnisbestimmung zum Judentum ein. 50 Jahre später spricht die Kirche sogar explizit von einer einmaligen jüdisch- christlichen Beziehung. Die Landfrage und die Stellung zum Staat Israel ist in diesem Rahmen zunächst aber kaum ein Thema. Erst 1993 nimmt der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen mit dem Staat Israel auf, wobei die Beziehungen auf politischer und völkerrechtlicher Ebene laufen. Auch wenn in der Präambel des Grundlagenvertrags vom einmaligen Charakter und der universalen Bedeutung des Landes gesprochen wird, schweigt sich der Vatikan über eine theologische Reflexion zu Land und Staat Israel bis heute aus. Er fordert, wie alle christlichen Theologen der großen Kirchen in Europa, Gerechtigkeit und Frieden für Israeli und Palästinenser, den Schutz der heiligen Stätten, die Entfaltung der lokalen Kirche und ihrer Institutionen, aber auch die Freiheit der Religionspraxis für Christen, Juden und Muslime im Land. Im Jahr 2000 hat der Heilige Stuhl offiziell Kontakt mit der palästinensischen Autonomiebehörde aufgenommen und spricht sich bis heute für eine Zweistaatenlösung aus. Seit Johannes Paul II. hat zudem jeder Papst sowohl Israel wie auch die palästinensischen Gebiete besucht.10

Sucht man nach einer theologischen Reflexion über die Rückkehr so vieler Juden nach Eretz Israel und über die Existenz des Staates Israel, sticht einem eine Erklärung der französischen Bischofskonferenz von 1973 ins Auge. Sie nennt die Rückkehr einen »Segen« und bringt den Zionismus mit den Wegen der Gerechtigkeit Gottes in Verbindung. Etwas distanzierter schreiben die US-Bischöfe 1975 von der besonders engen Bindung der Juden an ihr Land, die es zu respektieren gelte. 1984 äussert sich Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Redemptionis Anno zu Jerusalem und zum Land: Das Land sei sakramentales Bild des Heils, wobei muslimische, christliche und jüdische Interpretationen des Landes berücksichtigt werden müssten, damit Friede und Gerechtigkeit für alle Einzug hielten. Über den Zionismus äußert er sich nicht. Die päpstliche Bibelkommission wiederum skizziert 2001 in Das jüdische Volk und seine Schriften in der christlichen Bibel nicht nur die biblische Landtheologie nach, sondern verweist auch auf die Eroberung des Landes, wie sie im Buch Josua dargestellt wird; sie dürfe nicht nachgeahmt werden. Dies bezieht sich im Besonderen auf den sogenannten Bann, gemäss dem Josua alles Nicht-Israelitische im Land zerstören musste (Nr. 56f).

Einzelne Theologen der römisch-katholischen Kirche äußern sich nur selten zu Land und Staat Israel, selbst jene, die intensiv am jüdisch-christlichen Dialog beteiligt sind. Für Franz Mussner war die Errichtung des Staates Israel ein »Zeichen der Hoffnung«.11 Jacques Maritain schrieb, dieser sei zwar ein Staat wie jeder andere, zugleich aber auch »Zeichen für die unwiderrufliche Verheißung Gottes an sein Volk Israel«.12 Johannes Österreicher, der an der Entstehung von Nostra Aetate mitbeteiligt war, sah 1963 den Staat Israel als ein »Fanal von Gottes Bundestreue«.13 Und Daniel Rufeisen kämpfte als getaufter Jude und Karmelitermönch 1962 um die israelische Staatbürgerschaft aufgrund des zionistischen Rückkehrgesetzes. Er deutete die Existenz der hebräisch-katholischen Gemeinden im Land als ein Wiedererstehen des Judenchristentums.

In der evangelischen Theologie Europas wurde der Zionismus zu einem wichtigeren Thema, zumal in Deutschland die Verirrungen der Theologie unter dem Einfluss des Nationalsozialismus aufgearbeitet werden mussten. War für Karl Barth das Judentum zuerst ein »Spiegel des Gerichts« neben der Kirche, die ihm »Spiegel des Erbarmens « war,14 so nannte er später den jungen Staat Israel »Zeichen der Erwählung und providentieller Gnade und Treue Gottes zum Samen Abrahams «.15 Berthold Kappert, Jürgen Moltmann, Peter von Osten-Sacken, Friedrich Wilhelm Marquardt seien dann beispielhaft für diejenigen Theologen genannt, die alle in der Linie von Karl Barth von der Treue Gottes gegenüber dem politisch organisierten Judentum in Eretz Israel sprechen. Helmut Gollwitzer sieht im Gespräch mit Rolf Rendtorff zudem die biblische Landverheißung hinter der Errichtung des Staates Israel wirkmächtig.16 Eine messianische Deutung der Alija der Juden lehnt er aber ab, nennt den kolonialistischen Nationalstaat Israel eine Fehlform und verweist auf das Unrecht, das den Palästinensern bei dessen Errichtung angetan wurde. Dass Palästinenser und jüdische Israeli nun nebeneinander im Land leben, ist für ihn eine Fügung und Aufgabe Gottes.

Diesen ausgewogenen Positionen, die immer auch den gesamten Nahostkonflikt im Blick haben, stehen im evangelischen Lager zwei Extreme gegenüber: Einerseits die palästinensische Befreiungstheologie, die jede theologische Bedeutung des zionistischen Projekts ablehnt. Sie pocht mit theologischen Argumenten allein auf soziale und politische Gerechtigkeit im Land, so wie dies auch in jedem anderen Konflikt auf der Erde getan wird. Zu ihren Vertretern gehören Mitri Raheb, Naim Stifan Ateek, aber auch das sogenannte »Kairos-Dokument«. Diese Position muss die Bedeutung der biblischen Landverheißung an die Israeliten für heute ganz leugnen. Sie vertritt implizit eine Substitutionstheologie, da allein das Christentum Erbe der biblischen Tradition sei. Daher neigt sie auch stets zum Antijudaismus.

Anderseits gibt es den evangelikal-christlichen Zionismus, stark verbreitet in den USA. Die Rückkehr der Juden in ihr Land und die Errichtung des Staates Israel wird hier von der alttestamentlichen Landverheißung her gelesen und ist Vorbereitung auf die messianische Endzeit, in der Christus wiederkommen wird. Für diese Zeit wird die Bekehrung der Juden zu Christus auf wunderbare Weise erwartet. Hier wird die jüdische Land- und Diaspora- Theologie sowohl mit dem Glauben an die Wiederkunft Christi am Ende der Zeit wie auch mit dem Gedanken der Judenmission verknüpft. Die eschatologische Vision des Paulus, dass einst ganz Israel in Christus gerettet werde, wie er sie in Röm 9-11 entfaltet, wird mit der historischen Alija der Juden im 20. Jahrhundert verbunden. Das ist insofern problematisch, als bereits das Neue Testament davor warnt, anhand geschichtlicher Ereignisse eine Zeit für das Ende der Geschichte abzulesen. Niemand weiß um den Zeitpunkt, nicht einmal Christus selbst (Mt 24,36).



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5) Das Judentum als Volk des »nie gekündigten Bundes«

Die Rückkehr der Juden nach Eretz Israel im 20. Jahrhundert kann und muss als Teil der säkularen Geschichte verstanden werden. Wenn sich der Glaube und die Theologie dazu äußern, ist wohl zu überlegen, aus welcher Perspektive dies geschehen soll.

Der Weg der klassischen Geschichtstheologie, in welcher der Mensch gleichsam Gott über die Schulter in die Karten schaut, wie er die Nationen führt, scheint nach dem Scheitern all solcher Theorien in früheren Jahrhunderten nicht mehr möglich. Der Mensch kennt nur die Froschperspektive auf diese Welt, nicht die Vogelperspektive, die Gott gleich wäre. Dennoch können wir in der Geschichte Gottes Spuren entdecken, wo sich Gesellschaften zu größerer Gerechtigkeit, Freiheit und Menschlichkeit hin entwickeln.

Auch der Begriff Heilsgeschichte ist nicht überholt, doch er muss angemessen verstanden werden: Einerseits bezeichnet er alle historischen Vorgänge, die eben zu mehr Heil führen. Anderseits darf er im Wirken der Kirche und des jüdischen Volkes verwendet werden, insofern die beiden Kollektive auf Gottes Bundesinitiative hin entstanden sind. Sie sammeln per definitionem dieje - nigen Menschen, die sich gesellschaftlich verbindlich auf das Wirken Gottes eingelassen haben. Der »nie gekündigte Bund« vom Sinai, den die Christen den »Alten Bund« nennen, und der »Neue Bund«, der in Christus auf Golgota besiegelt wurde, stellen eine geistige Grundlage dar, woran sich christlicher Glaube festmacht. Selbstverständlich bedeutet es nicht, dass alles, was im Namen von Kirche und Judentum getan wird, Ge rechtigkeit und Menschlichkeit, Freiheit und Frieden fördert. Auch das Handeln der Kollektive ist fehlerhaft. Doch im realexistierenden Christentum und Judentum »subsistiert« auf unterschiedliche Art das doppelte Volk Gottes, wie es in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt (Nr. 8).

Damit ist ein christlicher Zugang zu Land und Staat Israel gewählt, der mithilfe ekklesiologischer Kategorien zu verstehen sucht. Wird die Landfrage nämlich biblisch von der Landverheißung her angegangen, so führt es erstens dazu, dass das Wohnen im Land mit den anderen Geboten durch Christus erfüllt erscheint und somit für Christen irrelevant ist. Über das Wohnen der Juden im Lande ist damit nichts gesagt. Doch im Land zu wohnen ist nicht ein Gebot neben anderen, wie in den Ausführungen hoffentlich einsichtig geworden ist, sondern betrifft die Existenz des jüdischen Volkes überhaupt. So grundlegend wie der Schabbat, der die jüdische Zeit qualifiziert, so grundlegend ist die Beziehung zum Land, das den Raum des Judentums strukturiert. Zweitens aber führt biblisches Argumentieren oft dazu, dass die Rückkehr der Juden in ihr Land nicht nur als messianisch, sondern auch als endzeitlich verstanden wird. Endzeitspekulationen aber sind Gott zu überlassen.

Daher scheint mir die Lehre über die Kirche eine angemessene christlich-theologische Perspektive zu geben, um auf das Judentum zu schauen. Gleiches kann mit Gleichem verglichen werden, wie dies in der komparativen Theologie zu Recht gefordert wird: Christen verstehen sich als Kirche Christi, die aus verschiedenen, historisch gewachsenen Kirchen besteht. Diese Kirche ist immer eine realexistierende, historisch agierende Gesellschaft. Zugleich ist sie aber auch eine geistige Größe, ein pilgerndes Volk Gottes oder ein Leib Christi. Die Kirche ist ein Mysterium von Gott gestiftet und zugleich eine weltliche Wirklichkeit, die ethisch beurteilt mehr oder weniger nach dem Geist Christi lebt.

Ebenso das vielfältig gewachsene Judentum. Es ist einerseits ein realexistierendes Volk mit seinen Institutionen des Rabbinats, der Lehrhäuser und Synagogen, der Gerichte und bezieht sich auf ein konkretes Land, wo nun ein Staat errichtet wurde. Diese irdische Seite ist ethisch ebenso unterschiedlich zu beurteilen und auch historischem Wandel unterworfen. Anderseits ist das jüdische Volk aber auch eine geistige Größe, die alle verbindet, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden oder sich durch Konversion zum Judentum bekennen. Gott begleitet sein Volk durch alle Widerwärtigkeiten der Geschichte hindurch.

Diese Wahrnehmung des Judentums erlaubt es, auch in Bezug auf Land und Staat Israel zwischen einer grundsätzlichen Bejahung und Kritik an ethischem Verhalten zu unterscheiden. Zudem wird die weltliche Seite beim Judentum wie bei der Kirche wahrgenommen als etwas, das dem historischen Wandel unterworfen ist. Immer aber ist die realexistierende Verfassung auch »Zeichen«, das in sakramentaler Weise auf Gott verweist, in besonderem Maße, wenn der Mensch sich dabei für Gottes Geist öffnet und entsprechend handelt. Die quantitative Rückkehr der Juden ins Land ist so noch nicht das religiös Entscheidende. Demographie allein hat noch keine geistliche Qualität, sondern erst, wenn auch gemäss dem Geist der Torah im Land gelebt wird. Schließlich hat zum Beispiel auch im Sakrament der Taufe nicht das Wasser an sich sakramentale Qualität, sondern erst in der Verbindung mit Wort und Geist. Was für das einzelne Sakrament gilt, gilt für die Kirche, wie eben auch für das Judentum. Das Weltlich- Materielle ist notwendige Voraussetzung, aber nicht hinreichend, um wirklich Volk Gottes zu sein. So aber wie priesterliche Dienste und Gemeindestrukturen zur Kirche gehören, gehört das Land zum Judentum. Im Staat ist ein Rahmen geschaffen, in dem es seiner Berufung nachkommen kann, gerade auch wenn es ein säkularer Rechtsstaat ist, der Nicht-Juden die Möglichkeit gibt, in Gerechtigkeit und Frieden da zu leben. Das Judentum ist nicht für sich, sondern auch für die Nicht-Juden im Land da.

Aus dieser geistlichen Perspektive wird auch bewusst, dass wir nicht nur auf jüdisch-israelischer, sondern auch auf palästinensisch-christlicher Seite – vom Islam noch nicht einmal gesprochen – je Glaubensgemeinschaften vor uns haben. Auch dem »Volk Gottes unter den Arabern « ist Rechnung zu tragen. Es kann nur gottgewollt sein, dass verschiedene Ethnien und Glaubensgemeinschaften in diesem Land miteinander wohnen. Gottes Wege und Gottes Gedanken sind nicht unsere Wege und unsere Gedanken (Jes 55,8). Das gilt vor allem, was endzeitliches Denken betrifft.

Letztlich hat die Gesellschaft im Staat Israel nur dann messianische Qualität, wenn Gerechtigkeit und Freiheit, Menschlichkeit und Heil für alle Bewohner des Landes am Wachsen sind.



ANMERKUNGEN



1 Heine, Heinrich (1964): Sämtliche Werke, Band 13, München, S. 128.
2 Hagemann, Steffen (2000): Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel, Schwalbach.
3 Buber, Martin (1950): Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee, Zürich.
4 Meyer, David ; Philippe, Bernard (2017): Europe et Israël: deux destins inaccomplis. Regards croisés entre un diplomate et un rabbin, Paris, S. 91 – 112.
5 Korn, Eugene (2008): The Jewish Connection to Israel, the Promised Land. A Brief Introduction for Christians, Woodstock.
6 Zitiert in: Maraval, Pierre (2000): Die Anfänge der Pilgerfahrten, in: Faszination Jerusalem. Welt und Umwelt der Bibel. Archäologie – Kunst –Geschichte, Nr. 2/2. Quartal 2000, S. 27.
7 Ebd. S. 27.
8 Biberstein, Klaus (2000): Das Evangelium wird begehbar. Ein Netz der Erinnerungen, in: Ebd. S. 33 – 37.
9 Pragai, Michael J. (1984): Sie sollen wieder wohnen in ihrem Land. Die Rolle von Christen bei der Heimkehr der Juden ins Land Israel, Gerlingen, S. 183.
10 Kopp, Matthias (2014): Franziskus im Heiligen Land. Päpste als Botschafter des Friedens: Paul VI. – Johannes Paul II. – Benedikt XVI. – Franziskus, Kevelaer.
11 Mussner, Franz (1988): Traktat über die Juden, München, S. 35.
12 Zitiert nach: Kickel, Walter (1984): Das gelobte Land. Die religiöse Bedeutung des Staates Israel in jüdischer und christlicher Sicht, München, S. 135.
13 Österreicher, Johannes (1968): Der Baum und die Wurzel. Israels Erbe – Anspruch an die Christen, Freiburg, S. 58.
14 Barth, Karl (1948): Kirchliche Dogmatik, Bd. II, 2, S. 224; 231.
15 Zitiert in: Kickel, Walter (1984): Das gelobte Land. Die religiöse Bedeutung des Staates Israel in jüdischer und christlicher Sicht, München, S. 186.
16 Gollwitzer Helmut; Rendtorff, Rolf (1978): Thema: Juden – Christen – Israel. Ein Gespräch mit einer Entgegnung von Nathan Peter Levinson, Stuttgart, S. 56 –77.



Der Autor

Dr. CHRISTIAN M. RUTISHAUSER SJ

Jhg. 1965, ist Provinzial der Jesuiten in der Schweiz, Theologe und Judaist, Lehrbeauftragter für jüdische Studien an der Hochschule für Philosophie in München und Berater des Vatikan sowie der schweizerischen und deutschen Bischofskonferenzen zu Fragen der christlich-jüdischen Beziehung.
   


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