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ONLINE-EXTRA Nr. 185

Mai 2013

Vergangenes Wochenende feierte die Christenheit das Pfingsfest - und nur wenige Tage davor die Juden das "Wochenfest", Shavuot. Auch wenn beide Feiertage in ihren jeweiligen Religionen einen außerordentlich hohen Stellenwert einnehmen, gehören sie bei den jeweiligen Gläubigen nicht gerade zu den beliebtesten und "verständlichsten" Feiertagen, was für die christliche Seite und Pfingsten vielleicht noch ein wenig mehr gilt als für Shavuot und die jüdische Seite. Kaum verwunderlich freilich ist, dass beide Feste - das christliche Pfingsten und das jüdische Shavuot - mehr miteinander zu tn haben, als gemeinhin vielen wirklich bewußt ist. In dem nachfolgenden Beitrag des israelischen Autors Chaim Noll wird nicht nur die tiefere Bedeutung von Pfingsten/Shavuot deutlich, sondern gerade auch die Gemeinsamkeiten, die beide Feste und mithin beide Religionen miteinander verbinden, was in dem Titel seines Beitrag bereits programmatisch angedeutet ist: "Der fünfzigste Tag. Jüdische und christliche Aspekte des Pfingstfestes".

Nicht minder bemerkenswert: Nolls Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den er am 15. Mai 2013 an der päpstlichen Lateranuniversität im Vatikan hielt. Noll geht zu Beginn seines Vortrages auf diese außergewöhnliche Tatsache selbst ein, wie Sie lesen werden.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Beitrages an dieser Stelle!

© 2013 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 185


Der Fünfzigste Tag

Jüdische und christliche Aspekte des Pfingstfestes

Vortrag an der Pontificia Università Lateranense in Rom, Cattedra per la Theologia del Popolo di Dio, 15.5.2013

CHAIM NOLL

Meine Damen und Herren, liebe Freunde,

hier zu sprechen, an der Päpstlichen Universität in Rom, ist eine große Freude für mich. Ein Wiedersehen mit vertrauten Stätten, eine mich tief berührende Rückkehr an einen in meinem Leben bedeutsamen Ort. Meine Frau und ich haben vor zwanzig Jahren, 1993, wenige Meter von hier gewohnt, in der Via Appia Nuova, in einem der ersten Häuser hinter der Porta San Giovanni. Von unserer Dachterrasse sahen wir die Heiligenfiguren der Ostfassade der Basilica Lateranensis. Wir haben die Laterankirche oft besucht, um einen Augenblick der Stille und spirituellen Besinnung mitten im Trubel und Lärm der Großstadt zu erleben. Die Apostel-Statuen, Borrominis Säulen, der Kreuzgang und das Museum – all das war uns gut vertraut.

Es war ein unvergessliches Gefühl der Nähe. Wir wussten, dass hier vor achthundert Jahren, im April 1213, auf dem Vierten Lateranischen Konzil, entscheidende Maßnahmen zur Diskriminierung der Juden beschlossen worden waren wie das Tragen äußerlicher Kennzeichen an der Kleidung, „Judenhut“ und „gelber Fleck“. Wir wussten auch, dass noch vor kurzem die Kirche für viele Juden ein Symbol der Unterdrückung und Verfolgung gewesen war. Doch inzwischen hatte sich das Verhältnis zwischen Kirche und Juden auf entscheidende Weise verändert. Das Zweite Vatikanische Konzil, veranlasst von Papst Johannes XXIII., verabschiedete 1965 die bahnbrechende Erklärung Nostra Aetate, die nach zweitausend Jahren Misstrauen und Feindschaft das Verhältnis der Kirche zu den Juden neu regelte. 1974 erließ Paul VI. die „Richtlinien“ zu Nostra Aetate, in denen festgestellt wurde, „dass die geistlichen Bande (…), die die Kirche mit dem Judentum verbinden, jede Form des Antisemitismus und der Diskriminierung als dem Geist des Christentums widerstreitend verbieten.“1 1985 erschienen die „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in Predigt und Katechese der katholischen Kirche“, ein Dokument, das im Detail die eigenen, innerhalb der Kirche entstandenen antijüdischen Stereotype entkräftet und Wege zeigt, wie man sie in Zukunft vermeidet. 1986 besuchte erstmals ein Papst, Johannes Paul II., die römische Synagoge am Tiberufer. Wir wussten uns, als wir 1992 bis 93 in Rom lebten, mitten in diesem historischen Prozess. Daher war der tägliche Anblick der Laterankirche für uns kein Bild der Bedrückung, sondern ein Bild der Hoffnung.

Es gibt noch einen zweiten Grund, der mein heutiges Hiersein zu etwas Besonderem macht: Heute ist Shavuot, einer der höchsten jüdischen Feiertage im Jahreszyklus. Den Vormittag habe ich in der Synagoge verbracht und die öffentliche Lesung aus der Torah gehört, nicht weit von hier, in der Via Cesare Balbo am Fuß des Hügels Viminale. Und am Nachmittag dieses jüdischen Feiertages spreche ich zu Ihnen in der katholischen Università Lateranense. Dass ein Jude nach dem Besuch der Synagoge hinüber geht in eine kirchliche Universität und dort einen Vortrag hält, wird hoffentlich eines Tages etwas Normales sein, ein Ereignis, über das sich niemand mehr wundert. Für uns ist es immer noch neu und fast ein bisschen phantastisch.

Shavuot ist ein jüdisches Fest, über das Sie möglicherweise noch nicht viel wissen. Es ist ursprünglich ein landwirtschaftliches Fest, ein Erntedank-Fest, deren es zwei gibt im jüdischen Jahresablauf, Shavuot im Frühjahr, Sukot im Herbst – ein Beweis dafür, wie fruchtbar das Land war, wie hochentwickelt die antike Landwirtschaft. Gemeinsam mit dem Pesach-Fest bilden Shavuot und Sukot den Zyklus der drei Wallfahrtsfeste, der shlasha regalim – das heißt wörtlich: „die drei, an denen man zu Fuß geht“, also drei Pilger- oder Wallfahrtsfeste. Ziel der Wallfahrt war der Tempel in Jerusalem. An Shavuot brachten die Wallfahrer die ersten Früchte des Jahres zum Heiligtum, um Gott dafür zu danken. Daher sind die frühen hebräischen Namen dieses Festes (in der Reihenfolge ihrer Erwähnung im biblischen Text) chag ha kazir bikurej ma'asejcha, wörtlich Tag der Ernte der Erstlinge deiner Arbeit (so benannt im 2. Buch Moses oder Exodus, 23,16) oder, ein zweiter Name aus früher Zeit, chag shavuot ta'aseh lecha bikurej kezir chitim, wörtlich: das Shavuot-Fest gebe ich dir, das Fest der Erstlinge der Weizenernte (Exodus, 34,22), denn auch Weizen wurde in diesem fruchtbaren Land zweimal im Jahr geerntet, im Frühjahr und nochmals im Herbst. Oder summarisch der heute bekannteste der frühen, mit dem landwirtschaftlichen Zyklus verknüpften Namen: yom ha bikurim, Tag der Erstfrüchte (4. Buch Moses, Numeri, 28,26). In der zitierten Stelle im 2.Buch Moses 34,22 wurde bereits der Name genannt, der den Bezug zu einem anderen jüdischen Fest herstellt, zum Pesach-Fest, dem ersten der drei Wallfahrtsfeste: chag ha shavuot, wörtlich Fest der Wochen.

Denn shavuot meint eine Zeitangabe. Shavuot meint, dass dieses Fest genau sieben Wochen, sieben mal sieben Tage nach dem Pesach-Fest stattfinden soll. Am fünfzigsten Tag. Die sieben mal sieben, also neunundvierzig Tage dazwischen werden jeden Abend im Abendgottesdienst der Synagoge gezählt, man nennt dieses Zählen s'firat ha omer, wörtlich Zählen der Getreidegarben, da es nach der frühen, der landwirtschaftlichen Bedeutung des Festes, sieben mal sieben Tage dauern soll, bis das an Pesach gesäte Frühjahrsgetreide reif ist, bis es als „Erstfrucht“ zum Tempel gebracht werden kann. „Sieben volle Wochen sollen es sein“, gebietet die Torah (Buch Exodus 23,16) „Bis zu dem Tage nach der siebenten Woche sollt ihr fünfzig Tage zählen und dann ein neues Speiseopfer dem Ewigen darbringen.“ Woraus sich ein weiterer hebräischer Name für das Shavuot-Fest ergibt: „chag chamishim jom“, wörtlich „das Fest des fünfzigsten Tages“. Diesen Aspekt, den des Abschließens oder Vollendens der Omer-Periode, betont auch der Name, mit dem das Shavuot-Fest im Talmud bezeichnet wird: chag azeret, Abschluss, Vollendung.

Shavuot ist der Plural des hebräischen Wortes shavua oder sheva, shin-bet-ayn – ein alt-hebräischer Wortstamm, der im Wesentlichen zwei Bedeutungen hat. In der ersten Bedeutung einen Zahlenwert, Sieben, auch Siebenzahl der Tage, die Woche (zwei Worte, die auch im Italienischen stammgleich sind, sette und settimana). In der zweiten Bedeutung meint er Erfüllung, Sättigung, Beglückung, Befriedigung oder auch Schwur (womit gleichfalls eine Erfüllung gemeint ist, die Erfüllung eines gegebenen Wortes). Wie das Shavuot-Fest zeigt, ist die zweite Bedeutung, Erfüllung, mit der ersten Bedeutung Sieben oder Siebenzahl der Tage, sinnverwandt, ist Sieben geradezu ein Synonym für Erfüllung, wenn man unter Erfüllung die Reifung des Getreides versteht, die sich im Zeitraum von sieben mal sieben Tagen vollziehen soll.

Noch an vielen anderen Stellen in der Bibel symbolisiert die Zahl Sieben Erfüllung: sieben Gebote empfingen Noah und seine Söhne nach der Sintflut, sieben Jahre diente Jakob um Leah, sieben um Rachel, sieben Tage und Nächte essen wir an Pesach das Brot der Bedrängnis, sieben Nächte beschirmt uns die Sukah, die Laubhütte, alle sieben Jahre, im Shmitah-Jahr, lassen wir Felder und Obstgärten ruhen, auf das sich Erde und Bäume erholen können, und die Früchte dieses Jahres gehören dem, der vorüber kommt, dem Armen, dem Wanderer oder dem Nahrung suchenden Tier, und ist das sieben mal sieben Jahre lang geschehen, feiern wir ein jovel, ein Jubel-Jahr. Auch die jüdische Hochzeit dauert sieben Tage oder die Investitur des Hohepriesters, der das ganze Volk  Israel im Tempel vor Gott vertritt.



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Chaim Noll:
Kolja



               Chaim Noll:
               Kolja
              
Erzählungen aus Israel
 

            Verbrecher Verlag 2012
            285 Seiten, 
            24,00 €
             
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Was bedeutet es für den aus Italien eingewanderten Alessandro, dass sich die jüdische Abstammung seiner Mutter nicht klären lässt? Warum ändert der Krieg Michaels Verhältnis zu Henry James grundlegend? Und warum ist in der Wüste mitten im Sommer Weihnachten? Und Kolja? Der stammt eigentlich aus Russland und fällt im Kampf für seine neue Heimat. Was passiert jetzt mit seinem Leichnam?

Chaim Noll erzählt mitreißend und in schöner Sprache kleine Begebenheiten und große Lebensgeschichten. In seinen Erzählungen entwirft er ein Portrait der heutigen israelischen Gesellschaft.



Ich habe Ihnen damit die erste Bedeutungsebene der jüdischen Wallfahrtsfeste vorgestellt, die sich aus dem Jahreszyklus der Landwirtschaft und dem dreifachen Pilgergang zum Tempel herleitet. Die gesellschaftliche Formation des alten Judäa – das Milieu, in dem auch der junge Jesus aufwuchs – war eine nach dem Zyklus der Saaten und Ernten regulierte, landwirtschaftlich determinierte Welt. Aus Sicht der Anthropologen bedeutet das Gesetz vom Sinai, die Torah, den Übergang von der wilden, nomadischen Lebensweise zu einer sesshaften Existenzform mit regulierter Landwirtschaft und entsprechender Gesetzlichkeit. Auf diese Gesetzlichkeit gründen sich unsere Humanität und Zivilisation. Der Opfergang, die Wallfahrt zum Tempel des alleinigen Gottes, symbolisiert den schweren, opferreichen Weg aus der Gesetzlosigkeit der Wüste in eine sesshafte höhere Kultur.

Die zweite spirituelle Ebene der Wallfahrtsfeste ist folglich die des Gesetzes, der Torah, der göttlichen Offenbarung am Berg Sinai. Die Wallfahrtsfeste werden in der Torah genau beschrieben. Ihre Einhaltung ist göttliches Gesetz, hebräisch chok. Indem die Torah die Einhaltung dieser Feste zu göttlichen Geboten erklärt, werden die Feste selbst, ihre Abfolge, ihr Zyklus, mit der Geschichte des Gesetzes verbunden. Pesach symbolisiert fortan den Auszug aus Ägypten, also die Vorbereitung zum Empfang des Gesetzes. Der Exodus war Resultat der Rückbesinnung der Hebräer auf ihren Gott, der ihnen daraufhin Wunder erwies – ein Vorgang der Instandsetzung, der Bereitschaft von beiden Seiten, den alten Bund zu erneuern. Dieser Bund vollzieht sich sieben Wochen später, an Shavuot, mit der göttlichen Offenbarung des Mosaischen Gesetzes – benannt nach dem Mann, der die Hebräer aus Ägypten führte – und seiner Annahme durch das Volk.

An Shavout wird in der Synagoge der Empfang des Gesetzes am Berg Sinai gefeiert, durch Lesung des Torah-Abschnitts, in dem das Herzstück der sinaitschen Offenbarung enthalten ist, der Dekalog. Gefeiert wird auch der komplizierte Vorgang seiner Annahme durch die Hebräer und die Menschen anderer Völker, die mit ihnen aus Ägypten auszogen. Die durch diesen Schritt gemeinsam, Hebräer wie Nicht-Hebräer, zum Volk Israel wurden. Seit damals steht fest: Für den Eintritt ins Volk Israel gibt es keine ethnischen Schranken. Menschen jeder Herkunft, jeder Hautfarbe können zum Volk Gottes gehören, sobald sie das Gesetz annehmen und nach dem Gesetz leben. Der Gott, der sich am Berg Sinai offenbarte, ist nicht der Gott eines einzelnen Volkes, sondern ein Menschheits-Gott. Zur Erinnerung an diese elementare Wahrheit wird an Shavuot nach der Torah-Lesung das biblische Buch Ruth gelesen, die Geschichte einer Fremden, einer Moabiterin, die aus Liebe und durch Annahme des Gesetzes zur Israelitin wurde.

Im Laufe der Jahrhunderte sollte sich zeigen, dass die Erfüllung dieses Gesetzes die Überlebenschancen seiner Anhänger beträchtlich erhöht hat. In schwersten Zeiten, Verfolgung, Not und Katastrophen hat sich das Volk Israel am Leben erhalten – durch Treue zum Gesetz. Dieses Volk ist ein Wunder an Überlebenskraft. Es hat den Versuch seiner systematischen Vernichtung im zwanzigsten Jahrhundert überstanden und wenige Jahre später, mit ungebrochener Kraft, den neuen Staat Israel gegründet. Das Gesetz wird als Bekenntnis zum Leben, als Gewähr des Überlebens, als göttliche Inspiration, als Geschenk verstanden. Daher ein weiterer hebräischer Name für das Shavuot-Fest: sman matan torah, das Fest für „die Gabe“ oder „das Geschenk der Torah“.

Auch in dieser Bedeutungsebene spielt das Wort shavua, Sieben, eine entscheidende Rolle. Wieder wird der Abstand zwischen den beiden Ereignissen, dem zu Pesach stattfindenden Auszug der Hebräer und mit ihnen ziehenden Völker aus der Sklaverei Ägyptens bis zu jenem Tag, an dem die Flüchtlinge in der Wüste das göttliche Gesetz empfangen, mit sieben mal sieben, also neunundvierzig Tagen angegeben. Shavuot, wörtlich „die Wochen“, bezeichnet also den fünfzigsten Tag. Die Zahl Sieben wiederum als Symbol der Erfüllung, der Reifung, diesmal der Reifung der Flüchtlinge aus Ägypten, bis sie fähig und bereit waren, die Torah zu empfangen.

Sie sehen: Shavuot ist das Fest, das die zentrale Rolle der Torah im Leben und Überleben des biblischen Volkes betont. Auf die zentrale Rolle der Torah hat auch Papst Benedikt XVI. wiederholt hingewiesen, etwa am 17. Januar 2010 in der Synagoge in Rom, als er über das Verhältnis von Juden und Christen sprach. Er wies auf die Nähe hin, die – aus theologischer Sicht – zwischen Kirche und Judentum besteht: „Unsere geistliche Nähe und Brüderlichkeit“, sagte er, „finden in der Heiligen Schrift – in hebräisch sifrej kodesh oder 'Bücher der Heiligkeit' – ihr solides, ewiges Fundament (…) Die Kirche, Gottesvolk des Neuen Bundes, entdeckt, wenn sie ihr eigenes Mysterium betrachtet, ihren tiefen Zusammenhang mit den Juden.2 Diesen tiefen, inneren Zusammenhang hatte zuvor auch Papst Johannes Paul II. gespürt, als er 1986 die römische Synagoge besuchte: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas 'Äußerliches', sondern gehört in gewisser Weise zum 'Inneren' unserer Religion.3

Benedikt XVI. zitiert anschließend eine Passage aus dem Katechismus der Katholischen Kirche, an dessen heutiger Fassung er selbst, als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation unter Johannes Paul II., maßgeblich beteiligt war: „Im Unterschied zu den anderen nichtchristlichen Religionen ist der jüdische Glaube schon Antwort auf die Offenbarung Gottes im Alten Bund. Das jüdische Volk besitzt 'die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihm ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus (Römer 9,4-5), denn 'unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt' (Römer 11,29)4

Aus dieser „geistlichen Nähe“, aus dem „gemeinsamen Erbe von Gesetz und Propheten“, stellte Papst Benedikt in seiner Rede in der Synagoge fest, „ergeben sich zahlreiche Implikationen. Ich will einige nennen: vor allem die Solidarität, die die Kirche und das jüdische Volk 'in ihrer eigenen geistlichen Identität' aneinander bindet und den Christen Gelegenheit bietet, 'einen neuen Respekt für die jüdische Auslegung des Alten Testaments' zu fördern, die zentrale Bedeutung des Dekalogs als gemeinsame ethische Botschaft von ewiger Gültigkeit für Israel, die Kirche, die Nichtglaubenden und die ganze Menschheit (…) Der Dekalog – das 'Zehnwort' oder die Zehn Gebote (Exodus 20,1-7, Deuteronomium 5,1-21) –, der aus der Torah des Mose stammt, stellt eine Fackel der Ethik, der Hoffnung und des Dialogs dar, einen Polarstern des Glaubens und der Moral des Gottesvolkes, und er erleuchtet und leitet auch den Weg der Christen.“ 5

Der Dekalog, als Essenz des Torah-Gesetzes, leitet auch den Weg der Christen. Wie er den Weg des Juden Jesus leitete, auf den sich die Christen berufen, zu dem sie sich bekennen. Denn Jesus war integriert in das Leben und den Glauben des Volkes, dem er entstammte, des jüdischen. Er hat – in der Überlieferung seiner Chronisten, der Evangelisten – seine Treue zum Gesetz immer wieder betont. Etwa in der Bergpredigt, überliefert vom Evangelisten Matthäus (5,17): „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Und wie Jesus nach eigener Aussage ein Leben der Gebotserfüllung lebte, das Leben eines gesetzestreuen Juden, so sind auch die Ereignisse seines Lebens, darunter die Feste, die er beging und die für sein Schicksal bedeutsam werden sollten, in den Festzyklus der Juden integriert.

Auf den ersten Blick sind die Feste der Christenheit orientiert an Ereignissen aus Leben und Sterben Jesu Christi. Schaut man genauer hin, findet man unter den meisten von ihnen, sozusagen in einer tiefer liegenden Ebene, ein früheres Fest, ein Fest aus der gesellschaftlichen und spirituellen Lebenssphäre, in der Jesus lebte: der jüdischen. Jesus ist aller Wahrscheinlichkeit nach während des jüdischen Chanukah-Festes geboren, während des Festes der Lichter-Weihe, ein Hinweis darauf ist die symbolische Bedeutung des Lichts im christlichen Weihnachtsfest, vor allem das Licht-Wunder in Lukas 2,9. Und Jesus ist, wie in den Evangelien überliefert, während des Pesach-Festes getötet worden. Das Letzte Abendmahl war ein jüdisches Pesach-Mahl, ein „Seder“ – das hebräische Wort für diese Abendmahlzeit am ersten Tag Pesach -, den Jesus und die Jünger gemeinsam zelebrierten. Und sieben mal sieben Wochen später, am fünfzigsten Tag, begingen die Jünger, jüdische Männer allesamt, das nächste Fest im Zyklus der vom Torah-Gesetz gebotenen Feste, zum ersten Mal ohne Jesus: das Shavuot-Fest.

Dass die christlichen und die jüdischen Feste heute nicht in jedem Jahr zeitgleich sind, ergibt sich aus den verschiedenen Kalendern: das jüdische Jahr verläuft nach wie vor nach dem alten babylonischen Mond-Kalender, während sich die Christenheit nach einem Sonnen-Kalender richtet, der in Rom zur Zeit Julius Caesars eingeführt (Julianischer Kalender) und später, 1582, von Papst Gregor XIII. reformiert wurde (Gregorianischer Kalender). Von daher können die jüdischen und christlichen Feiertage um einige Tage auseinander liegen, in manchen Jahren aber auch identisch sein. In diesem Jahr, 2013, feiern wir heute, am 15.Mai, das Shavuot-Fest und Pfingsten am 19. und 20.Mai, vier respektive fünf Tage später. Dass der christliche Zyklus der Feiertage, unabhängig vom Jahreskalenders, immer noch dem der jüdischen Feiertage folgt, erkennt man an der Anordnung der Feste untereinander – zum Beispiel daran, dass der Abstand zwischen Ostern und Pfingsten – genau wie der zwischen Pesach und Shavuot – sieben mal sieben Wochen, also neunundvierzig Tage beträgt. 

Am Abend des fünfzigsten Tages, also am Abend des Shavuot-Festes, treffen sich die jüdischen Männer in der Synagoge zum festlichen Abendgebet. In Anschluss daran wird, einem alten Brauch gemäß, die Nacht mit dem Studium der Torah und anderer Texte der Bibel verbracht. Tikun leil shavuot ist der hebräische Name dieses Brauches, leil shavuot ist die Shavuot-Nacht, das Wort tikun meint Veränderung, Korrektur, Verbesserung (im Italienischen etwa correzione, emendamento) und wird oft in der Zusammensetzung tikun olam gebraucht, „Verbesserung der Welt“. Der Terminus tikun olam findet sich bereits im Talmud, zuerst in der Mishnah Gitin 4,2, ist also älteren Ursprungs, aus vor-christlicher Zeit. Dafür spricht auch, dass er in leicht abgewandelter Form (l'taken ha olam) in dem aus der Zeit des Zweiten Tempels stammenden jüdischen Gebet Alejnu le'shabeach vorkommt, das am Ende jedes jüdischen Gottesdienstes gesprochen wird.

Essentiell bezieht sich der Begriff tikun leil shavuot für das Lernen in der Shavuot-Nacht auf dieses alte jüdische Konzept der Korrektur, der Verbesserung oder Vollendung der Welt. Juden gehen grundsätzlich davon aus, dass Torah- und Bibel-Studium zu einer Verbesserung und Vervollkommnung des Menschen führen (hebräisch chinuch azmi, wörtlich Selbst-Bildung oder Selbst-Erziehung) und diese Vervollkommnung der einzelnen Menschen insgesamt zu einer Verbesserung der Welt beiträgt. Schriftlich belegt ist der Brauch des nächtlichen Lernens an Shavuot für die Rabbiner und Kabbalisten der Stadt Safed (hebräisch Zefat) in Galiläa im sechzehnten Jahrhundert, doch diese beriefen sich auf einen viel Früheren, auf Rabbi Shimeon bar Yochai, der sich im zweiten Jahrhundert vor den Römern verbarg und im Untergrund dem Torah-Studium widmete.

Probleme mit der römischen Besatzungsmacht hatten auch die jüdischen Männer, die sich in der Shavuot-Nacht des Jahres, in dem Jesus starb, zum nächtlichen Studieren versammelten. Ort ihrer Zusammenkunft war das in der Apostelgeschichte 1,13 erwähnte „Obergemach, wo sie sich aufzuhalten pflegten“. Sie waren Anhänger oder Jünger eines Rabbiners und Schriftgelehrten, der sieben Wochen zuvor, am Pesach-Fest, wegen des Verbrechens der Majestätsbeleidigung, crimen maiestatis, vom römischen Prokurator Pontius Pilatus zum Tode verurteilt und gekreuzigt worden war. Um diese Zeit warteten in der Provinz Judäa viele Menschen auf den Messias, den Erlöser-König, die römische Besatzungsmacht sah in diesen Regungen eine Gefahr und unterdrückte sie mit brutaler Gewalt. Auch die Jünger – als Anhänger eines „Majestätsverbrechers“ – mussten Verfolgung fürchten. Daher werden sie zunächst versucht haben, ihre Zusammenkunft in der Shavuot-Nacht im Rahmen des Üblichen zu halten.

Angesicht der Verbreitung der griechischen Sprache in der römischen Provinz Judäa können wir davon ausgehen, dass um diese Zeit bereits die griechische Übersetzung des Wortes Shavuot in aller Munde war: Pentekoste. In der Apostelgeschichte wird die rituelle Zusammenkunft der Jünger am Abend des Shavuot-Festes so beschrieben (Apostelgeschichte 2,1, Übersetzung ins Deutsche Rudolf Pesch): „Und als sich der Tag der Pentekoste erfüllte, waren alle zusammen am selben Ort.“ Zuvor hatten die Jünger in der Synagoge den abendlichen Feiertags-Gottesdienst besucht, den Festtags-Segen über Wein und Brot gesprochen und zu Abend gegessen. Dann trafen sie sich, wie es im griechischen Text heißt, epi to auto, an ein- und demselben Ort, um, wie bis heute unter gesetzestreuen Juden in dieser Nacht üblich, gemeinsam zu beten und zu studieren.

Über diese Zusammenkunft berichtet Apostelgeschichte 2,1 folgendes:
Und plötzlich geschah aus dem Himmel ein Brausen, wie von einem daherfahrenden, gewaltigen Winde, und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen. Und es erschienen ihnen zerteilte Zungen wie von Feuer, und sie setzten sich auf jeden einzelnen von ihnen. Und sie wurden alle vom Heiligen Geiste erfüllt und fingen an in anderen Sprachen zu reden. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, gottesfürchtige Männer, von jeder Nation derer, die unter dem Himmel sind. Als sich aber das Gerücht hiervon verbreitete, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt, weil jeder einzelne in seiner eigenen Mundart sie reden hörte. Sie entsetzten sich aber alle und verwunderten sich und sagten: Siehe, sind nicht alle diese, die da reden, Galiläer? Und wie hören wir sie, ein jeder in unserer eigenen Mundart, in der wir geboren sind: Parther und Meder und Elamiter, und die Bewohner von Mesopotamien und von Judäa und Kappadokien, Pontus und Asien, und Phrygien und Pamphylien, Ägypten und den Gegenden von Libyen gegen Kyrene hin, und die hier weilenden Römer, sowohl Juden als Proselyten, Kreter und Araber - wir hören sie die großen Taten Gottes in unseren Sprachen reden.

Was in dieser Passage der Apostelgeschichte geschildert wird, ist ein Ausbruch von Begeisterung, von göttlicher Inspiration. Der jüdische Begriff für diese Art Inspiration ist shechinah, wörtlich „die Einwohnung“, gemeint ist die Einwohnung oder Anwesenheit Gottes. Das hebräische Wort shechinah basiert auf dem Stamm shin-chaf-nun, wohnen, auf den sich auch das hebräische Wort für Tabernakel gründet, mishkan, der „irdische Wohnort Gottes“ oder der „Ort der Einwohnung“. Die shechinah, der Geist Gottes, soll aber nicht nur im Tabernakel ihren Ort haben, sondern, wie es im Talmud heißt (Traktat Sanhedrin 39a), „wo immer zehn versammelt sind, um zu beten und das Gesetz zu studieren.“ In Apostelgeschichte 1,13 werden die Jünger aufgezählt, die sich nach Jesu Tod zu versammeln pflegten, es sind elf Namen, zusätzlich erwähnt Vers 14 die Brüder von Jesus und einige anwesende Frauen, darunter Maria, und da es zu Beginn des Berichts über die Nacht von Shavuot oder Pentekoste heißt, „alle“ wären versammelt gewesen, können wir von einer Zahl deutlich über zehn Menschen ausgehen. So dass es nach jüdischer Vorstellung nicht überraschend ist, wenn in dieser Runde die shechinah weilte, die „Einwohnung“ oder der Geist Gottes.



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Was haben die Anwesenden in der Lern-Nacht gelesen und erörtert, dass sie so sehr in Begeisterung gerieten? Die shechinah ist der Geist und der Wille Gottes, ihr Wirken entzieht sich weitgehend unserer Einsicht, doch sie bedient sich irdischer Mittel und Aktionen, um zu den Menschen zu gelangen. Im Judentum gilt das intensive Studium biblischer und talmudischer Texte als erfolgreichste Methode, um sich göttlicher Inspiration anzunähern. Für die Nacht von Shavuot überliefert die jüdische Tradition im wesentlichen zwei Bräuche, was die Auswahl der zu studierenden Textstellen betrifft. Die  Rabbiner Shlomo Alkabets und Josef Caro – letzterer der Verfasser des bis heute maßgeblichen halachischen Werkes Shulchan Aruch – sollen 1533 in Thessalonika in Griechenland und später, nach ihrer Einwanderung ins Heilige Land, in der Stadt Sefad in Galiläa eine Anordnung von Texten für den tikun leil shavuot kompiliert haben. Diese Zusammenstellung von Texten enthielt Exzerpte aus allen vierundzwanzig Büchern der hebräischen Bibel, des tenach, wobei einige Stellen in aller Ausführlichkeit gelesen werden sollten, etwa die Schöpfungsgeschichte, die Geschichte des Auszugs aus Ägypten, die Übergabe des Dekalogs (wir erinnern uns hier an Papst Benedikts Rede in der Synagoge von Rom und seine besondere Emphase, den Dekalog betreffend) und das zentrale jüdische Gebet, das Shema Israel. Danach lasen die Rabbiner in Safed Auszüge aus den dreiundsechzig Kapiteln der Mishnah, anschließend das Sefer Yezirah, wörtlich „Buch der Formation“, ein frühes Werk jüdischer Esoterik, ferner eine Auflistung der sechshundertdreizehn Gebote des Torah-Gesetzes und Auszüge aus dem Buch Sohar, wörtlich „das Strahlende“, dem grundlegenden Werk der Kabbala. Alle diese Texte wurden in einem besonderen Buch zusammengefasst, einer Art Lesebuch für die Shavuot-Nacht.

Eine andere Tradition für das Studium in der Shavout-Nacht bevorzugt das Lesen des Buches tehillim, Psalmen. Das Buch der Psalmen wird zum überwiegenden Teil König David zugeschrieben, von daher besteht ein Zusammenhang zwischen dem Studium der Psalmen und der am nächsten Vormittag in der Synagoge, im Morgengottesdienst des Shavuot-Festes, stattfindenden Lesung des Buches Ruth, da Ruth als die Ahnfrau König Davids gilt. Nach christlicher Tradition ist Jesus ein Nachkomme Davids. Von daher halte ich es für wahrscheinlich, dass die Jünger in der Nacht von Shavuot oder Pentekoste das Buch der Psalmen studiert haben. Ihre Zusammenkunft war einerseits eine traditionelle Studien-Sitzung wie an Shavuot üblich, doch zugleich eine Nacht des Gedenkens an ihren erst jüngst getöteten, wieder auferstandenen Rabbi. Das ist meine persönliche Hypothese, mein Versuch, die Frage zu beantworten: Was haben die Jünger in jener Nacht gelesen, dass sie in offenkundige Begeisterung gerieten, dass sie, wie in Apostelgeschichte 2,4 geschrieben ist, „mit dem Heiligen Geist“ erfüllt wurden?

Noch etwas spricht für die Psalmen. Apostelgeschichte 2,11 zitiert Zeugen des Vorfalls, die über die begeisterten Jünger sagen: „Wir hören sie die großen Taten Gottes in unseren Sprachen reden“. Nun zeichnet sich das Buch der Psalmen dadurch aus, dass es zahlreiche Textstellen enthält, welche die „die großen Taten Gottes“ preisen. Und, was in unserem Zusammenhang noch bemerkenswerter ist, Textstellen, die sich mit diesem Lobpreis von Gottes Taten an alle Völker wenden, nicht exklusiv an die Juden. Oder die sich an die Juden wenden mit dem Aufruf, die Offenbarung des göttlichen Gesetzes an alle Völker der Erde weiterzugeben. Das ist gemeint, wenn bezeugt wird, dass die Jünger „in unseren Sprachen reden“: Sie wenden sich mit ihrer Botschaft an alle Menschen der Erde.

Zur Erinnerung zitiere ich einige Psalmen, in denen diese universale Botschaft gefordert wird:

Psalm 7, Vers 8: va’adat le’umim t’sovevejcha, Die Völker (Nationen) werden sich um dich sammeln


Psalm 9,9: ve hu joshpot tevel be zedek, jadin le’umim be mesharim, Er richtet den Erdkreis mit Gerechtigkeit und spricht Recht für die Völker, wie es angemessen ist.


Psalm 19,1-5: ha shamaim misparim kvod-el (...) b chol ha arez jaza kum u vikzeh tevel milejhem, Die Himmel preisen die Ehre Gottes (...) auf der ganzen Erde verbreitet sich ihr Klang, bis ans Ende der Welt ertönt ihr Wort.


Psalm 22,28-29: js’ cheru ve jashvu el adonaj kol afsej arez ve jishtachavu lifanejcha kol mishpachot gojim, ki ladonaj ha melucha u moshel ba gojim, An allen Enden der Erde wird man sich besinnen und zu Gott sich wenden, alle Familien der Völker werden sich vor dir niederwerfen. Denn Gottes ist das Reich und die Herrschaft über die Völker.


Psalm 36, 8: ma jakar chasdejcha elohim u vnej adam be zel kafejcha jechesajun. Wie wertvoll ist deine Güte, Herr, und die Menschen (Söhne Adams) suchen Schutz im Schatten deiner Flügel.


Psalm 40,17: jashishu ve jsmechu becha kol mevakshejcha, Es werden frohlocken und deiner sich freuen alle, die dich suchen.


Psalm 45,18: askirah shimcha be chol dor va dor ve al ken amim jehoducha le olam va ed, Ein Denkmal soll dein Name sein für jede Generation. Darum werden die Völker dich preisen für immer und ewig.


Psalm 47,9: malach elohim al gojim, Gott ist König über die Völker


Psalm 57,10: odejcha ba amim, asamerecha be le'umim, Ich will dich preisen unter den Völkern, ich will dein Lob singen unter den Nationen.


Psalm 66,8: barechu amim elohejnu ve hashmi’u kol tehilato, Preiset unseren Gott, ihr Völker, und lasset sein Lob erschallen.


67,4-6: joducha amim, elohim, joducha amim kulam, jismechu va jeranenu le’umim ki tishpot amim mishor u le’umim baarez tachechim, selah. Joducha amim, elohim, joducha amim kulam, Es preisen dich die Völker, Herr, es preisen dich die Völker allesamt. Es freuen sich und jauchzen die Nationen, weil du für die Völker Recht sprichst wie es angemessen ist, und die Nationen lenkst auf Erden. Es preisen dich die Völker, Herr, es preisen dich die Völker allesamt.


72,17: jehi shemo le olam lifnej shemesh jonon shemo e jibarechu vo kol gojim jashrehu, Dein Name sei für die Ewigkeit, solange die Sonne scheint, soll er sich fortpflanzen, und segne man sich mit ihm. Alle Völker preisen ihn selig.


96,3: saperu va gojim k’vodo, be chol ha amim niflotav, Erzählt den Völkern von seiner Glorie, unter allen Völkern von seinen Wundern. (Der gesamte Psalm ist ein Aufruf an die Kinder Israels, in diesem Sinne unter den Völkern zu wirken.)


97,6: higidu ha shamajim zidko ve ra’u kol ha amim k’vodo, Es künden die Himmel seine Gerechtigkeit und alle Völker schauen seine Ehre.


98,2: hodija adonaj jeshuato le ejnej ha gojim gila zidkato, Kundgetan hat Gott seine Hilfe, seine Gerechtigkeit offenbart vor den Augen der Völker.


102,23: Be hikabez amim jachdu u mamlachot la’avod et adonaj, Wenn die Völker sich einmütig sammeln und Königreiche, um Gott zu dienen


105,1: hodu ladonaj kiru veshmo, hodiju va amim alilotav, Danket Gott, ruft seinen Namen an, verkündet unter den Völkern seine Taten.


135: der gesamte Psalm ein Aufruf an Israel, den Namen des Herrn zu loben, zu preisen, von seinen Taten zu künden.


145,9: tov adonaj la kol ve rachamav al kol ma’asav, Gott ist gütig gegen alle und barmherzig zu all seinen Geschöpfen


148: Der gesamte Psalm ist ein Aufruf an Israel, Gott in der Welt und unter den Völkern zu loben.

Nirgendwo sonst in der hebräischen Bibel wird der universelle Anspruch des Gesetzes so nachdrücklich ausgesprochen wie in den Psalmen. Die Botschaft der Torah, die Offenbarung vom Berg Sinai richtet sich an alle Völker. Wir alle, Juden wie Christen, sind aufgerufen, sie in der Welt zu verbreiten und zu verkünden. Das war die Botschaft, welche die Jünger in der Nacht des Shavuot-Festes in den Psalmen lasen, von den Psalmen lernten, und die sie auf der Stelle, indem sie in den Sprachen der verschiedenen Völker redeten, diesen Völkern übermitteln wollten.

Die Männer und Frauen, die sich in dieser Nacht zum Studium und im Gedenken an Jesus versammelt hatten, wurden von der shechinah erfasst, vom Geist Gottes. Daher waren sie imstande, sich in Sprachen auszudrücken, die sie vorher nicht kannten, und fremden Völkern von Gottes Gesetz zu künden. Wir Menschen wissen nicht genau, auf welchem Weg uns die Inspiration erreicht, wie wir von der shechinah, vom Geist Gottes ergriffen werden. Es scheint uns ein Geheimnis, das wir nicht zu erklären vermögen. Dennoch können wir uns aus eigener Kraft darum bemühen, diesem Zustand nahe zu kommen. Im Judentum geht man davon aus, dass uns Lernen, Lesen, Studieren, das Aneignen von Kenntnissen, für den inspirierten Zustand wach hält. Das taten die Jünger in der Nacht von Pentekoste. Deshalb wurden sie vom Geist ergriffen und begeistert für ihre kommende Aufgabe. Wir sollten ihnen darin folgen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.



ANMERKUNGEN



1 Richtlinien und Vorschläge zur Konzilserklärung Nostra Aetate, zitiert nach Kirchlicher Anzeiger für die Diozöse Aachen 45, 1975
2 Papst Benedikt XVI.: In geistlicher Nähe und Brüderlichkeit. Ansprache in der Synagoge in Rom am 17.Januar 2010, zitiert nach Freiburger Rundbrief 3/2010, S.199 ff.
3 Papst Johannes Paul II.: Ansprache in der Synagoge in Rom, 13.April 1986, zitiert nach Jüdische Zeitung Berlin, März 2009
4 Papst Benedikt XVI.: In geistlicher Nähe und Brüderlichkeit. Ansprache in der Synagoge in Rom am 17.Januar 2010, zitiert nach Freiburger Rundbrief 3/2010, S.199 ff.
5 ibid.
 



Der Autor

CHAIM NOLL

ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller. 


Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.

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Chaim Noll steht gerne für Vorträge oder Lesungen zur Verfügung.
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