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ONLINE-EXTRA Nr. 4

Februar 2005

Dieser Beitrag entstammt dem vor wenigen Tagen in Deutschland erschienen Buch "Dialog an der Schwelle von Auschwitz", hrsg. v. Manfred Deselaers. Bitte beachten Sie die Anzeigen im laufenden Text für genauere Angaben und Bestellmöglichkeiten.

COMPASS dankt dem Herausgeber für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2006 Copyright bei Autor und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 4


Ein Blick auf "Auschwitz" - aus polnischer Perspektive

LUKASZ KAMYKOWSKI


Ich möchte hier ein persönliches Zeugnis davon ablegen, was Auschwitz in meinem Leben als Pole bedeutet. Zwei Bilder aus meiner Erinnerung möchte ich dabei in den Mittelpunkt stellen. Diese Erinnerungen sollen dann hermeneutisch untersucht werden, um ihnen einen allgemeineren Sinn abzugewinnen.


Erstes Bild: Erinnerungen an den Großvater


Die ersten Erinnerungen reichen bis in die frühe Kindheit zurück, eine Zeit, in der wir Kinder begannen, Fragen zu stellen: Warum haben andere Kinder Großväter und Großmütter, wir aber nur eine „Omi”?


Zu Allerheiligen und Allerseelen gingen wir mit den Eltern zum Rakowicki-Friedhof in Krakau, wo sich die Gräber der meisten Verstorbenen unserer Familie befinden. Unter ihnen war auch das Grab der Eltern meines Vaters und dessen Schwester; wir zündeten hier Kerzen an und beteten für sie. Das Grab des zweiten Großvaters war nicht auf dem Friedhof. Mutter führte uns zu einem unscheinbaren Denkmal in Gestalt einer viereckigen Säule, die eine Kugel krönte. An dieser waren metallene Vasen befestigt, die aussahen wie langgezogene Suppenterrinen (Mutter nannte sie ‘Urnen’); auf ihnen waren verschiedene, schwer zu lesende Aufschriften: „Buchenwald”, „Dachau”, „Sachsenhausen”, „Ravensbrück”... Um dieses Denkmal herum brannten immer Hunderte von Kerzen, und viele Menschen standen schweigend und völlig bewegungslos mit gesenkten Köpfen – nur ihre Gesichter leuchteten vom Schein der Flammen. Mama gab auch uns Kerzen in die Hand und flüsterte, wir sollten sie anzünden und zu den anderen stellen und feste für „Henek”, ihren Vater und unseren Großvater, beten, denn „er braucht es sehr dringend”.

Als wir fragten (ebenfalls flüsternd), ob er hier sei, wies Mutter mit dem Kopf auf eine Urne mit der längsten und schwierigsten Aufschrift: „Auschwitz-Birkenau”. „Er kam im Lager um, in Auschwitz” – sagte sie; später einmal würde sie uns erklären, was das genau bedeutet.

Mit der Zeit erfuhren wir tatsächlich von ihr, wie während der Okkupation eines Nachts die Gestapo gekommen war und ihn einfach aus dem Bett gezerrt hatte; danach hat sie ihn nie wieder gesehen. Oma (ihre Mutter) ging am nächsten Tag auf die Pomorska Straße zur Gestapo. Man sagte ihr, dass er nach Auschwitz gebracht worden sei. Etwa einen Monat später kam aus dem Konzentrationslager die Nachricht von seinem Tod.1 Nach einiger Zeit wurde herausgefunden, dass in jener Nacht alle Reserveoffiziere der Polnischen Armee, die noch in Freiheit waren, verhaftet worden waren.

Zu den Erinnerungen aus meiner Kindheit gehört noch ein weiteres wesentliches Moment. Damals waren in allen Schulen Ausflüge nach Auschwitz verpflichtend. Mutter fand immer eine Ausrede für die Lehrer und ließ uns nie mit einem solchen Schulausflug dorthin fahren; überhaupt war sie nie allein oder mit uns dort gewesen: „das ist völlig sinnlos”.


Das erste Mal war ich also erst als Student mit der Studentengemeinde St. Anna aus Krakau im Lager, während einer Nachtwache vor der Seligsprechung von Pater Maximilian Kolbe. Ich nahm am Mitternachtsgebet und am Kreuzweg entlang dem Stacheldraht teil, lehnte aber – getreu der Haltung meiner Mutter – einen Besuch im Museum ab.


Erster Kommentar


Das, was ich hier aus meinen eigenen Erinnerungen erzählt habe, ist natürlich nur ein einzelnes Beispiel dafür, was in Polen das Gedenken an Auschwitz bedeutet und was meine Generation damit verbindet. In den einzelnen Familien werden die Erinnerungen verschieden sein. Man kann jedoch einen verallgemeinernden Kommentar wagen, wenn man gewisse charakteristische Eigenschaften dieses Miniaturberichtes bedenkt.


Gedenken in der Familie


In Polen geht das vielsagende Stichwort «Auschwitz»  nicht selten (ich würde sogar sagen oft) durch das Herz der Erinnerungen in der Familie. Die erste Assoziation verbindet sich mit einem engen Bekannten oder Verwandten, der dort umgekommen ist; oder vielleicht auch überlebt hat. So war es zumindest in meiner Generation der heute Fünfzigjährigen. Unsere Eltern wussten selbst gut genug, was Auschwitz ist: Sie spürten die Verpflichtung, dies ihren Kindern zu vermitteln. Sie wussten, wie schwer ihre Verantwortung war, wo doch niemand anderer das Recht, sie zu vertreten. Diese Vermittlung war die Grundlage für jedes mögliche weitere Wissen über das Lager. Das hatte unleugbare Vorteile, aber auch Schwächen.

Vor allem konnte niemand in Polen an der Wirklichkeit von Auschwitz zweifeln, selbst wenn er nie an diesen Ort gekommen war: Es fehlten Menschen, die eigentlich unter uns hätten sein sollen, aber einfach nicht da waren. Denn nicht der Ort selbst ist hier wesentlich, sondern das Gedenken und die Erinnerung an konkrete Menschen. Dies begründete einen grundlegenden Respekt und lehrte uns, die mit Auschwitz verbundenen Dinge ernsthaft zu behandeln. Es war nicht erlaubt, über das Lager in beliebiger Art und Weise zu reden; man durfte auch nicht zu viel sagen. Im Gedenken an Verstorbene muss man bestimmte Dinge verschweigen – unter unmenschlichen Bedingungen Ermordete haben darauf ein noch größeres Recht als andere Verstorbene. Und die Augen derjenigen, die überlebt haben, bestätigten die Bedeutung dieser Wahrheit und ihre Gegenwart ließ dumme Fragen sofort verstummen. Vielleicht aber verhinderten sie nicht nur dumme Fragen, sondern auch solche, die es ermöglicht hätten, Familientraditionen zu objektivieren, sie vor einem weiter reichenden Hintergrund oder mit den Augen Anderer zu betrachten. Nicht zuletzt wurde diese Konfrontation durch die äußeren Bedingungen, in denen sich Polen befand, noch zusätzlich erschwert.

Sicher reagierten nicht alle so radikal wie meine Mutter, die in der Umgestaltung des ehemaligen Lagers in ein Museum den reinen Horror erblickte. Die Überzeugung oder das Gefühl, die „Besichtigung” von Auschwitz profaniere die Tragödie von Millionen Menschen, war aber keine Seltenheit. Dieser Ort lässt sich nicht wie ein Stück aus der Vergangenheit besichtigten, auch nicht wie ein Schlachtfeld, das mit dem Ruhm der gefallenen Verteidiger nationaler Freiheit verbunden ist. Vielleicht genügt es auch nicht, nur wissen zu wollen, wie es damals tatsächlich war. „Das ist völlig sinnlos”; das, auch wenn sich wer weiß wie viele Feststellungen dieser Art angesammelt haben, lässt sich nicht verstehen. Nötig ist etwas anderes: man muss sehr für sie beten.


Im Kontext des Glaubens


Der Lichtkreis, den hunderte von Lampen schaffen, die das symbolische Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Lager auf dem Friedhof umgeben, bezeichnet von Beginn an den für mich und – vermutlich – die Mehrheit der Polen den einzig möglichen Ort, um dieser Vergangenheit zu begegnen. Mit dem, was passiert ist, kann man sich nur im Kontext des Glaubens angemessen auseinandersetzen. Der Glaube, auch wenn er in jedem menschlichen Herz schwankend wie ein einzelnes Flämmchen im Novemberwind ist, versammelt die Menschen zu einem Kreis, der ihre Lichter vor dem Wind schützt und einen Raum schafft, in dem über das geschwiegen wird, worüber man nicht zu sprechen vermag – weder miteinander, noch auch zu Gott. Und dadurch auch zu denen, die bei Gott sind. So schweigt man nicht mehr nur über die Ereignisse, die niemand ungeschehen machen kann, sondern auch über sie, die Bekannten und Unbekannten, die in Seiner Hand sind und für Ihn – leben. Dann ist es möglich, auf ein Verstehen bis ins Letzte zu verzichten, ohne auf ein Weiterleben zu verzichten.

Dieser einfache Lichtkreis verbreitet darüber hinaus aber auch das Licht des Märtyrertums all derjenigen, die mit ihrem Leiden bewiesen haben, was es heißt, im Glauben auszuharren. Sie bezeugten uns, dass Gott diese Haltung stützt und festigt. Der erste, über den eine solche Kunde von Mund zu Mund ging (an einer offiziellen Verbreitung solcher Propaganda lag den kommunistischen Machthabern nichts), war Pater Maximilian Kolbe. Sein Opfer für einen Mitgefangenen ließ die Hoffnung greifbar werden, dass Menschlichkeit noch möglich ist, dass man sie suchen und verteidigen muss – zwischen den Eckpfeilern Glaube, Liebe, Hoffnung. Das war besonders wichtig in Zeiten, als der Terror – obwohl nach anderen ideologischen Regeln angewandt und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt schwächer – ein spürbarer Kontext für jeden war, der sich nicht fürchtete, über das eigene Schicksal und die eigene Menschlichkeit nachzudenken. Deshalb wurde Pater Kolbe (lange bevor er durch die Kirche selig- und später heiliggesprochen wurde) in Polen ein wesentlicher Schlüssel für das Fragen nach Auschwitz. Daran schlossen sich später Erzählungen über andere Helden der Lager an: Janusz Korczak, Stanislaw Leszczynski und Edith Stein wurden mit Hilfe des selben Schlüssels verstanden, ohne dass man nach ihrer religiösen Zugehörigkeit frage: es ging um den Glauben an Gott und an den Menschen, um Hoffnung für den Menschen.

Diese Linie des Denkens über Auschwitz war für mich die einzig mögliche bis zum Ende der siebziger Jahre. Ihre Krönung aber stellte ein anderes Erlebnis dar, das ich hier erwähnen möchte.



Dialog an der Schwelle von Auschwitz

hrsg. v. Manfred Deselaers

Das Buch "Dialog an der Schwelle von Auschwitz" versammelt Vorträge, die während der Seminare „Am Rande von Auschwitz“ im Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim gehalten wurden. Die Autoren sind: Manfred Deselaers, Halina Birenbaum, Wieslaw Jan Wysocki, Marian Kolodziej, Teresa Swiebocka, Lukasz Kamykowski, Sacha Pecaric, Klaus Kienzler, Michael de Goedt, Marek Nowak, Hanspeter Heinz, Michael A. Signer.

Diese Studientage, ursprünglich nur für polnische Studierende geplant, sind in den vergangenen Jahren langsam zu internationalen und interreligiösen Begegnungen gewachsen. Wir haben jüdische und christliche, deutsche, polnische, amerikanische und israelische Referenten und Teilnehmer gesucht, die bereit waren, sich auf eine Begegnung „an der Schwelle von Auschwitz“ einzulassen. Dabei sprachen die Referenten vor allem über sich selbst, nicht über Andere: Deutsche über die deutsche Perspektive, Polen über die polnische, Christen über die christliche und Juden über die jüdische. So entstand eine Atmosphäre des gegenseitigen Zuhörens und des Versuches, einander zu verstehen.

Das Zeugnis der Menschen, die mit viel Mut und Ehrlichkeit von ihrem Leben gesprochen haben, sollte nicht verloren gehen. Auf der Erde von Auschwitz hat jedes Wort besonderes Gewicht, nicht nur in Bezug darauf, wovon es sprechen will, sondern auch, und vielleicht in diesem Fall besonders, in Bezug darauf, wo es gesprochen wurde. Wer diese Vorträge liest, sollte daran denken. Das Buch beansprucht nicht, die Fragen nach Auschwitz zu beantworten. Es will vielmehr eine Hilfe sein, Fragen zu stellen und zu zeigen, dass sie jeden Menschen betreffen.



Dialog an der Schwelle von Auschwitz.
Hrsg. von Manfred Deselaers

Verlag Wydawnictwo UNUM
Zentrum für Dialog und Gebet Osiwecim
Krakau 2003
228 S.; 15,- Euro; Bei Abnahme von mind. 10 Exemplaren: 10 €.
Portokosten übernimmt der Verlag !

Bestellung bitte richten an:
Wydawnictwo UNUM
ul. Kanonicza 3
31-002 Kraków
POLEN
tel./fax +48 (12) 422 56 90
e-mail: unum@ptt.net.pl



Zweites Bild: Die Papstmesse im Lager


Die zweite Erinnerung stammt aus den ersten Monaten meiner Zeit als Kaplan, aus dem Juni 1979.


Auf der ersten Reise des neu gewählten Papstes Johannes Paul II. war auch eine Heilige Messe im ehemaligen Lager von Auschwitz-Birkenau vorgesehen. Den Neupriestern, zu denen ich gehörte, wurde empfohlen, selbstständig nach Oswiecim zu fahren, um während der Messe beim Austeilen der Heiligen Kommunion zu helfen. Trotz verschiedener Hindernisse gelang es mir rechtzeitig, an den angewiesenen Platz zu kommen, auf dem sich die Pilger zwischen Barackenruinen des Geländes in Birkenau zusehends dichter drängten.

Viele haben die Predigt des Papstes zu dieser Messe bereits analysiert. Ich habe von ihr damals nicht viel in Erinnerung, außer dem, was der ganzen Zelebration eine besondere Stimmung verlieh:  großer Respekt vor allen Opfern dieses Lagers, wer auch immer sie waren. In meiner Erinnerung bleibt für immer das Bild der Kommunionausteilung an tausende Lebende an einem Ort, der für tausendfachen Tod geschaffen worden war. Und in mir wuchs die Überzeugung: Gott gibt dem Tod nicht das letzte Wort. Es war dies die Erfahrung einer hartnäckigen Treue Gottes, in der Er unerschütterlich auf die Menschen zugeht, unabhängig davon, wo diese sich gerade befinden, wenn nur ihr Glaube Raum schafft, sein erlösendes Wort zu empfangen. In seinem Namen ging ich, vorsichtig, damit ich nicht in ein Loch in den Fundamenten der Baracken oder über die Sachen eines Pilgers stolperte, durch Reihen sich hoffnungsvoll reckender Köpfe, erinnerte an die Worte der Verheißung, nahm das Glaubensbekenntnis entgegen und verteilte das Brot des Lebens. Ich dachte mit einer sehr großen Dankbarkeit an die Demut und die Stille Gottes, der in einer so einfachen Art den Erniedrigten seine Treue erweist, die Schwachen in der Hoffnung stärkt und sich der Arroganz der Spötter, Mörder und Mächtigen dieser Welt entgegenstellt: Er diskutiert nicht mit ihnen, streitet sich nicht, sondern schenkt um so nachdrücklicher Leben; göttliches Leben der Liebe, mächtiger als der Tod.

Glaube und Hoffnung, welche die hier auf diesem Friedhof für die Toten Betenden begleitete und die ich aus meiner Kindheit in Erinnerung behalten hatte, erfuhren an dieser Stelle ihre Bestätigung und Erfüllung.


Ich dachte damals, dies sei bereits das letzte Wort Gottes zu Auschwitz, und alles, was man über diesen Ort sagen konnte und musste, sei bereits vor meinen Augen geschehen. Nur kurze Zeit später überzeugte ich mich davon, dass dem jedoch nicht so ist. Doch bevor ich davon spreche, ein paar Worte als Kommentar zu dieser unvergesslichen Erfahrung.


Zweiter Kommentar


Ich möchte gerne erklären, warum diese Erfahrung – man möchte sagen, eine sehr katholische und sehr polnische – mir zur Interpretation jener Verbrechen, die größtenteils gegen Juden verübt, durch eine nachchristliche Ideologie gerechtfertigt und von zumeist christlichen Tätern ausgeführt wurde, als völlig ausreichend erschien . Denn ich habe Grund zur Annahme, dass es der großen Mehrzahl meiner Landsleute ebenso gegangen ist. Ich denke auch, dass viele bis heute darin den einzigen Zugang sehen, die Wirklichkeit von Auschwitz zu denken und zu fühlen.


Die zweigeteilte Welt Polens meiner Jugend


Meine ganze Kindheit wurde geprägt durch ein Polen, das von einer kommunistischen Führungsmannschaft regiert wurde, die ihm seit der Befreiung durch die Rote Armee aufgezwungen worden war. Sie drückte der Gesellschaft ihr Weltbild und ihre einzig wahre atheistische Ideologie auf. In dieser Situation war die Welt aufgeteilt in zwei Lager, in „wir” und „sie”: wir, die Gläubigen, Polen, Katholiken und ehrlichen Leute, und sie, die Roten, Kommunisten, Atheisten, offensichtliche Karrieristen, die sich an das Regime verkauften… Es gab eine Welt des Glaubens und eine Welt des Unglaubens; eine Welt, die mit Gott rechnet und eine, die sich gegen Gott stellte.

Es ging nicht darum, ob diese Teilung wirklich so scharf war. Es war klar, dass sie es nicht war und sogar die Grauzone sehr breit war. Natürlich gibt es auch unter den „Gläubigen” solche und solche; selbstverständlich finden sich auch unter den „Ungläubigen” ganz Anständige; es gibt sie unter den Russen, und – wie ich später herausfand – selbst unter den Deutschen.

Es ging um die grundlegende Frage: Gibt es einen Gott oder nicht – eine dritte Möglichkeit war nicht in Betracht zu ziehen. Jede weitere Interpretation der Welt war nur eine Konsequenz, die sich aus dieser Frage ableitete. Theoretisch war klar, dass die Welt des Glaubens nicht einheitlich ist: dass es (irgendwo) Christen anderer Konfessionen gab, dass (irgendwo) Gläubige anderer Religionen, etwa gläubige Juden, lebten. Aber in der alltäglichen Wirklichkeit traf man sie nicht, konnte sie sich also nach eigenem Bilde vorstellen und theoretische Unterschiede wurden nicht wichtiger genommen als Unterschiede in Kleidung und Sitten. Unbewußt waren aus dieser Perspektive betrachtet anständige Juden 2, die (auch) in den Lagern umgekommen waren, im Grunde nur etwas andere Polen, nur etwas andere Katholiken: auch sie glaubten an Gott und beteten während sie in den Tod gingen. Die Deutschen dagegen, die Polen 1939 überfielen (nur die waren für lange Zeit wirklich präsent in unserem Alltag durch die Erinnerung der Generationen unserer Eltern und Großeltern), waren einfach eine noch schlimmere Version von Atheisten als die Kommunisten.3 Sie quälten in den Lagern so viele Priester! In dieser Vorstellung kam ihnen auch keine andere Rolle zu, wenn man über den Glauben oder die Kirche nachdachte. Ich erinnere mich, dass ich als Vierzehnjähriger in der Schule vor dem Problem stand, dass der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe über die Versöhnung für viele ein Überraschung darstellte (für viele tatsächlich, für andere angeblich, entsprechend der kommunistischen Propaganda). Eine meiner Entdeckungen war4: auch sie (die Deutschen) haben Bischöfe (= sind Gläubige!?).

Vor diesem Hintergrund ist einfacher zu verstehen, was ich über meine Erfahrung während der Papstmesse im Lager gesagt habe. Kraft des katholischen Ritus in geistiger Verbindung mit dem lebendigen Gott, für den alles lebt und der die Hoffnung der Massen der Gläubigen belebt, sah ich die Messe nie in einem Widerspruch zur Masse der Ermordeten, im Gegenteil – es war für mich, für uns, die lebendige Fortsetzung jener Welt der Gläubigen, die die Gottlosen mit Gewalt vernichten wollten. Gott hatte sich seines Volkes angenommen.


Das Polnische Erinnern an das Lager


Um zu erklären, warum das Stichwort „Auschwitz” bei uns so andere Assoziationen weckt als anderswo, scheint mit ein weiterer Exkurs notwendig, der mit dem Vorigen in Verbindung steht und nur vor dessen Hintergrund verstanden werden kann. Polen haben eine eigene Tradition des Lagers Auschwitz; sie hatten diese bereits, bevor sie vom Zusammenhang zwischen Auschwitz und der Judenvernichtung wussten, selbst bevor diese erfolgte. „Tylko swinie siedza w kinie, a Polacy w Oswiecimie” [Im Kino sitzen nur Schweine, und Polen sterben in Auschwitz] – schrieben Leute aus dem Untergrund (zum Boykott aufrufend) an die Wände derjenigen Kinos, die die „höhere Rasse” für die nichtgermanische Bevölkerung im Generalgouvernement zugelassen hatten. Das geschah schon zu der Zeit, als das Konzentrationslager Auschwitz der Ausweitung des Terrors im unterworfenen Land diente und noch bevor es ein Vernichtungslager hauptsächlich für Juden wurde. Die Judenvernichtung (so erinnere ich mich zumindest an die Erzählungen meiner Kindheit) verband sich für die Generation meiner Eltern eher mit den von Deutschen eingerichteten Ghettos und deren „Liquidierung”; das wichtigste Symbol war für uns der Warschauer Ghettoaufstand. Auschwitz dagegen verband man mit der deutschen Besetzung Polens, mit der erneuten, durch Hitler versuchten Auslöschung unseres Landes aus der Geschichte und dem Leben Europas, mit dem Heldentum derjenigen, die sich unter den unmenschlichsten Bedingungen nicht hatten brechen lassen, aber auch (wenn auch nicht eindeutig) mit der Erinnerung an die, die gebrochen wurden, bevor man sie umbrachte. Irgendwie war auch bekannt, dass Menschen dann aus ganz Europa hierher kamen, in Güterwaggons, Transporte von Opfern direkt in die Gaskammern. Wer waren diese Leute? Die, gegen die sich der Wahnsinn des gottlosen Dritten Reiches richtete – also auch Juden, aber in welchem Ausmaß, das wusste man nicht.


Die kommunistische Verdrehung der Wahrheit


Das Aufdecken der ganzen Wahrheit über Auschwitz war unter den Bedingungen der Volksrepublik Polen umso schwieriger, als man stets von einer kommunistischen Manipulation der Fakten über Auschwitz ausgehen musste (Verstärkung der Rolle, die der kommunistische Widerstand im Lager gespielt hatte), es aber keine Möglichkeit einer objektiven Überprüfung gab. Es wurde zwar festgestellt, dass sich die offiziell (z.B. in Schulen) verbreitete Version nicht völlig mit dem deckte, was die ältere Generation überlieferte. Doch das Bild, das der Massenpropaganda gegenüberstand, setzte sich aus einzelnen Erinnerungen zusammen, in denen meistens das Konzentrationslager den Ort der totalen Vernichtung überdeckte, und in denen keinerlei Statistik vorkam. Es blieb nur der Glaube an die Zahlenangaben, die von der Propaganda verbreitet wurden: vier Millionen Opfer aus allen von Deutschen unterworfenen Ländern Europas. Dass es sich in allen diesen Ländern vor allem um die Vernichtung von Juden handelte, blieb ohne Beachtung.


Die weitere Geschichte: Die vielen Antlitze von Auschwitz


Kurz nach der erwähnten Papstreise Johannes Paul II. nach Polen begannen sich meine Ansichten über Auschwitz schnell zu ändern. Hauptsächlich lag das an einer Situation, die für einen Polen in diesen Zeiten völlig untypisch war. Im Sommer 1979 reiste ich zur Fortsetzung meiner theologischen Studien nach Rom.


Kurz nach der Ankunft in Italien begegnete ich erstmals dem Vorwurf, die Zahl der Opfer von Auschwitz sei doch sehr übertrieben. Als ich versuchte, meine bis dahin unerschütterliche Überzeugung mit den mir zugänglichen Daten zu begründen, bemerkte ich in ihnen zum ersten Mal Lücken, die eine überzeugende Argumentation unmöglich machten. Auf der anderen Seite konnte ich der vorgeschlagenen Minimalisierung der Tragödie von Auschwitz nicht zustimmen. Die einmal aufgestellten Fragezeichen in einer Sache, die mir nie gleichgültig gewesen war, verschärfte meine Aufmerksamkeit jedes Mal dann, wenn ich Gelegenheit hatte, etwas Neues zu erfahren und meinen bisherigen Gesichtspunkt zu erweitern.

Die wichtigste und für mich sehr unerwartete Möglichkeit bot sich (bereits nach Polen zurückgekehrt) in der Begegnung mit dem Denken des Schweizer katholischen Theologen Charles Journet. Auf der Suche nach einem theologischen Thema in Bezug auf die Kirche, bemerkte ich in seinem Denken einen Wendepunkt, der genau da einsetzte, als ihn die Nachricht von der Vernichtung der Juden in den von Deutschland unterworfenen Ländern erreichte, speziell über Auschwitz (im Sommer 1944). Es war ein Blick aus einer anderen Perspektive als jener, mit der ich aufgewachsen war. Aber es war eine Perspektive, die Auschwitz ernst nahm. Aus ihr ergab sich die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen der Katholischen Kirche und Israel zu überdenken. Ich begann, mich mit diesem Thema zu beschäftigen.5

Meine Studien zur Beziehung Israel – Kirche begannen einige Monate bevor das Problem des Karmeliterinnenklosters in Oswiecim in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet. Kurz danach entstand beim Polnischen Episkopat die erste Institution für den Dialog mit den Juden: Ich nahm an einem durch sie organisierten Kolloquium in Krakau und Tyniec teil. Kurz darauf kam der Priester Manfred Deselaers  nach Polen und wir lernten uns kennen. All das zeigte mir Auschwitz von einer neuen Seite ¼


Schlussbetrachtung


Die Geschichte ist für mich immer noch lebendig und offen. Ich weiß, dass meine Blickweise jetzt nicht mehr jener entspricht, wie sie die Mehrzahl meiner Landsleute pflegt, die keine Entwicklung durchlaufen haben, wie ich sie im letzten Abschnitt meiner Erinnerungen beschrieben habe. Ich denke dennoch, dass ich bei aller Distanz, die ich dank dieser jüngsten Erfahrung zum "polnischen" Blick auf Auschwitz und der damit verbundenen Einseitigkeiten gewonnen habe, seiner wesentlichen Eigenschaften nicht untreu geworden bin. Ich denke auch deutlich gemacht zu haben, dass diese polnische Einstellung mir weiterhin so nahe ist, dass jeder meiner Gedanken zu Auschwitz von ihr berührt wird: jener Ethos des Respekts für diese ermordeten Menschen und ihre Tragödie, den ich meiner polnischen Heimat verdanke. Ich hoffe, auch meinen Lesern in einem bestimmten Grad geholfen zu haben, diese Perspektive zu verstehen. Sie ist für viele vielleicht neu, gleichzeitig aber für das Verstehen des Hintergrundes gewisser Spannungen wichtig, die im Umfeld des Lagers noch immer existieren.


Übersetzung: Bernd Böttcher


ANMERKUNGEN



1 27. Mai 1942.
2 In Wirklichkeit wusste man über die Unterschiede nicht viel mehr, als dass sie an Orten eine Kappe aufsetzten, an denen andere sie abnahmen und umgekehrt.
3 Man konnte sie sich nur schwer anders als in Uniform vorstellen.
4 Wenn ich sage "Entdeckung", meine ich die Notwendigkeit, etwas ernsthaft in Betracht zu ziehen, was bisher nur eine gehörte und theoretisch zur Kenntnis genommene Information gewesen war.
5 Ermutigt wurde ich dazu von meinen Lehrern der Fundamentaltheologie, Pater René Latourelle SJ und Adam Kubis.


Der Autor

LUKASZ KAMYKOWSKI


geb. 1951 in Krakau, Professor für Fundmentaltheologie, studierte in Krakau, promovierte an der Päpstlichen Gegoriana Universität Rom. Stellvertretender Rektor an der Päpstlichen Theologischen Akademie in Krakau (PAT), Direktor des Interdisziplinären Instituts für Ökumene und Dialog an der PAT, Berater des Rates der Polnischen Bischofskonferenz für Ökumene, des Rates für den interreligiösen Dialog und des Rates für Wissenschaft, Autor zahlreicher theologischer Bücher. Kamykowski gilt als einer der derzeit wichtigsten und einflussreichsten katholischen Theologen im katholisch-jüdischen Dialog in Polen.


Der Herausgeber

MANFRED DESELAERS


der Herausgeber des Buches "Dialog an der Schwelle von Auschwitz", dem der Beitrag von Lukasz Kamykowski entnommen wurde, ist katholischer Prieser des Bistums Aachen. Seit 1990 lebt und arbeitet er in der Pfarrgemeinde St. Mariae Himmelfahrt in der Stadt Oswiecim (Auschwitz). 1996 Promotion an der Päpstlichen Theologischen Akademie in Krakau ("Und Sie hatten nie Gewissensbisse?" Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Leipzig 2. Aufl. 2001), wo er Vorlesungen über Theologie nach Auschwitz hält. Er leitet zudem das Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim, wo er sich der deutsch-polnischen und christlich-jüdischen Versöhnungsarbeit widmet. Der polnische Rat der Juden und Christen verlieh ihm im Juni 2000 den Titel "Mensch der Versöhnung", und vor wenigen Tagen, am 26. Januar 2005, erhielt er den Verdienstorden der Republik Polen, die an Personen verliehen wird, die sich seit Jahren für die Bewahrung der Erinnerung und für Erziehung im Umfeld der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau einsetzen.

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