Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 137

März 2011

Seit Bundespräsident Christian Wulffs im Grunde lapidarer Feststellung, dass auch der Islam zu Deutschland gehöre, haben Teile der Politik und Öffentlichkeit die "christlich-jüdische Kultur", "jüdisch-christliche Traditionen" und/oder das "jüdisch-christliche Erbe" Europas wiederentdeckt - und führen es im Sinne einer deutschen Leitkultur gegen die Äußerung des Bundespräsidenten ins Feld. Abgesehen davon, dass all diese jüdisch-christlichen Kombinationsfiguren reichlich geschichtsvergessen sind, erweist sich vor allem auch ein weiterer Aspekt in dieser Debatte als problematisch: Die neue Feier eines vorgeblich tausendjährigen Miteinanders von Juden und Christen wird all zu oft zu einer politischen Instrumentalisierung der Juden gegen den Islam mißbraucht. Vor diesem Hintergrund setzt sich der katholische Theologe Hanspeter Heinz in nachfolgendem Beitrag kritisch mit den Thesen dieser jüdisch-christlichen Kombinationsrhetorik auseinander und ordnet ihre historischen und theologischen Bezüge.

Hanspeter Heinz leitet den Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, der in diesem Jahr sein 40jähriges Jubiläum feiern kann. Sein Beitrag "Kein banaler Philosemitismus. Zur Rede von der 'jüdisch-christlichen' Kultur", der heute als ONLINE-EXTRA Nr. 137 erscheint, ist in gedruckter Fassung erstmals in der Zeitschrift "Herder Korrespondenz", Heft 2, 2011, erschienen.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 137


Kein banaler Philosemitismus.

Zur Rede von der "jüdisch-christlichen" Kultur


HANSPETER HEINZ

Horst Seehofer dröhnte in der im Herbst letzten Jahres wieder einmal heftig entbrannten Leitkultur-Debatte, diese deutsche Leitkultur werde „bestimmt von der christlich-jüdischen Wertetradition“ und erklärte im selben Atemzug, was das bedeute: „Multikulti ist tot!“ Bundeskanzlerin Angela Merkel sprang ihm bei, als sie auf die „prägende Kraft“ der christlich-jüdischen Tradition für Deutschland verwies, die „über Jahrhunderte, ja Jahrtausende“ zurückreiche. Was für eine mutige Umschreibung der Geschichte! Noch vor 100 Jahren stand das gesamte rabbinische Denken unter Verdacht, sich abzuschotten, genuin fremd zu sein, unsere christliche Kultur zu unterminieren, also genau das zu tun und zu sein, was jetzt angeblich alle Muslime tun und sind. Das Üble an der neuen Feier des tausendjährigen Miteinanders von Juden und Christen ist nicht, dass damit eine soziohistorische Gemeinsamkeit unterstrichen werden soll, die es in Wahrheit erst seit 60 Jahren gibt. Die behauptete Großökumene dient im schärfer werdenden „Kampf der Kulturen“ einzig und allein als Ausschlussverfahren, sie wird als Leitkulturplanke eingezogen, als Schutzwall gegen das Meer der Millionen Muslime, die sich angeblich hier einnisten, um unser jüdisch-christliches Wesen zu bedrohen.


Auch der Islam gehört zum kulturellen Erbe Europas

Vermutlich kommt die Bezeichnung „jüdisch-christliches Europa“ vom amerikanischen Englisch her. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts fühlten sich die Juden so weit in ihre US-amerikanische Gesellschaft integriert, dass sie in der politischen Sprache auf die Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum hinwiesen und sich damit durchsetzen konnten. Erst viel später haben deutsche Politiker diese Formulierung übernommen. Zu Konrad Adenauers Zeiten war noch selbstverständlich vom christlichen Abendland die Rede, das es gegen den Bolschewismus zu verteidigen gelte.
Doch seit etwa einem Jahrzehnt ist die Formel vom jüdischchristlichen Erbe Europas beziehungsweise der jüdisch-christlichen Kultur im Munde von Politikern und kirchlichen Repräsentanten geläufig. In der heftigen Debatte um eine europäische Verfassung betonten kirchliche Autoritäten vor fünf Jahren, das Zusammenwachsen der europäischen Staaten müsse mehr als ein wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Prozess sein, Europa müsse eine „Seele“ haben, die sich doch dem jüdisch-christlichen Erbe verdanke. Deshalb forderten sie, Gott in der Verfassung ausdrücklich zu erwähnen, wogegen andere einwandten, die Rede von Gott sei doch wohl eher eine Sache der Kirche als staatlicher Instanzen. Ist der Bindestrich „jüdisch-christlich“ nur der Political Correctness geschuldet, um sich von der Jahrhunderte alten Diskriminierung der Juden durch die Kirche zu reinigen – und das nach der Shoa?
Und wo bleibt eigentlich der Islam? Er gehört doch auch zum kulturellen Erbe Europas, wenn man bedenkt, dass er 780 Jahre bis zu seiner Vertreibung im 15. Jahrhundert in Spanien eine beachtliche Kultur entfaltete und das Osmanische Reich über 500 Jahre bis 1878 große Teile des Balkans verwaltete. Auch der Islam gehört zu Europa, aber das ist ein eigenes Thema.



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Herder Korrespondenz




Heft 02.2011 


»Schicksalsgemeinschaft Weltkirche
»Der Reiz der Kirche für den Künstler
»Kirchenkritische Organisationen haben Einfluss
»Der türkisch-amerikanische Prediger Fethullah Gülen
»Johannes Pauls II. schwieriges Erbe

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Europa – der christliche Kontinent

Von außen betrachtet, ist Europa immer noch ein christlicher Kontinent. Das zeigt die seit dem 17. Jahrhundert unveränderte Religionskarte: Rechnet man mit rund 500 Millionen Menschen in Europa (diesseits des Urals), so sind etwa die Hälfte davon Katholiken und ein Drittel orthodoxe und evangelische Christen. Die anderen Weltreligionen spielen in Europa nur eine marginale Rolle, mit Ausnahme des Islam, der im Südosten über einige geschlossene Territorien verfügt und auch im Bereich der Europäischen Union mit etwa 18 Millionen Anhängern präsent ist. Der jüdische Bevölkerungsanteil beträgt etwa 1,3 Millionen; 1946 gab es in Europa noch 4,4 Millionen Juden. Die Entstehung des politischen Europa beginnt mit dem Frankenreich.
Fortan grenzt sich das mittelalterliche Europa einerseits vom islamischen Südrand des Mittelmeers, andererseits vom byzantinisch beherrschten Ost- und Südosteuropa ab. Sein geistiger Kristallisationspunkt wurde die römisch-lateinische Kirche. Die Frankenkönige und ihre Nachfolger treten die Nachfolge des Imperium Romanum an; sie verstehen sich zugleich als Vormacht des Christentums und als Hüter und Erneuerer der antiken Bildung und Kultur (Karolingische Reform). Das werdende Europa wird getragen von Romanen, Germanen und Slawen.
Die auffallendsten Wesenszüge des mittelalterlichen Europa sind Rationalität, Reform und Freiheit. Sie markieren zugleich den Unterschied zum orthodoxen Christentum, das diese Entwicklungen nicht mitvollzogen hat und sich von der Zerstörung Konstantinopels im 4. Kreuzzug (1204) und der Eroberung des Byzantinischen Reiches durch die Osmanen (1453) nie mehr erholt hat.
Klöster und Kathedralschulen schufen eine ganz Europa formende Bildungstradition. Die Tradierung der Kirchenväter erfuhr im 11. Jahrhundert eine wesentliche Zäsur: Die „Scholastik“, die verschiedene Schulen ausbildete, war die Anstrengung der Vernunft, die Bibel und die Lehren (Sentenzen) der Kirchenväter zu systematisieren und rational zu überprüfen. Dazu bedienten sich die Scholastiker wie Thomas von Aquin der Originalschriften der großen griechischen Philosophen (Plato, Aristoteles), die ihnen durch arabische Gelehrte (Averroës, Avicenna) erstmals zugänglich wurden. Glaube und Vernunft befragten sich gegenseitig. Thomas von Aquin und Meister Eckhart studierten auch Moses Maimonides (gestorben 1204), der als „der philosophische Jude“ galt – freilich, um ihn zu widerlegen.

Die Vitalität der europäischen Christenheit erwies sich nicht nur in der missionarischen Ausbreitung des Glaubens, sondern ebenso in immer neuen Reformen von oben und von innen her. Hier sind besonders die Ordensbewegungen zu nennen. Nachdem die Kirchenleitung die Jahrhunderte lang geforderte „Reform an Haupt und Gliedern“ verweigert hatte, griffen die Reformatoren schließlich den Reformgedanken auf, was zur westlichen Kirchenspaltung führte.

Ein drittes Charakteristikum Europas ist schließlich das Ringen um Freiheit, einerseits in der Verteidigung gegen fremde Eroberer, andererseits in der Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser, die das ganze Mittelalter hindurch währte. Der Papst erlangte schließlich die „Freiheit der Kirche“, ihre Unabhängigkeit von der kaiserlichen Autorität. Doch die Freiheit im Innern der Kirche wurde immer wieder durch die Verurteilung von „Ketzern“ unterdrückt. Inquisition und Hexenverbrennung gehören zu den dunkelsten Kapiteln der Freiheitsberaubung durch die Kirche. Weder politisch noch kirchlich bildete „die Christenheit“ je eine institutionelle Einheit.


Emanzipation der Weltlichkeit von kirchlicher Bevormundung

Spätestens Mitte des 17. Jahrhunderts endete das Mittelalter, dessen seit Leopold von Ranke klassisch gewordene Momente die römisch-germanischen Völker, die Antike und das Christentum sind. Der tiefste geschichtliche Einschnitt, mit dem die Periode der „Neuzeit“ beginnt, so Ernst Troeltsch, war nicht die westliche Glaubensspaltung, sondern das Ende der Konfessionskriege und die Säkularisierung der Politik. Da sich die Konfessionen als unfähig erwiesen, Frieden zu garantieren, übernahm der religionsneutrale Staat diese Aufgabe und wurde zum Garanten der Toleranz. Bürgerrechte wurden durch die Revolutionen der Aufklärungszeit erstritten.

Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil bekannte sich die katholische Kirche zu Demokratie und Menschenrechten als evangeliumsgemäßen Forderungen, wenngleich sie sie im eigenen Raum immer noch nicht zulässt. Man muss die Säkularisierung nicht pauschal als Verweltlichung und Enteignung von Kirche und Christentum werten, man kann sie auch als Emanzipation der Weltlichkeit von kirchlicher Bevormundung deuten. Freilich zeigt die freigesetzte Weltlichkeit in unserem Jahrhundert auch ihre gefährliche Kehrseite, die Möglichkeit der Selbstzerstörung von Leben und Welt. Die Vorstöße einer zügellosen Weltbeherrschung durch moderne Wissenschaft und Technik haben den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung längst in kritische Distanz umschlagen lassen.


Säkularisate der christlichen Tradition


Eine Fortsetzung beziehungsweise ein direktes Anknüpfen an das christliche Mittelalter ist nach den Brüchen von Säkularisierung und Revolutionen nicht mehr möglich. Aber trotz der schwindenden Prägekraft von Christentum und Kirche gibt es Säkularisate der christlichen Tradition. Viele theologische und ethische Impulse sind in gesellschaftliche beziehungsweise staatliche Strukturen eingeflossen – auch wenn sie nicht ohne weiteres als „christlich“ identifizierbar sind. Das gilt etwa für die Systeme sozialer Sicherung, in denen Diakonie beziehungsweise Caritas ihr Echo finden, die unbedingte rechtliche und moralische Anerkennung der Personenwürde, in der neben Ideen der Aufklärung das biblische Menschenbild nachklingt, die Etablierung des „Berufs“, den namentlich Martin Luther als weltliche Realisierung von Gottesdienst begriff.
Mit dieser Überführung theologischer Ideen in weltliche „Werte“ und Handlungsstrategien hat das Christentum kulturund gesellschaftsprägend gewirkt, es hat – bei aller Fehlerhaftig- und Anfälligkeit – wesentlich zum Aufbau einer „sozialen“ Politik und Marktwirtschaft, eines sozialverpflichtenden Bürgertums und einer auf Konvivenz angelegten Gesellschaft beigetragen. Heute wissen wir, dass dieselben „Werte“ ebenso in der 2000-jährigen jüdischen Tradition verankert sind. Denn die Ethik Jesu war jüdische Ethik, und die ethischen Postulate von Christen und Juden weisen in dieselbe Richtung.

Seit den Zeiten von Caesar gibt es die jüdische Religionsgemeinschaft in Europa, zuerst in Rom. Dort lebt die älteste, ununterbrochen existierende Gemeinde des Kontinents. Aus dem Jahr 323 stammt die erste urkundliche Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Deutschland: in Köln, 34 Jahre vor der ersten christlichen Gemeinde. Selbst nach der Niederschlagung der beiden jüdischen Aufstände in Judäa galt im Römischen Reich das Judentum weiterhin als „erlaubte Religion“, eine Duldung, woran sich auch durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert nichts änderte.

Das erste mittelalterliche jüdische Zentrum war 780 Jahre lang Spanien, die meiste Zeit unter toleranter arabischer Herrschaft, bis die „christliche“ Reconquista Muslime und Juden 1492 des Landes verjagte. Das andere wichtige Zentrum war seit dem 10. Jahrhundert das Rheinland mit den drei „Heiligen Gemeinden“ Speyer, Worms und Mainz, das prägend für alle Juden Mittel- und Osteuropas und für ihre Nachkommen in den USA und Israel wurde. Nach Phasen blutiger Pogrome wurden schließlich im 15. Jahrhundert die Juden aus den Städten des Römischen Reiches ausgewiesen. Der Schwerpunkt verlagerte sich ins Königreich Polen-Litauen, das vom 16. bis 20. Jahrhundert zu einem europaweiten Zentrum talmudischer Gelehrsamkeit wurde.
In Deutschland sind seit dem 16. Jahrhundert bis 1933 keine größeren Vertreibungen und Verfolgungen erfolgt. Auch in friedlichen Perioden waren die Juden immer Außenseiter, nie Teil der Mehrheitsgesellschaft. Sie selbst verstanden sich im 19. Jahrhundert durchaus als „Deutsche jüdischer Konfession“, als Teil des Staatsvolkes. Die Rede von einer über tausendjährigen jüdisch-christlichen Kultur ist eine Fiktion.


Ein theologisches Ärgernis

„Was uns trennt ist die Geschichte“, pflegte der 2007 verstorbene Brückenbauer zwischen Juden und Christen, der Judaist Ernst-Ludwig Ehrlich, zu wiederholen. Es sind zum einen die immer wiederkehrenden blutigen Exzesse gegen Juden. Den „gottlosen“ Juden traute man alles zu: Brunnenvergiftung, Hostienschändung, Ritualmorde, die für judenfeindliche Stimmung sorgten. Zum anderen waren die Juden zwar geduldet und nützlich, aber nie wurden sie geachtet wie etwa die griechischen und römischen Dichter und Denker. Der Zutritt zu den Zünften der Handwerker war ihnen im Heiligen Römischen Reich ebenso verwehrt wie der Erwerb von Grundbesitz, ausgenommen Häuser. Doch als Ärzte, vor allem als Händler und Geldverleiher wurden sie gebraucht, mussten für diese Dienste aber hohe Abgaben entrichten und Gewalt und Neid der Bevölkerung erleiden.

Im Unterschied zum kämpferischen Islam im Südosten Europas waren die Juden nie eine militärische Bedrohung. Weit mehr als die Muslime waren sie jedoch ein theologisches Ärgernis, weil sie sich konsequent weigerten, die doch offensichtliche Wahrheit des Christentums anzuerkennen. Selbst durch Zwangsdisputationen, Zwangspredigten und Zwangstaufen ließen sich diese „halsstarrigen, verstockten Juden“ nicht bekehren! Es sei angemerkt, dass gegen die Praxis aller anderen westeuropäischen Länder Papst Pius IX. Mitte des 19. Jahrhunderts die diskriminierende Politik gegenüber den Juden mit der Einführung des Ghettos und der Kennzeichnungspflicht im Vatikan wieder aufgenommen hat, ebenso wie die Wiedereinführung der Zwangspredigten: fünfmal jährlich mussten die Juden Missionspredigten hören.
Erst die Aufklärung brachte den Juden in den europäischen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach die hart erkämpfte bürgerliche Gleichstellung. Allerdings mussten sie einen hohen Preis zahlen: Die Mehrheitsgesellschaft legte ihnen die Aufgabe ihrer religiösen Identität nahe. Der Taufschein galt für viele Berufe – besonders an Universitäten und im übrigen Staatsdienst – als „Entrée Billet“ (Heinrich Heine) in die europäische Gesellschaft. Doch nicht wenige „weltliche“ Juden suchten zu dieser Zeit auch eine Rückkehr zu ihrer Tradition und orientierten sich am Vorbild von Franz Rosenzweig und Martin Buber. Beides hat die Shoa unter der Hitlerdiktatur zerstört.



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Enterbung der Juden durch das Christentum

An der Schwelle des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1965 die Wende der christlich-jüdischen Beziehungen eingeläutet hat, besuchte der jüdische Historiker Jules Isaac aus Frankreich Papst Johannes XXIII. Als Resultat seiner gründlichen Forschungen legte er dar: Die verhängnisvolle Weichenstellung im Verhältnis des Christentums zum Judentum sei die „Theologie der Verachtung“. Was das bedeutet, lässt sich in erschreckender Deutlichkeit an den Portalen gotischer Kathedralen wie Straßburg oder Bamberg in der Gegenüberstellung zweier schöner Frauengestalten „bewundern“: auf der einen Seite die siegreiche, von Gott erwählte Ecclesia, auf der anderen die besiegte, von Gott verworfene Synagoga. Es lässt sich nicht leugnen, dass die (un-)christliche Judenverachtung die Abwehrkräfte der Kirche gegen die Judenvernichtung der Nazis wesentlich geschwächt hat.

Ein Beispiel ist der Münchner Erzbischof Kardinal Michael von Faulhaber. Im Dezember 1933 predigte er über die katholische Hochschätzung des Alten Testaments. Er reklamierte es für das Christentum mit der Behauptung, es sei zwar im Judentum entstanden, aber eigentlich kein jüdisches Buch. Deshalb dürfe man die Abneigung gegen das zeitgenössische Judentum nicht auf das Alte Testament übertragen wie die Nationalsozialisten und die Deutschen Christen, die es als „Judenbuch“ verworfen hatten. Aufgrund seiner
Adventspredigten hat man den Mut des Münchner Erzbischofs bewundert. Im In- und Ausland galt er seitdem als Garant und geistiger Führer des katholischen Widerstandes. Solch hoher Erwartung konnte er freilich nicht entsprechen. Denn gegen „ehrliche Rassenforschung und Rassenpflege“ hatte er nichts einzuwenden. Auch waren seine Predigten vom klassischen Antijudaismus geprägt: Verworfenheit und Flucht als göttliches Stigma des „ewigen Juden“.
Zwar hatte die Kirche von Rom Mitte des 2. Jahrhunderts die Häresie des Markion verworfen, der das Alte Testament und den Weltenschöpfer ablehnte. Er konstruierte einen radikalen Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium, dem grausamen Gesetzes- und Schöpfergott und dem guten, durch Christus geoffenbarten Gott des Evangeliums. Durch diese Entscheidung gehört das Alte Testament zur Gründungsurkunde, zur Konstitution der Kirche. Aber die Kirche hat die Juden als erste und bleibende Adressaten ihrer Heiligen Schrift enteignet und sich selbst die wahre Auslegung des Alten Testaments als Hinweis auf den verheißenen Messias vorbehalten. So entspricht es der Theologie der Kirchenväter der ersten christlichen Jahrhunderte mit dem Auslegungsschema „Verheißung – Erfüllung“. Auch für die Zuordnung der alttestamentlichen zu den neutestamentlichen Lesungen in den heutigen liturgischen Büchern der römisch-katholischen Liturgie ist dieses Schema maßgeblich.

Zu allen Zeiten hat sich die jüdische Kultur die Errungenschaften der Mehrheitsgesellschaft zu Nutze gemacht. Doch es muss auffallen, dass sie seit dem 19. Jahrhundert auch unverhältnismäßig viele hoch bedeutsame Beiträge in die deutsche, europäische und weltweite Kultur einbringen konnte. Komponisten, Solisten und Orchester, Banker und Kaufleute, Dichter und Maler, Naturwissenschaftler, Philosophen, Schachmeister und Nobelpreisträger sind unter Juden besonders häufig. Nicht zuletzt hat das Judentum bahnbrechende Denker hervorgebracht. Das 1970 in den USA erwachte Interesse an Klezmer- Musik und an den chassidischen Geschichten schöpft den geistigen Beitrag des Judentums zur Kultur der Gegenwart keineswegs aus.

Aus welchen Quellen kommt wohl dieser jüdische Beitrag zur Kultur? Einige Phänomene können zu denken geben: Dass Juden in Wirtschaft, Bankwesen und Handel eine große Rolle spielen, ist nicht verwunderlich, da sie in diese Berufe gedrängt wurden. Seit 2000 Jahren sind Juden eine Minderheit, konnten keine Macht ausüben, Aber sie haben Widerstand gelernt und Selbstbehauptung. Rühren daher vielleicht bei Karl Marx der Aufschrei gegen Entfremdung und Unterdrückung und der Kampf für das messianische Ziel von Gerechtigkeit und Frieden?
Man kann auch an „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch denken oder an die Überwindung einer rein empirischen Psychologie durch die Frage nach Sinn bei Viktor Frankl. Hierzu der evangelische Theologe Jürgen Moltmann: „Der Gott Israels stellt nicht Recht und Unrecht fest, um Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem zu vergelten (…) Seine Gerechtigkeit ist auf Seiten der Opfer eine Recht-schaffende (…) und auf der Seite der Täter eine zu-Recht-bringende Gerechtigkeit.“


Das Judentum – eine ethische Religion

Das Judentum, die älteste Religion der Welt, ist vor allem eine ethische Religion, die das Handeln Gottes in der Geschichte und das Handelns der Menschen bedenkt. Juden haben nie ein spekulatives System von Gott und Welt entwickelt wie christliche Dogmatiker oder deutsche Idealisten. Wohl waren sie immer herausgefordert zur Verteidigung ihres Glaubens. Religion und Vernunft ist darum ein durchgängiges Thema ihres Denkens. Hat der Vorrang der Ethik bei Hans Jonas und Emanuel Levinas hier seinen Ursprung?
Ein amerikanischer Freund, Michael Signer, forderte ein: „Wer uns Juden und das Judentum schätzt, muss uns studieren. Denn für Juden ist Studium Gottesdienst.“ Vielleicht verdankt sich dieses Ethos der Kultur des Talmudstudiums. Vielleicht gibt es deshalb unter Juden so viele Wissenschaftler von Weltrang.

Aus all dem ergibt sich eine Reihe von Postulaten: Keine politische Instrumentalisierung der Juden gegen den Islam! Das fällige Religionsgespräch darf aus christlicher Sicht aber nie unterschlagen, dass das Verhältnis des Christentums zum Judentum einzig ist und in jeden Dialog mit einer anderen Religion einbezogen werden muss. Keine vollmundige Beschwörung einer jüdisch-christlichen Leitkultur! Solche Banalisierung ist eine Form von Philosemitismus, vor der man Juden bewahren sollte. Not tut eine nüchterne historische Untersuchung über die Verbindung des Judentums mit der deutschen Kultur und dem Christentum.

Zur weiteren Gestaltung der Kultur Europas und der Welt bedarf es der Anstrengung des Denkens! Nur über die Vermittlung der Aufklärung lässt sich über säkulare Werte sprechen. Nicht weil sie christlich oder jüdisch sind, sondern weil sie vernünftig sind, verdienen sie Zuspruch. Aber es geht auch nicht ohne Theologie. Denn wie Religion wesentlich zur Eskalation der Spannungen beigetragen hat, muss sie auch zu ihrer Deeskalation herangezogen werden.In Fortführung des Konzils hat Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Mainz 1980 gesagt, der eigentliche Dialog zwischen Juden und Christen sei der Dialog der heutigen Kirche mit dem heutigen Judentum. Gottes Wirken im Volk des „ungekündigten Alten Bundes“ in Geschichte und Gegenwart, in religiöser und säkularer Gestalt verdient weit mehr Wertschätzung von Christen und Kirche.




Johann Ev. Hafner
(Herausgeber)

Takt und Tacheles:
Festschrift für Hanspeter Heinz

 
Verlag Neue Stadt 2009
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Hanspeter Heinz, Hans H. Henrix (Herausgeber):

"Was uns trennt, ist die Geschichte"
Ernst Ludwig Ehrlich - Vermittler zwischen Juden und Christen

Verlag Neue Stadt 2008
256 S.; 19,90 Euro

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Wir haben gesehen: genau das war auch die Auffassung von Harnack und  anderen im 19. Jahrhundert und sie bietet wiederum Anhaltspunkte für christlich-jüdische Verständigung, wenn sie jenseits des dogmatischen Anspruchs vom kerygmatischen Christus bleibt. Ganz unverfänglich jedoch ist sie nicht. Denn wenn man Jesus ein Mehr an Vitalität zuspricht, muss man dann nicht im Umkehrschluss seiner jüdischen Umwelt und dem sich daraus entwickelten modernen Judentum Lebendigkeit absprechen?

Dem gegenüber steht die Sicht Samuel Sandmels (We Jews and Jesus.- New York, London 1965), Professor am Hebrew Union College Cincinnati. Seiner Ansicht nach ermöglichen die neutestamentlichen Schriften gar keinen Blick auf den historischen Jesus, sondern geben nur einige karge Fakten. Einerseits war Jesus Lehrer, doch andererseits war dessen Lehre ohne erkennbare Originalität. Einerseits hielt Jesus sich für den Messias, doch andererseits starb er den römischen Märtyrertod. So gesehen ist aber der historische Jesus nicht fassbar, man könne über ihn nur berichten, was die Evangelisten über ihn schrieben.

Diese Haltung vertritt auch der Basler Judaist und Religionswissenschaftler Ernst Ludwig Ehrlich, der heute mit seiner Frau unter uns weilt (Eine jüdische Auffassung von Jesus 1976): er meint, die neutestamentlichen Quellen sagen zu wenig über den Menschen und Juden [Jesus] aus, weil sie im Glauben und im Blick auf den Christus verfasst worden sind. Der historische Jesus kann durch die Rückfrage hinter das neutestamentliche Kerygma nicht ermittelt werden. „Trotz intensiver wissenschaftlicher Forschung dürfte es wohl niemals gelingen, ein volles Bild vom ‚historischen Jesus’ wieder gewinnen zu können“ Im Unterschied zu vielen anderen Jesusinterpreten des Judentums sieht Ehrlich vor allem zwei gesicherte Resultate: die Binsenwahrheit, dass Jesus Jude war, und Jesu Kreuzestod. [Ernst Ludwig Ehrlich: Eine jüdische Auffassung von Jesus.- in: W.P. Eckert und H.H. Henrix (Hg.): Jesu Jude-Sein als Zugang zum Judentum, Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen 6/1976, S. 35 – 49].

Die eigentliche Provokation von Jesu Leben stecke in seiner Verkündigung der Nähe des Reiches Gottes und in seiner Forderung, Gottes Willen so zu erfüllen, wie er ihn verstand. „Diese apokalyptische Gestimmtheit hatte zur Folge“, so Ehrlich, „dass Jesus gesetzeskritisch war“ und sich somit durchaus von seiner pharisäischen Umwelt abhob.

Hier stimmt er mit dem Erlanger Religionsgeschichter Hans-Joachim Schoeps überein, der bei Jesus „eine scharfe Kritik und Verurteilung gewisser jüdischer Verhaltensweisen“ erkannte  [Jesus und das jüdische Gesetz.- in: ders. Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte.- Göttingen 1963, S. 41 – 61. Die großen Religionsstifter und ihre Lehren.- Darmstadt 1954, S. 75]. Die Ursache mit Jesu Konfliktsituationen mit den Pharisäern sieht Schoeps in dessen anderer Einschätzung „des alttestamentlichen Gesetzes“ begründet. Damit heben sich Ehrlich und Schoeps in ihrer Beurteilung von der überwiegenden Mehrheit ihrer jüdischen Kollegen, vor allem Schalom Ben-Chorin und Pinchas Lapide ab.

Für Sandmel, Ehrlich und Schoeps lassen sich wenige gesicherte Aussagen über den ‚historischen Jesus’ machen. Das Jesusbild von Hans-Joachim Schoeps ist von der Einsicht bestimmt, „dass die Rekonstruktion des ‚Urjesus’, des Jesus, wie er wirklich gewesen ist, bei der vorliegenden Quellenlage aus den uns zugänglichen Evangelienstoffen gar nicht möglich ist“ [Religionsstifter, S. 60].

Hinzu kommt eine Kritik an einigen Formen jüdischer Würdigung Jesu. Gegenüber jüdischen Stimmen der Leben-Jesu-Forschung, die der Gestalt Jesu Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit zumessen (z.B. David Flusser), weist Sandmel mit Nachdruck darauf hin, dass diese Attribute für einen religiösen Juden allein Gott zukämen, jedoch niemals einem Menschen. Menschen aber können nach jüdischem Verständnis bestenfalls „groß“ sein. Solche „Größe“ misst Sandmel Jesus bereitwillig zu: „Nur ein Jude, der einzigartige Qualitäten auf sich vereinigt, könnte andere Juden von seiner Wiederauferstehung überzeugt haben.“ 

Welches Bild von Jesus ergibt sich? Man könnte es so umreißen: Jesus war ein bedeutender Mann für seine Zeit, doch er war kein vollkommener Mensch, und auch als bedeutender Mann nimmt er keine Sonderstellung ein, denn das Judentum hat viele große Männer hervorgebracht. Irgendeine religiöse Würde kommt Jesus nicht zu, als Phänomen und fester Bestandteil der abendländischen Kultur sei er aber unübersehbar auch für Juden.

Jesus mehr zuzuerkennen, sieht Ernst Ludwig Ehrlich keinen Anlass, weil sich durch ihn „nichts, gar nichts“ geändert habe. Und Ehrlich fügt als Einsicht hinzu: „Das Judentum hat niemals den einen Lehrer gekannt, nur die Kette der Lehrer, den Strom der Tradition. Es hat sich stets dagegen gesträubt, einen einzigen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.“ „Das tiefste Missverstehen zwischen Juden und Christen“ sieht Ehrlich darin angelegt, dass Juden „ein vollgültiges religiöses Leben führen [können], ohne je etwas von Jesus und dem Evangelium gehört zu haben“.

Die Leben-Jesu-Forschung von Christen und Juden kommt durch das Buch Benedikt XVI. in den Genuß ganz neuer Aufmerksamkeit. Denn Joseph Ratzinger ist der historische Jesus zu mager geworden, den die Wissenschaft der letzten zwei Jahrhunderte übriggelassen hat. Interessant ist der jüdische Anlass, den Kardinal Christoph Schönborn bei der Buchpräsentation in Rom preisgab: Rabbiner Jacob J. Neusner habe den Pontifex zu seinem neuen Werk angeregt, durch sein Buch „Ein Rabbi spricht mit Jesus“. Die jüdische Beschäftigung mit Jesus kann also auch Christen motivieren, über diesen bedeutenden Juden nachzudenken, und sich daran zu erinnern, dass seine jüdische Herkunft kein kultureller Zufall war, sondern ein Teil der Heilsgeschichte. [Johannes Paul II: Address to a symposium on the roots of Anti-Judaism in Rome, 31th of October, 1997; in: Henrix, Hans Hermann / Kraus, Wolfgang (2001): Die Kirchen und das Judentum, Bd. 2: Dokumente von 1986-2000, Paderborn – Gütersloh 2001, 109)].

War Jesus aus jüdischer Sicht Pharisäer und Schriftgelehrter? Vielleicht. War er bedeutend? Ohne Zweifel. War er der Messias oder gar der Sohn Gottes? Aus jüdischem Verständnis nein.

Im Rahmen dieser Antrittsvorlesung konnte ich die jüdische Leben-Jesu-Forschung im 19. und 20. Jahrhundert nur exemplarisch skizzieren. Wichtig war mir vor allem aufzuzeigen, warum Juden anfingen, diesen Jesus näher kennenzulernen. Die Intention war apologetisch: Juden wollten Juden bleiben und trotzdem Teil der christlichen Gesellschaft sein. Wie gut also, dass Jesus Jude war.

Benedikt XVI. hat dem auferstandenen Christus gerade wieder neuen Glanz für die Kirche verliehen. Der jüdische Blick geht auf einen von uns, der es weit gebracht hat, als Mensch den Menschen Gottes Willen nahezubringen.



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Der Autor

HANSPETER HEINZ

Heinz studierte von 1959 bis 1966 an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom Philosophie und Theologie. Promotion an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Fach Dogmatik; 1982 Habilitation. 1983 wurde er auf den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg berufen. Von 2000 an war Heinz Prorektor der Universität Augsburg.

Er ist Mitglied der Vollversammlung des ZdK sowie im Senat der Universität Augsburg.

Er leitet den 1971 gegründeten Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem derzeit 16 Katholiken und 12 Juden angehören.



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