Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 129

November 2010

Vor kurzem hat der evangelische Pfarrer und Theologe Andreas Goetze in einem Beitrag für COMPASS (Online-Extra Nr. 127) versucht, die Unterschiede zweier "Denkweisen" - der hebräischen und der hellenistischen - u.a. am Beispiel des Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnisses herauszuarbeiten und die theologischen/religiösen Konsequenzen, die diese Unterschiede für "unser Reden von Gott und über Wahrheit" zur Folge haben, zu beschreiben.

Zu Goetzes Ausführungen meldet sich heute Wolf-Rüdiger Schmidt, bis 2002 Redaktionsleiter im ZDF-Bereich Kultur und Wissenschaften sowie Redakteur zahlreicher TV-Dokumentationen zu Israel/Judentum, mit einem Diskussionsbeitrag zu Wort, dessen programmatische Überschrift bereits einen anderen Akzent setzt: "Glaube ist mehr als Begegnung".

Ergänzt wird Schmidts Beitrag wiederum durch einen weiteren Gedankengang zum Thema von Andreas Goetze.


COMPASS dankt dem Autor des vorliegenden ONLINE-EXTRAS, Wolf-Rüdiger Schmidt, sowie Andreas Goetze für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe ihrer Beiträge an dieser Stelle!

© 2010 Copyright bei den Autoren 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 129


Glaube ist mehr als Begegnung

Die Unterscheidung zwischen dem aramäisch/hebräischen und griechisch/hellenistischen Denken im Christentum ist so brauchbar wie begrenzt.

Ein Diskussionsbeitrag zum Text von Andreas Goetze (Online-Extra Nr. 127) - sowie einem weiteren Gedankengang von Andreas Goetze selbst.


WOLF-RÜDIGER SCHMIDT

Wer die hebräische und die eng damit verwandte aramäische Sprache Jesu irgendwann einmal  mehr oder weniger nah kennen gelernt hat, weiß natürlich, wie nützlich diese bei der Bemühung sind , 2000 Jahre alte und noch ältere Texte zu verstehen. Er weiß zum Beispiel, dass im hebräischen  Denken das Sein und das Werden eng beieinander liegen. Dass Glaube hier als ein Beziehungsgeschehen verstanden wird und keine sogenannnte „Satzwahrheit“ meint, dass sich Wahrheit in der Begegnung ereignet und so fort. Da hat Pfarrer Andreas Goetze etwas Wichtiges, wenn auch nichts Neues erinnert.

Schwieriger wird es allerdings schon, wenn etwa unterschiedliche Akzente des hebräischen und des griechischen Denkens als Gegensatz  zwischen „statisch-ontologisch“ und „existentiell-relational“ verstanden werden, ein Gegensatz, der dann als grundlegend für das eigentlich zentral Christliche oder auch Jüdische herhalten muss. Natürlich gibt es unterschiedliche Sprachwelten, die etwas über die damalige Weltwahrnehmung aussagen. Aber es ist und bleibt zunächst ein Damals, auch wenn wir geneigt sind , die alten „heiligen“ Texte überzeitlich, also ohne den konkreten historischen Hintergrund zu verstehen. Was war vor zwei Jahrtausenden in einem völlig anderen Kontext philosophisch und lebensweltlich „statisch“ und was verstehen wir heute darunter? Was war seinerzeit „existentiell“  und was schwingt im 21. Jahrhundert in diesem Begriff für uns mit? Dazwischen liegen Welten, wenn nicht sogar Abgründe von für uns nur schwer nachvollziehbaren Erfahrungen, die sich – wie wir heute wissen – einen Ort in der Sprache gesucht haben, ohne dass es uns direkt bewusst sein muss. Zum Beispiel der erwähnte Begriff „Satzwahrheit“: Darunter verstehen wir im wissenschaftlich-technischen Zeitalter  eine nachprüfbare, wiederholbare, prognostizierbare Wahrheit, die das Existentielle methodisch prinzipiell eliminiert. Fraglos ist dieser Begriff ungeeignet, die Wahrheit einer philosophisch-religiösen Aussage in einem Bekenntnis – ob nun im Judentum, Christentum oder Islam - zu erfassen.


Beim Verstehen der alten Sprachen wirkt unser heutiges Wissen aktiv mit 

Nicht zuletzt die hermeneutischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte  haben zu zeigen versucht, dass wir die Sprachen der alten Kulturen über das rein Sprachliche hinaus nur im Kontext unseres heutigen Wissens und Denkens lesen können. Das ist schwerwiegender, als es zunächst aussieht: Es gibt nicht den direkten Zugang zur hebräischen oder altgriechischen Sprachwelt. Der mühsame Versuch, das Alte zu verstehen, ist bereits ein aktiver, produktiver Prozess, in dem mein eigenes Weltverständnis „ins Schwingen“ kommen muss, in dem also meine Vorstellungen und Vorurteile, die zeitgenössischen Bilder und Werte immer anwesend sind. Und dennoch bleibt uns dabei  vieles verschlossen, denn wir stehen – was das Verstehen von Vergangenem betrifft - mit dem Rücken zur Geschichte, also zu dem , wie damals Welt, Leben und Zusammenleben erfahren wurden. Wer das nicht sehr prinzipiell beachtet und den „garstigen Graben“ dazwischen übersieht, kann zu erheblichen Fehlurteilen kommen.

Aber natürlich ist es ein gutes Gefühl und begrenzt auch nützlich, die Denkstrukturen der alten Sprachen hervorzuheben. Das zeigt Pfarrer Goetze sehr überzeugend.  Die wirkliche Übersetzung vom Alten ins Heutige freilich liegt noch auf einer ganz anderen Ebene. Insofern halte ich es für problematisch, den Eindruck zu erwecken, dass die hebräische Sprache quasi die authentische Sprache für das heutige christliche Gottesverständnis liefert, weil es eine Sprache der Relationen und des Existentiellen sei. So lässt sich zum Beispiel über das  Sprachliche hinaus nicht übersehen, dass  etwa bei den  frühnachexilischen Reformpriestern, denen wir die entscheidende redaktionelle Zusammenstellung und Bearbeitung der alten hebräischen Texte verdanken, neben dem „Existentiell-relationalen“ ein durchaus starker argumentativer Anspruch spürbar ist. Die umsichtigen Priester der frühen Zeit nach der Rückkehr aus Babylon wollten redaktionell gezielt bei der Übernahme und Bearbeitung zweier unterschiedlicher Erzählungen über einen Schöpfergott, EL und JHWE, bewusst und argumentationsfähig Antwort geben auf die nach dem Exil offene Frage, woher alles kommt. Man wollte erklären, wie alles aus der einen Hand und aus dem geschichtsmächtigen Wort des als treu in der Geschichte erfahrenen Gottes der Väter geschaffen wurde. Der Bezug auf einen Schöpfergott am Anfang aller Dinge und des Lebens zielt auf die erweiterte und universelle Geltung des Unterwegsseins Gottes mit seinem Volk. 

Die gut zwei bis drei Jahrhunderte später aufscheinende Apokalyptik, von deren durchaus dualistischen Vorstellungen über ein Jetzt und ein bedrohliches Dann das späte vorchristliche Judentum und dann auch die Zeit Jesu stark geprägt wurden, ist jedenfalls nicht primär Ausdruck einer semitischen Denkstruktur. Und doch wirkt es tief bis in die Predigt Jesu und die Erwartungen des frühen Christentums hinein, auch wenn entscheidend modifiziert: Das Dann des Zukünftigen wird von Jesus  als das bereits gegenwärtige Reich Gottes verkündet. Dahinter bleibt der apokalyptische Ausgang erkennbar. Er verweist auf ein in der Zeit gestrecktes dualistisches Religionsschema, das auf  Begegnungen mit fremden Religionen im babylonischen Exil basiert. Der kanadisch-jüdische Religionswissenschaftler Richard Foltz hat kürzlich gezeigt, dass es ausreichend Belege jener Zeit für einen persisch/iranischen Einfluss auf das hebräische Denken gab, mehr als umgekehrt. Das Judentum vor und nach der Zerstörung des Tempels wie dann auch das Christentum und schließlich der Islam hätten die Vorstellung von einem messianischen Retter, einer körperlichen Wiederauferstehung und eines letzten Gerichtes von Persien übernommen. Tatsächlich fehlt all das wie auch die Vorstellung eines himmlischen Reiches und Paradieses oder auch einer Hölle als Strafe in israelitischen Quellen aus der Zeit vor dem Exil. Was sollte das alles mit einem „existentiell-relationalen“ Charakter des semitischen Denkens gegenüber dem Statischen des Griechischen zu tun haben?


BÜCHER von Wolf-Rüdiger Schmidt



           



Das griechische Denken ist für den christlichen Glauben unverzichtbar

Und dann noch die Christologie: Pfarrer A. Goetze schreibt: „Jesus Christus ist der ‚Sohn Gottes‘, weil er sich in den Begegnungen mit dem Menschen bewahrheitet“. Ist das eine Verkündigungsaussage? Oder eine Aussage, die dogmatische Qualität einschließlich weiterer Schlussfolgerungen beansprucht? Oder soll damit etwas Historisches über den Hoheitstitel ‚Sohn Gottes‘ ausgesagt werden? Oder soll seelsorgerlich nur klar werden, Glaube ist Begegnung, wie auch immer? Ich vermute, letzteres ist am ehesten gemeint: Wahrheit ist Begegnung. Aber sollten Protestanten mit ihrem starken Glaubensbegriff, der gleichsam Gott in der Seele und der „Existenz“ erst erschafft, gelegentlich nicht auch mit Respekt vor einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte stehen und dabei beachten, dass hinter dem Bekenntnis - der „Satzwahrheit“ (?) - „Wahrer Mensch und wahrer Gott“ ein fast dreihundertjähriger leidenschaftlicher, erlittener und – wenn man so will – auch von Gebeten begleiteter Diskussions- und Verständigungsprozess steht, der schließlich von Kaiser Konstantin brutal und doch sinnvoll entschieden wurde?  Es wäre durchaus des Schweißes der protestantischen Religionslehrer und Prediger wert, das philosophisch-theologische Ringen ein Stück weit auch dem modernen Predigthörer zu erklären. 

Letztere könnten dabei erfahren, dass bei aller Liebe zu den alten Texten erst das Ringen der Kirchenväter bis zu den Konzilien von 325 und 381 die abendländische Kirche gegenüber einer sehr dispersen Religionsumwelt  bestandsfähig gemacht hat: Jesus, ein wahrer Mensch – zugleich wahrer Gott! Für mich sind die großen ökumenischen Bekenntnisse nicht „Satzwahrheiten“ (siehe oben), sondern Doxologie, gewissermaßen Endaussagen, nach denen nichts mehr kommt außer „Lobpreis“, um es einmal etwas konservativer zu sagen. Und das alles auch im Kontext des griechischen Denkens, in dem bekanntlich ja auch das „Neue“ Testament geschrieben ist. Gerade im Dialog mit nicht-christlichen Religionen sollten die Christen nicht der aktuellen Sehnsucht nachgeben, Glauben als reine Begegnung zu verstehen,  religiöses Leben ohne argumentatives Denken praktizieren zu können, insgesamt ein vermeintlich nur „biblisches Christentum“ vertreten zu wollen, ohne die christlichen Denktraditionen eines Blickes zu würdigen , mögen sie finster oder hell sein…


Vom Anspruch einer philosophia vera

Kurt Flasch, ein großer Kenner des Kirchenvaters Augustinus, macht im Vorwort zu den „Confessiones“ darauf aufmerksam, wie ernsthaft Kirche und Theologie gerade in den ersten Jahrhunderten um den wahren Gottesbegriff gerungen haben. Übrigens hat auch das vom Rabbinischen ausgehende Judentum, wie wir es im Jerusalemer und babylonischen Talmud kennenlernen (die meisten christlichen Theologen haben von den verschlungenen Wegen eines nachbiblischen Judentums leider nicht die geringste Ahnung),  in endlosen Diskursen darüber nachgedacht, was es zum Thema „Gott, Welt und Leben“ zu sagen gäbe. Es ging der alten griechisch und bald auch lateinisch sprechenden Kirche , die seit Paulus nach Europa drängte, unverrückbar auch um die theoretische Klärung dessen, was man bei dem volkssprachlichen Gebrauch der Begriffe „Gott“, „Gott in einem Menschen“ denken darf und denken kann. Und wie es abzugrenzen sei gegenüber einer bunten Welt spätantiker, neuplatonisch durchwirkter Religiosität. Auch die Reformatoren Luther und Calvin haben den fromm und scharf argumentierenden Kirchenvätern, nicht zuletzt dem großen Augustinus, gebührend Beachtung geschenkt. 

„Eine fideistisch gewordene Theologie der Gegenwart“, so Flasch , übersehe leicht den argumentativen und überlebensnotwendigen Anspruch der frühen Kirche. Noch einmal: Dazu war auch griechisches Denken notwendig. Ohne Argumente, theoretische Klärung und den Anspruch , die philosophia vera zu sein, wäre das Zeugnis vom Gekreuzigten und Auferstandenen, in welcher Variante auch immer, vermutlich untergegangen. So lebt die Verkündigung aller ökumenischen Kirchen bis heute von der Integration der zunächst außerchristlichen Logos- und Ideenlehre in den christlichen Gottesbegriff, beginnend bei Johannes, der kein direkter Jünger des Juden Jesus war und als Anonymus etwa um 140 oder noch später nach Christus sein Evangelium in einer Sprache schrieb, die jener des Mannes aus Nazareth ganz gewiss sehr fremd war. 

Die Kirchen, die Christen leben also von Metaphern, außergewöhnlichen Erinnerungen, von Bildern, Argumenten und Gleichnissen, die einerseits auf Lebenspraxis drängen und  andererseits etwas letztlich Unbenennbares zu beschreiben versuchen: das Zeugnis nämlich von einem rätselhaften Gott, der sich dem Menschen öffnet und nahe sein will - und sich, menschlich gesprochen, in gleicher Weise entzieht. Der Kabbalist deutet dabei in tiefer Weisheit auf eine letzte Grenze hin, ob nun im hebräischen bzw. aramäischen oder griechischen Denken: „Ein Gott, den es gibt, gibt es nicht“.

Insgesamt: Jede Zeit braucht ihre eigene Sprache , um eine  alte Sprache und ihr Wissen vom Menschen zu übersetzen. Wir bringen unüberwindbar bei allen Verstehensbemühungen die Sprache des 21. Jahrhunderts mit, wenn wir die alten Texte buchstabieren, wenn wir auf das hören, was man in 2000 Jahren und mehr daraus gemacht hat und wir formulieren es in einer neuen Projektion mal ontologisch, mal existentiell neu.  Heute, angesichts des naturwissenschaftlichen Wissens von einer alles umfassenden Evolution vom Urknall bis zum menschlichen Geist, sollten wir in der Tat die Kategorien des Werdens stärker betonen als die des Seins.  Ein  ins Heutige übersetztes hebräisches Denken kann dabei hilfreich sein.  Auch das wird jedoch ein neuer Entwurf voller Fragen  werden, nicht mehr und nicht weniger:  Gott im Werden der Welt, eine Schöpfung, die noch nicht abgeschlossen ist, sondern weitergeht und sich von außen als Evolution beschreiben lässt. Dass wir hier wie dort unterwegs zu einer neuen Sprachlichkeit des Glaubens sind, macht bescheiden und ist zugleich eine gute Basis für ein gleichberechtigtes Gespräch mit anderen Religionen und ihre ebenfalls alten und neuen Antworten auf die Frage nach einem tragenden Grund.



[Der Ausgangstext, auf den Wolf-Rüdiger Schmidt
mit obigem Diskussionsbeitrag reagiert,
ist hier zu lesen:
Online-Extra Nr. 127

und ein weiterer Gedankengang
von Andreas Goetze gleich anschließend
weiter unten auf dieser Seite]


Der Autor

WOLF-RÜDIGER SCHMIDT


Dr., Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, AG Wiesbaden; Redaktionsleiter bis 2002 im ZDF-Bereich Kultur und Wissenschaften;
Redakteur zahlreicher TV-Dokumentationen zu Israel/Judentum; Autor v.Büchern, u.a.: „Der Mann aus Galiläa,“ (Gütersloh 1991). „ Der brennende Dornbusch. Glanz und Elend der Juden in Europa"(Gütersloh 2003, zus. mit Iris Pollatscheck).



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Kontakt zu COMPASS und/oder dem Autor:
redaktion@compass-infodienst.de


ANDREAS GOETZE

Ein weiterer Gedankengang in Reaktion auf den Diskussionsbeitrag von Wolf-Rüdiger Schmidt



Ich bedanke mich ausdrücklich für die anregende Darlegung von Herrn Schmidt, die mich zu einem Weiterdenken motiviert hat. Es ist ein notwendiger Hinweis, dass das persische Denken seit der Eroberung Alexander des Großen auch die aramäisch sprechende Welt beeinflusst hat. Das apokalyptische dualistische Denken ist hiervon stark geprägt und es finden sich davon Niederschläge in der hebräischen Bibel sowie im NT. Nur glaube ich nicht, dass Jesus selbst in diesem persisch geprägten dualistischen Denken zu Hause war. Texte des NT, die stärker apokalyptisch geprägt sind, haben m. E. ihren „Sitz im Leben“ eher auf der Gemeindeebene in der Verfolgungszeit als auf der Ebene der ursprünglichen Botschaft Jesu. Darüber lässt sich bestimmt noch weiter forschen und diskutieren.

Das hellenistische Denken hat im römisch-byzantinischen Reich die Entwicklung der altkirchlichen Konzilien in Nicaea und Chalcedon entscheidend mitbestimmt. Mit der Verwendung griechisch-philosophischer Begriffe sollten die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens im griechischen Sprachraum verkündbar werden – ein für das ursprüngliche Selbstverständnis nicht gefahrloser Vorgang, der aber im Dienste der Sicherung des christlichen Glaubens wohl unumgänglich erschien. Denn das Christentum begegnete einer hochentwickelten griechischen Philosophie mit einem geschlossenen, universalen Weltbild und war aufgefordert, das fast Unmögliche zu vollbringen (1. Kor. 1,18-23), nämlich die „Botschaft von einem gekreuzigten Gott für den griechischen Geist“ nachvollziehbar auszusagen.

Die so genannte „Zwei-Naturen-Lehre“ ist ein deutliches Kennzeichen dieses philosophischen Eingebundenseins der altkirchlichen Christologie in den Kontext der griechisch-hellenistischen Tradition und ihrem Verlangen, den Glauben intellektuell (heute würde man sagen: rational) auszulegen. Das Bekenntnis von Chalcedon formulierte durch seine vier komplementär zu verstehenden Beschreibungen der zwei Naturen Jesu Christi aber auch die Grenze des rational Aussagbaren und der Möglichkeit zur Definition – ein Ärgernis für die Griechen.

Das aramäische Denken stellt gerade nicht die Frage, wie sich in Gott drei Personen in einer Natur oder in Christus zwei Naturen in einer Person zueinander verhalten. Es geht um Gottes dynamisches Wirken in der Geschichte, um sein konkretes, geistgewirktes Erlösungshandeln, um seine Beziehung zum Menschen und umgekehrt vom Menschen zu Gott. Die „Gottessohnschaft“ ist keine Frage der physischen Herkunft, sondern eine der Erwählung und Bevollmächtigung. Biblisch wird die Existenz Gottes nicht in Frage gestellt, denn bloße Existenz wäre auch folgenlos. Denn nur, wenn Gott mit der Welt und den Menschen in Beziehung tritt, etwas für sie tut und etwas von ihnen will, ist seine Existenz nicht unerheblich und bedeutungslos. Das biblische Denken ist nicht an naturhaft-ontologischen Fragestellungen interessiert, sondern an Beziehungen, am geschichtlichen Wirken, wodurch Gottes Wesen sichtbar wird: Weil Gott so und so gehandelt hat, ist er ein bedeutungsvoller Partner. Es geht nicht um die theoretische Grundsatzfrage nach der Existenz, sondern um die existentielle Entscheidungsfrage: Setzt der Mensch auf Gott und erkennt ihn als Herrn an oder setzt er auf Nichtiges, auf Götzen? An dieser Stelle könnte eine Begegnung mit ostsyrischer Theologie die Debatte außerordentlich bereichern (z. B. mit der „Heiligen Apostolischen und Katholischen Assyrischen Kirche des Ostens“, heute fast nur noch im Irak beheimatet, als „katholischer Zweig“ bekannt als „Chaldäer“: im 5.-8. Jahrhundert die größte Kirche im Großraum Syrien, der es durch ihre Mission gelang, bis nach Indien und China vorzustoßen).

Das definitorische Denken bezüglich des Glaubens hat m. E. im kirchlichen Kontext noch eher zu- als abgenommen, so dass mir die Erinnerung an Gottes Sein, das im Werden ist (E. Jüngel) und an Gott als Geheimnis der Welt wichtig geworden ist. Missverstanden wäre ich, wenn meine Ausführungen dahingehend verstanden würden, dass dem aramäischen Denken keine ontologische Qualität zukomme. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist aber  - wie z. B. beim Titel „Sohn Gottes“ - stärker geschichtlich bestimmt als auf grundsätzliche metaphysische Seinsaussage bezogen, insofern stärker funktional, relational orientiert als das hellenistische Denken. Jede sprachliche Äußerung und damit jede theologische Äußerung steht dabei unter einem eschatologischen Vorbehalt. Lässt sich Gott mit der Welt nicht „verrechnen“ („einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“) und es ist nicht möglich, ihn mit einem konkreten geschichtlichen Ereignis, einem irgendwie beschriebenen „Gesetz Gottes“, einer „Heiligen Schrift“ oder einem „Dogma“ zu identifizieren.

Die zwei Denkweisen habe ich in dem Artikel idealtypisch gegenübergestellt. Herr Schmidt macht zu Recht auf die fließenden Grenzen aufmerksam, denn natürlich gibt es Mischformen und Übergänge. Ich sehe die Fragestellung im Horizont des interreligiösen Dialogs. Grundlegend ringen alle Religionen darum, wie die Wirklichkeit Gottes in der Welt wahrzunehmen ist und ob Gott noch weiterhin in der Geschichte handelt. Was z. B. in der Abbâsidenzeit bei der Herausbildung des Islams geschehen ist, ist auch aus der Kirchengeschichte bekannt: die Verschmelzung von Rechtgläubigkeit und Herrschaft, die Identifizierung des Geistes Gottes mit einer ganz bestimmten Heilsordnung. Das ist immer dann der Fall, wenn zufällige geschichtliche Ereignisse ungeschichtlich zu unumstößlichen Heilsnotwendigkeiten erhoben werden. Das kann eine bestimmte Ausprägung eines Kirchenverständnisses sein, ein zu einer bestimmten Zeit formuliertes Gesetz oder Dogma, die unumstößliche Autorität der Bibel, abgesichert durch die Annahme der Verbalinspiration, die Sakramentalität einer Sprache, ein auf eine bestimmten Weise zu vollziehender Ritus oder auch eine als Ideal angesehene Frühzeit. Die volle Wirksamkeit des Geistes Gottes gibt es dann nur an dieser Stelle, als „einer über jeden Zweifel erhabenen Wahrheitsgarantie“: im Gesetz, im Ritus, in der Heiligen Schrift, im unfehlbaren Lehramt, in der Urkirche oder in der Frühzeit des Islams unter dem Propheten Muhammad und seinen ihm nachfolgenden Gefährten.

Bei der Focusierung auf einen dynamisches Verständnis des Denkens (Beziehungswahrheit statt Satzwahrheit) und damit des Geistes geht es mir um einen grundlegenden Mentalitätswandel innerhalb der Religionen, beschreibbar in den Übergängen von „Wahrheit“ zu „Wahrhaftigkeit“, von „Dogma“ zu „Leitlinien“, von „Prinzipien“ zu „Strategien“, von „für Gott kämpfen“ zu „Gott in mir wirken lassen“; vom „Gesetz“ zur „Liebe“, von der „Weltflucht“ zur „Hinwendung zum Leben“, von der „Überzeugung“ zur „Inspiration“.

Was trägt den Glauben? Die Begegnung mit dem lebendigen Gott selbst ist auf der Grundlage dieses Denkens spirituell die wesentliche Bezugsgröße. Sie kann helfen, apokalyptisches wie auch legalistisches Denken, die beide fundamentalistische Tendenzen verstärken können, zu überwinden. Die Begegnung mit Gott geht aller Schriftgläubigkeit, allen gesetzlichen Regelungen und allem Dogma voraus. Diese spirituelle Ausrichtung ist für den Glauben aufgrund seiner Geschichtlichkeit eine notwendige Voraussetzung. Das gilt für alle drei monotheistischen Religionen gleichermaßen.

Letztendlich geht es um die Herausforderung im Dialog, das eigene Wahrheitsverständnis nicht mit „übernatürlichen“ Dogmen oder Texten „beweisen“ zu wollen. Es geht dann nicht mehr darum, Recht haben zu wollen und sein Recht durchsetzen zu müssen (von dem man sagt, es sei „göttliches Recht“ und es so vor kritischen Nachfragen zu schützen sucht), sondern mit einer spirituellen Offenheit anzuerkennen, dass Gott bei aller eigenen Erkenntnis immer noch „der ganz Andere“ ist und bleibt. Dass Gott unbeschreiblich ist, das ist der eigentliche Ausgangspunkt jüdischer, christlicher und muslimischer Theologie (Ex. 3,14; Ex. 20,2 – Joh. 1,18; Röm. 12,33f – Sure 42,11; 112). „So wie ‚tawhîd’ ist auch die ‚Trinität’ ein Geheimnis. Ein Geheimnis ist nicht irrational oder sinnlos. In Bezug auf Gott sagt es aus, dass die Fülle Gottes nicht mit menschlicher Erkenntnis zu fassen (…) und für den Menschen direkt zugänglich“ ist.

Es geht gar nicht allein um notwendiges Wissen. In der (Wieder-) Entdeckung der spirituellen Dimension des Dialogs kann vor allem eine von Herzen praktizierte Religion die Verwandtschaft zur Geltung bringen. „Wer sich der Tür zu Gott nähert, sollte sie weit aufstoßen und nicht sofort wieder verschließen“. Gott kann auch in einem anderen als dem eigenen Glauben begegnen, das ist die eigentliche Herausforderung für den Dialog. Um einen offenen Dialog im Glauben „auf Augenhöhe“ führen zu können, wird es in Zukunft wohl entscheidend auf die mystischen Richtungen innerhalb der Religionen ankommen, die auf offene Begegnungen setzen.



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