Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 76

Juli 2008

Spätestens seit der Aufsehen erregenden Rede von Gregor Gysi, die er im April diesen Jahres auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung hielt und die anhaltend für heftige Diskussion innerhalb der Partei DIE LINKE sorgt, ist eben das in den Blickpunkt gerückt, was Inhalt und Titel von Gysis Rede anzeigte: "Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel". Genau diesem problematischen und schillernden Phänomen versucht der Politikwissenschaftler Martin Kloke in seinem jüngsten Beitrag in einer erweitert europäischen Perspektive auf den Grund zu gehen: "Die Linke in Europa: Vereint gegen Israel?"

Beginnend mit einem geschichtlichen Rückblick auf die "Dialektik von Antisemitismus und Philosemitismus vor 1967" reflektiert er sodann die Veränderungen und Folgen im Verhältnis der Linken in Deutschland zu Israel im Gefolge des Sechstagekriegs 1967, wirft einen erhellenden Blick in unser Nachbarland Schweiz, um schließlich in gesamteuropäischer Perspektive die Linke und den Antisemitismus/Antizionismus in der Gegenwart zu betrachten.

Der vorliegende Essay Klokes, den COMPASS heute als ONLINE-EXTRA Nr. 76 präsentiert, ist in gedruckter Fassung zuerst erschienen in "TRIBÜNE. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums", Heft 186: 60 Jahre Israel, 47. Jg., 2008, und in leicht gekürzter Form in dem jüngst von Wolfgang Benz im Metropol-Verlag herausgegebenen Band: "Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus" (siehe zu beidem die näheren Hinweise im Text weiter unten).

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2008 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 76


Die Linke in Europa: Vereint gegen Israel?

MARTIN KLOKE



Im Frühsommer 2007 veranstalteten an der Technischen Universität Berlin palästinensische und arabische Organisationen eine Podiumsdiskussion: „Das palästinensische Volk zwischen Mauer und Sanktionen“. Dort traten zwei ältere Herren auf, die in der politischen Linken Deutschlands seit Jahrzehnten als „Nahostexperten“ zitiert und herumgereicht werden: Norman Paech, außenpolitischer Sprecher der Linkspartei im Bundestag sowie Udo Steinbach, der bis Ende 2007 Direktor des Instituts für Nahost-Studien in Hamburg war.
Norman Paech nannte „Palästina das Guantanamo der arabischen Welt“ und forderte, angesichts der israelischen „Aggression gegen die Palästinenser“ müssten die israelfreundlichen Angehörigen des deutschen Regierungsapparats „in Erziehungshaft“ genommen werden. „Wir, die Deutschen“, seien schon jetzt „Mittäter“ der israelischen „Verbrechen“. Paech führte weiter aus: „Warum sollten die Palästinenser das Existenrecht eines Staates anerkennen, der seine Grenzen nicht definiert?“

Udo Steinbach, biografisch und beruflich eher der bürgerlichen Mitte zuzuordnen, genießt ob seines prominenten Status’ und seiner arabophilen Grundpositionen in der antizionistischen Linken große Aufmerksamkeit. So erklärte er auf der erwähnten Veranstaltung: „Wenn der Holocaust nicht passiert wäre, müsste Deutschland „eigentlich“ die diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrechen. „Israel“, so Steinbach, „ist die absolute Großmacht der Region; seine Existenz ist nicht gefährdet. Die Hamas-Regierung ist die gewählte Vertretung der Palästinenser und muss von uns anerkannt werden. ?...? Die Mauer ist ein Zeichen des Untergangs, wie wir am Beispiel der DDR sehen konnten. Sanktionen gegen Israel sind notwendig, um eine Politikänderung zu erzwingen.“

In den Sätzen dieser beiden Nahost-„Experten“ klingen die klassischen, Grundüberzeugungen des politischen Antizionismus in Teilen der europäischen Linken an. Wobei antizionistische Ressentiments längst nicht mehr nur unter überzeugten Linken ihre dumpfen Sumpfblüten treiben, sondern auch im bürgerlichen Mainstream. Fast könnte man meinen, dass am von Selbstverliebtheit zeugenden Verdikt einiger Alt-68er etwas dran ist: „Wir haben zwar nicht gesiegt, aber trotzdem gewonnen.“ Nach einer BBC-Umfrage führt Israel die Top-Negativliste auf der Skala der am wenigsten gemochten Staaten der Welt an – in England nehmen 65 Prozent aller Befragten Israel als „negativ“ wahr; in Frankreich sind es schon 66 Prozent; in Deutschland ist die Zahl der Israel-Aversiven gar auf 77 Prozent hochgeschnellt.1

Insofern ist es nicht weiter erstaunlich, dass in letzter Zeit akademische Einrichtungen und Einzelgewerkschaften zum Israel-Boykott aufrufen – insbesondere in England. In Deutschland sind es einzelne globalisierungskritische und kirchliche Initiativen, die den Boykott Israels herbeisehnen. Zur gleichen Zeit fällt niemandem dieser linken bzw. linksliberalen „Israelkritiker“ ein, auch den Boykott Russlands, Chinas, Irans oder des Sudans – wegen noch viel gravierender Menschenrechtsverletzungen – zu fordern. Selbst die festungsartige Abschirmung „sensibler“ Zonen an den Außengrenzen Europas und die aktive Duldung massenhafter tödlicher „Unfälle“ – etwa vor den Kanarischen Inseln – stößt in diesen Kreisen auf eine Mauer des Schweigens. Offenbar bedarf es erst des Stimulus’ jüdischer Tatbeteiligung, um nachhaltige Empörung auszulösen.


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1. Zur Dialektik von Antisemitismus und Philosemitismus vor 1967: Keimzellen eines neuen Antisemitismus?

Die Nachkriegsdeutschen und auch ihre linken Vertreter machten nach dem Schock von Auschwitz eine Zeitlang nicht oder kaum durch antisemitische Ressentiments von sich reden, denn Jüdisches galt zunächst generell als tabubehaftet: Die meisten Deutschen vermieden nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit; sie ignorierten auch das zionistische Aufbauwerk und die jüdisch-arabischen Auseinandersetzungen. Man hatte anderes zu tun – „die Deutschen“, so beobachtete Wochen nach Kriegsende die überlebende Berliner Jüdin Inge Deutschkron, „wurden damals im wesentlichen von einem primitiven Selbsterhaltungstrieb geleitet, der alle Interessen für andere Dinge als ihr eigenes Schicksal ausschloss.“2 Gewiss lassen sich auch einzelne Gegenbeispiele finden: aus Theresienstadt zurückkehrende Juden, die mit Blumen vom Bahnhof abgeholt wurden, Straßensammlungen für KZ-Opfer und andere Zeichen spontaner Hilfsbereitschaft (so geschehen in Hamburg).3  Es gibt allerdings Indizien, dass sich in diese Hilfsbereitschaft auch Vergeltungs- und Racheängste mischten; es dauerte bis zum Herbst 1945, dass sich diese Ängste als das herausstellten, was sie waren: Projektionen und Fantasien – Symptome eines schlechten Gewissens.

Vorherrschende kollektive Befindlichkeit war nach dem allmählichen Aufwachen aus der narkotisierenden Politparalyse jenes Selbstmitleid, von der 1950 die politische Publizistin und Philosophin Hannah Arendt überrascht wurde. Während ihres ersten Deutschland-Aufenthalts seit 1933 wurde die in die USA vertriebene Jüdin Zeugin, wie nichtjüdische Deutsche ihre kriegsbedingten Leiden mit denen der Juden verglichen und aufrechneten.4

Doch der Antisemitismus als ein traditionelles Strukturmerkmal der deutschen und europäischen Gesellschaften war mit dem Nationalsozialismus keineswegs untergegangen – nicht einmal in antifaschistischen Kreisen: Thomas Mann hatte wenige Monate nach Kriegsende nichts Besseres zu tun, als über rassetheoretische Empfindungen zu schwadronieren;5  Marion Gräfin Dönhoff, schon in der Nachkriegszeit gefragte ZEIT-Kolumnistin, schrieb eine Gleichsetzung der israelischen Regierung mit dem NS-Regime herbei;6  Karl Thieme behauptete eine jüdische Mitschuld an der „Verewigung des Antisemitismus“; als argumentative Verstärkung führte er einen jüdischen Kronzeugen auf7 – eine Praxis, die Philosemiten und Antisemiten noch heute eigen ist. Nach den Befunden der empirischen Meinungsforschung lag die Zahl bekennender Antisemiten im westlichen Deutschland im August 1949 wieder bei 23 Prozent – mit steigender Tendenz (Dezember 1952: 34 Prozent).8

Andererseits war der Antizionismus der Vorkriegszeit europaweit gründlich desavouiert, der zionistische Geschichtspessimismus auf furchtbare Weise verifiziert. So war es ausgerechnet die kommunistische Sowjetunion, die im Mai 1948 den jüdischen Staat – noch vor den USA – völkerrechtlich anerkannte. Im Zuge des sog. Wiedergutmachungsabkommen von 1953 erschien der junge jüdische Staat Israel auch in der Bundesrepublik immer mehr auf dem Radar der veröffentlichten Meinung – nicht zuletzt in der politischen Linken.

In der Sowjetunion war das israelfreundliche Tauwetter schon Ende 1949 zu Ende: Die sowjetische Führung unter Stalin entfachte eine antisemitische Kampagne. Ins Fadenkreuz der Verfolger gerieten vor allem Menschen „jüdischer Herkunft“. Auch die ostdeutsche SED schloss sich den Säuberungswellen an: Wen das Verdikt „Westemigrant“, „Trotzkist“ und /oder „Kosmopolit“ traf, geriet in den Strudel dubioser Schau- und Geheimprozesse. Selbst langjährige Altkommunisten wurden verfemt. Unter dem Vorwand, „zionistische Agenten“ zu sein, versuchte die SED-Führung, den Unmut der Bevölkerung auf die Juden zu lenken. Erst im Zuge der Entstalinisierung von 1956 nahmen die offenkundigsten Formen des antisemitischen Spuks ein Ende.

Kein Wunder, dass die Bruchstellen zwischen einer demokratischen und einer kommunistischen Linken auch vom Themenkomplex „Juden, Judentum und Zionismus“ überschattet waren. Nicht nur in Westdeutschland wurde in den 1950er Jahren eine proisraelische Grundeinstellung zum Prüfstein wahrhaft demokratisch-geläuterter Gesinnung. Sozialdemokratische und christliche Linke stellten sich an die Spitze dieses Paradigmenwechsels.

Ungeachtet der unterschiedlichen historisch-politischen Ausgangsbedinungen verlief die Nachkriegsentwicklung in den europäischen Nachbarländern, z. B. in der Schweiz, ähnlich, wenn auch weniger dramatisch. Beispielhaft sei auf die Erinnerungen des Psychiaters und sozialdemokratischen Kantonspolitikers Emanuel Hurwitz verwiesen, der Antisemitismus als prägenden Bestandteil einer jüdischen Kindheit im Zürich der Kriegsjahre erlebte. Nach dem Krieg ändert sich das Klima: „Weil ich Jude war, wurde ich besonders geachtet und geschätzt. Jahre später, als ich zum ersten Mal nach Deutschland reiste (was unter Juden lange Zeit als schimpflich galt), empfing man mich überall mit offenen Armen. ‚Du bist Jude, wie herrlich, wie wunderbar!’, hieß es. ?...? Ich kann nicht bestreiten, dass ich das – trotz leiser Zweifel – genoss: Es war verführerisch angenehm und unvergleichlich viel bekömmlicher als die Ohnmacht und die Hilflosigkeit von ehedem.“9

Einige wohlmeinende Akteure holten zum philosemitischen Befreiungsschlag aus. Dem Hetzbild des „Jud Süß“ wurde Lessings „Nathan der Weise“ entgegengesetzt. Kaum einer merkte, dass das neue Stereotyp vom toleranten, aufgeklärten und emanzipiert-assimilierten Juden eine volkspädagogische Inszenierung war, die wenig mit der Wirklichkeit der europäisch-jüdischen bzw. christlich-jüdischen Gemengelage zu tun hatte; ungewollt mobilisierte der blinde Eifer antisemitische Ressentiments. Viele Linke in Europa hingegen begeisterten sich für das fortschrittliche Aufbauwerk im „anti-kolonialistischen Pionierstaat“ Israel.


2. Der Sechstagekrieg 1967 und die Folgen in Deutschland

Spätestens gegen Ende des so genannten Sechstagekrieges fand die philosemitische Stimmung in der Linken ein Ende: Israel suchte sich Anfang Juni 1967 der Einkreisungsstrategie und der Vernichtungsdrohungen der Araber durch einen Präventivschlag zu erwehren. Eine Welle der Sympathie erfasste den jüdischen Staat überall in der westlichen Welt.

Unter dem Eindruck einer monströsen Rhetorik der arabischen Kriegspropaganda schien es, als falle der deutschen Linken eine besondere moralische Verantwortung für die Existenz des jüdischen Staates zu. So war es nur konsequent, dass die Initiative zu beinahe allen Aufrufen und Kundgebungen von Personen des linken Spektrum ausging. Der DGB und seine Jugendorganisationen, die SPD und ihre Parteiuntergliederungen, Evangelische Studentengemeinden und die Aktion Sühnezeichen, Studentenvertretungen einschließlich einzelner Gruppen des Sozialistischen Deutschen Studentenverbandes (SDS) – sie alle organisierten Schweigemärsche, Informationsveranstaltungen, Spendenaktionen und Solidaritätsaufrufe.

Federführend waren Persönlichkeiten wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt, der Schriftsteller Günter Grass, der marxistische evangelische Theologe Helmut Gollwitzer, der marxistische Philosoph Ernst Bloch, der linksprotestantische Alttestamentler Rolf Rendtorff, der sozialdemokratische Politologe Iring Fetscher, der Erziehungswissenschaftler und SDS-Förderer Heinz-Joachim Heydorn; schließlich der vor allem für deutschsprachige Zeitungen in der Schweiz schreibende Kulturjournalist und Schriftsteller Jean Améry sowie der französische Philosoph Jean-Paul Sartre.

Dennoch – oder gerade deshalb – sollte die europäisch-israelische Romanze nicht lange währen: Die Tatsache, dass der jüdische Staat nicht unterging, sondern sich wehrhaft behauptete– dieser „Sündenfall“ war im neulinken Weltbild nicht vorgesehen: Während bürgerlich-konservative Kreise plötzlich Israel-Sympathien zeigten, wechselten weite Teile der radikalen Linken die Fronten. Binnen weniger Wochen nahmen sie den jüdischen Staat nur noch als „zionistisches Staatsgebilde und als Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahr. Hinter der Kritik am angeblich „aggressiven“ Präventivschlag verbargen sich zunehmend Zweifel an der Existenzberechtigung Israels.10

Typisch für den Positionswandel des SDS war der „Offene Brief“ des Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth am 6. Juni 1967: „Im Weltmaßstab gesehen ist leider eine Situation entstanden, in der die Gesamtinteressen der kolonialen Revolution, der sozialistischen Länder und auch des revolutionären Flügels der internationalen Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern stärker mit denen der arabischen Staaten ?...? als mit den Interessen Israels übereinstimmen.“11

Einige Aktivisten legitimierten ihr nassforsches Israel-Bashing mit der „Gnade der späten Geburt“. In der Pose eines moralisch überlegenen Antifaschismus schrieb der SDS-Vorsitzende Reimut Reiche: „An unserer Position ist soviel richtig, dass wir es nicht nötig haben, philosemitisch aufzutreten, eben darum, weil wir keine rassistischen Probleme haben und weil wir keinen Antisemitismus zu bewältigen haben.“12









DER HASS GEGEN DIE JUDEN
Dimensionen und Formen des Antisemitismus


Herausgegeben von
Wolfgang Benz


Metropol Verlag
Berlin 2008
228 Seiten
Preis: 19,00 Euro



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Wolfgang Benz, Jahrgang 1941, ist Mitgründer und Mitherausgeber der Dachauer Hefte und war von 1969 bis 1990 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München.

Seit 1990 arbeitet er als Professor an der Technischen Universität Berlin und ist Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Wolfgang Benz erhielt 1992 den Geschwister-Scholl-Preis.



Die historische Funktion des Zionismus für die Emanzipation vieler Juden trat immer mehr aus dem Gesichtkreis der Neuen Linken. Die SDS-Führung ging so weit, lautstark ihre Sympathien mit der militanten Hausmacht von PLO-Chef Yassir Arafat zum Ausdruck zu bringen. Bald besaß sie keine Skrupel mehr, die beklemmend heroisch anmutenden „Militärkommuniques“ der Fatah über terroristische Aktivitäten in Israel für ihre Mitglieder zu veröffentlichen.13 

1969 hatten sich die israelkritischen Tendenzen zu einem Antizionismus radikalisiert, der alle Anzeichen eines ideologisch geschlossenen Weltbildes aufwies. Differenzierende Zwischentöne schienen zum Teil sogar jenen Linken nicht länger opportun zu sein, die sich in früheren Jahren noch als proisraelische Akteure ausgewiesen hatten. Kein Einzelfall stellte der Frankfurter Theologe Hans Werner Bartsch dar, der angesichts aktueller arabischer Vernichtungsdrohungen noch gegen Ende des Sechstagekrieges in einem Schreiben an den SDS eine „einseitige Stellungnahme für Israel“ menschlich und politisch für geboten gehalten hatte14; doch Anfang 1969 nahm er das zionistische Israel nur noch als „Aggressor und Handlanger der Kolonialmacht USA“ wahr, dem jede Existenzberechtigung abzusprechen sei.15

Zum politischen Erbe des SDS gehört die Entstehung einer Reihe kleiner marxistisch-leninistischer sowie zumeist maoistisch orientierter Kaderparteien; aber auch die Herausbildung jener zahllosen sogenannten Palästina-Solidaritätsgruppen und -komitees zugeordnet werden muss, die mit ideologischer Strenge das antizionistische Vermächtnis der zerfallenden Studentenbewegung zu ihrem Lebensthema machten. Zu Zentren deutscher „Palästina-Solidarität“ wurden Universitätsstädte, in denen sich Anhänger des neulinken Spektrums zum Sprachrohr der Palästinenser machten. Unwidersprochen verbreiteten sie auch antisemitisches Gedankengut. Das Bonner Palästinakomitee suggerierte in seinen Statuten die ominöse Existenz eines „jüdischen Kapitals“16; andere agitierten gegen „US- Imperialismus und Weltzionismus“17; die Leitung des Kommunistischen Bundes rief zum Kampf gegen den „internationalen Zionismus“ auf.18

Militant-anarchistische Kreise der Neuen Linken trieben die Glorifizierung ihrer palästinensischen „Helden“-Figuren auf die Spitze. In immer neuen Variationen beschworen sie die „großartige Wahrheit“19 des bewaffneten Widerstandes palästinensischer Fedayin, „weil das Gewehr die einzige Ausdrucksmöglichkeit aller Unterdrückten ist – überall.“20 Ausgerechnet in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1969 machten jungdeutsche Antizionisten Ernst mit ihren gewaltverherrlichenden Fantasien und deponierten eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus, die nur wegen einer technischen Fehlfunktion nicht zündete.21

Sieben Jahre später begann ein weiterer Höhepunkt antisemitischer Gewaltpraxis die antizionistische Selbstgewissheit in der neulinken Palästina-Solidarität in Frage zu stellen: Im Sommer 1976 brachte ein deutsch-palästinensisches Kommando aus Mitgliedern der „Revolutionären Zellen“, der „Bewegung 2. Juni“ und der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ ein französisches Passagierflugzeug in ihre Gewalt und dirigierte die Maschine nach Entebbe (Uganda) um. Der Deutsche Wilfried Böse organisierte die räumliche Trennung der jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren. Erst jetzt war der Schock über Affinitäten zwischen rechtsgerichteten und linksradikalen Ressentiments so nachhaltig, dass sich das Ende des antizionistischen Meinungsmonopols in der Linken ankündigte. Einige Aktivisten realisierten, dass der Kampf gegen Unrecht auch monströse Züge annehmen kann.22

Weite Teile der deutschen Linken sind in den späten 1970er Jahren mit der grünalternativen Bewegung verschmolzen und haben sich in diesem Prozess bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dennoch: Als die israelische Armee im Sommer 1982 in den Libanon einmarschierte, um dort befindliche PLO-Basen zu zerstören, die Teile des libanesischen Staates fest im Griff hatten, wurde Israel in seltener Einmütigkeit des „Völkermords“ an den Palästinensern bezichtigt. Nicht zuletzt linksalternative Publizisten erlagen der Faszination begrifflicher Tabubrüche; triumphierend witterten sie die Gelegenheit, Antifaschismus und Antisemitismus miteinander zu versöhnen. Auch Journalisten der Berliner „tageszeitung“ beteiligten sich an jener historisch-psychologischen Entlastungsoffensive, bei der die betroffenen Palästinenser als die „neuen Juden“ bezeichnet und die israelischen Invasoren mit den Nazis verglichen wurden. Die gezielte Vermischung historischer Ebenen gipfelte im Vorwurf des „umgekehrte(n) Holocaust(s)“ und einer „Endlösung der Palästinenserfrage“.23

In den späten 80er Jahren erzeugte das unausgegorene Nahost-Engagement radikaler Linker und links-alternativer Aktivisten zunehmend Unbehagen. Insbesondere die Grünen wurden von „kathartischen Zerreißproben“ erschüttert. Gelähmt von den riesigen weltpolitischen Veränderungen seit 1989 begann eine orientierungslos gewordene Linke zur Subkultur zu werden – mit allen Symptomen der Versektung.


3. „Mobilisierung schlummernder Hassgefühle“: Schweizer Erfahrungen

Christina Späti erinnert in ihrer Studie über die schweizerische Linke und Israel24 daran, dass der Antisemitismus „Teil eines kollektiven Wissensbestandes der meisten modernen Gesellschaften“ ist. Die Schweiz bildet da keine Ausnahme, auch wenn der linke Antisemitismus dort nicht mit der gleichen Verbissenheit auftritt, in der er uns in Deutschland entgegenschlägt – man denke nur an die terroristischen Dimensionen der Israelfeindschaft in den 1970er Jahren.

Vom Zürcher Psychiater und Lokalpolitiker Emanuel Hurwitz erfuhr der Autor dieer Zeilen in den 1980er Jahren zum ersten Mal vom linken Antisemitismus in der Schweiz: Sein Buch „Bocksfuß, Schwanz und Hörner“ (1986) öffnete ihm während seiner Dissertationstudien die Augen dafür, dass der linke Antisemitismus ein europäisches, ja womöglich internationales Phänomen ist.
Der Libanonkrieg von 1982 wurde für Hurwitz zu einer einschneidenden Erfahrung: Zunächst beteiligte er sich selbst an den Protesten gegen den Einmarsch der Israelis in den Südlibanon, denn das Leid der libanesischen Bevölkerung bedrückte und beschämte ihn. Doch sehr bald nahm Hurwitz eine „ungewohnte Schärfe im Ton“ wahr – die „Mobilisierung schlummernde(r) Hassgefühle“. Selbst Parteigenossen setzten die Israelis mit den Nazis gleich, bezeichneten Beirut als ein „Konzentrationslager“ und nannten Scharon den „Eichmann Israels“. Alsbald meldeten sich Stimmen zu Wort, die von einer „jüdischen „Weltlobby“, wahlweise auch vom „zionistischen Imperialismus“ oder vom „internationalen Judentum“ sprachen – ganz so, als ob die Welt von einer Verschwörung düsterer Mächte bedroht werde. In Basel erschien ein „Grüner Kalender“ mit dem Aufruf „Kauft nicht bei Juden!“ Ein Genosse schrieb an Hurwitz, Israel werde einen Willy Brandt brauchen, der vor der Al-Aksa-Moschee in die Knie falle. Im sozialdemokratischen „Volksrecht“ wurde den Juden ein „Völkermord“ angehängt: Es sei „besonders furchtbar“, dass „Angehörige eines Volkes, dass selber einem Völkermord anheimfiel, zum Mord an einem Volk fähig werden können.“25

„Für die partikularistischen Anliegen der Iren, der Basken ?...? haben die Linken volles Verständnis – bei den Juden operieren sie mit rassistischen Begriffen. ?...? Die Selbstverständlichkeit, mit der solche unqualifizierten unbewiesenen Anschuldigungen nicht nur erhoben sondern auch hingenommen werden, zeigt, dass sie sich auf ein überall vorhandenes, antijüdisches Grundgefühl stützen können. Der stillschweigende Konsens, an den Vorwürfen gegen die Juden werde wohl etwas Wahres sein, ist den Verleumdern oder Vereinfachern stets gewiss. ?...? Als ich Israel kritisierte, galt ich als Linker, den man gerne als Kronzeugen gegen den jüdischen Staat brauchen wollte. Als ich mich weigerte, Israel undifferenziert und einseitig zu verurteilen, war ich plötzlich für diesen Zweck unbrauchbar geworden und kein Linker mehr. Wer das Freund-Feind-Schema nicht mitzumachen bereit ist, fällt zwischen alle Stühle und ist nirgends mehr zu Hause.“26

Seither ist das Klima auch in der Schweiz umgeschlagen. Hurwitz’ Fazit: „Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sie kehrt in neuem Gewand zurück. Dass dies auch bei Freunden und Genossen geschieht, schmerzt am meisten. Dabei würde keiner von ihnen der Vertreibung oder Ausrottung der Juden das Wort reden – doch der Antisemitismus beginnt nicht erst, wenn man Gaskammern baut. ?...? Der Glaube der Linken, sie seien gegen Antisemitismus gefeit, immun und also unanfällig, ist ebenso naiv wie falsch.“27 Emanuel Hurwitz, der 1979 bis 1884 Mitglied des Zürcher Kantonsparlaments war, trat 1984 aus Protest gegen die antiisraelischen Tendenzen aus der Sozialdemokratischen Partei aus.



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TRIBÜNE
Zeitschrift zum Verständnis des Judentums
Heft 186 / 2008

Mit Beiträgen u.a. von: Shimon Peres, Avi Primor, Angela Merkel, Ilan Hameiri, Natan Sznaider, Wolfgang Benz, Ehud Olmert, Juliana Wetzel, Susanne Knaul, Frank-Walter Steinmeier, Deidre Berger, Joschka Fischer, Salomon Korn, Martin Kloke, Anton Maegerle, Annette Schavan, Johannes Gerster, Anat Feinberg.
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TRIBÜNE



4. Europa, die Linke und der Antisemitismus heute

Im neuen Jahrhundert erleben wir eine explosive Zunahme von Verschwörungstheorien. Wer Gerüchte über jüdische Drahtzieher einer gigantischen Menschheitsverschwörung schürt, darf noch immer sicher sein, eine Art „Angstlust“ zu erzeugen. Die weltweite Resonanz des im Gewande einer wissenschaftlichen Studie daherkommenden Buches „Die Israel-Lobby“ zeigt, wie weit verbreitet verschwörungstheoretische Sehnsüchte sind, wie aktuell das Bedürfnis nach einem (jüdischen) Sündenbock ist, den man für Fehler der amerikanischen Außenpolitik in Haftung nehmen kann. Die deutsche Ausgabe insinuiert schon im Cover die nahtlose Gleichsetzung der „Israel-Lobby“ mit der jüdischen Gemeinschaft.28 

Seit dem 11. September 2001 verspürt auch die neolinke Antiglobalisierungsbewegung Auftrieb: Attac, ursprünglich in Frankreich als „Verein zur Besteuerung von Finanzspekulationen“ gegründet, hat die antiimperialistischen Argumentationsmuster der europäischen Linken „modernisiert“ und popularisiert. Nicht wenige machen das „vagabundierende internationale Finanzkapital“ für jene sozialen Verwerfungen verantwortlich, die der zunehmenden Globalisierung der Weltwirtschaft angelastet werden. Ihre populäre „Heuschrecken“-Metapher suggeriert, man könne zwischen dem guten „schaffenden“ und dem bösen „raffenden“ Kapital unterscheiden. In diesem Sinne führen nicht wenige Globalisierungskritiker komplexe weltwirtschaftliche Zusammenhänge auf ein verschwörerisches Komplott dunkler Mächte zurück. Der personalisierende Schritt zum antijüdischen Ressentiment ist von hieraus nicht weit – etwa in den Anti-Kriegs-AGs von Attac, die von Anhängern der „Sozialistischen Alternative“ und der Gruppe „Linksruck“ dominiert werden. Rechtsextreme und islamistische Kreise haben wiederholt Signale dieser Art mit Genugtuung aufgenommen. Seither tobt in der Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung ein heftiger Konflikt um die Schnittpunkte von Israelkritik und Antisemitismus, der vor allem in den Internet-Foren der Bewegung geführt wird.

In der SED/PDS-Nachfolgepartei „Die Linke“ tobt bis heute eine heftige Debatte um ihr Verhältnis zu islamistischen und antisemitischen Israelfeinden (Hamas, Hisbollah, Iran). Während die Berliner Jusos im Sommer 2006 Verständnis für Israels Verteidigungskampf gegen die konzertierten palästinensischen und libanesisch-schiitischen Raketenangrifffe äußerten, fiel der Linkspartei nichts anderes ein, als Israel zum „Aggressor“ zu erklären. In Teilen der Linkspartei sind Sympathien mit der Hisbollah als angeblich „antikolonialer Befreiungsbewegung“ virulent. Dieses Weltbild kann offenbar auch vom antiisraelischen Vernichtungsdrang islamistischer Kreise nicht beeinträchtigt werden. Während Politiker wie Oskar Lafontaine nach gemeinsamen „Schnittmengen“ fahnden und mit anderen Linkspartei-Vertretern (insbesondere der Linksruck-Fraktion) den Dialog mit Islamisten suchen – unter wohlgefälligem Nicken der NPD – , haben Vertreter des sächsischen Landesverbandes und Mitarbeiter der Rosa Luxemburg-Stiftung einen nach innen gerichteten Aufruf verfasst:„Hamas raus aus den Köpfen“.29

In mehreren europäischen Ländern zirkulieren antiisraelische Boykott-Aufrufe globalisierungskritischer, gewerkschaftlicher und kirchennaher Einrichtungen: Als 2003 eine deutsche Attac-Gruppe zum Boykott israelischer Waren aufrief, konnte dies noch als ein Randphänomen gedeutet werden – eine entsprechende Unterschriftensammlung wurde nach öffentlichen Protesten wieder zurückgenommen.30 Doch in Großbritannien beschlossen Ende Mai 2007 die Delegierten der einflussreichen University und College Union „einen umfassenden Boykott“ aller israelischen Universitäten – gegen den Willen ihrer Gewerkschaftsführung.31 Die deutschen Gewerkschaften haben sich zu diesem und anderen Boykott-Aufrufen irischer, kanadischer und südafrikanischer Gewerkschaften monatelang in Schweigen gehüllt.32 Nachdem bereits aus amerikanischen Gewerkschaftskreisen Kritik laut geworden war, distanzierte sich auch DGB-Chef Michael Sommer unmissverständlich von jedwedem Israel-Boykott.33 Ebenfalls im Mai 2007 forderten Tagungsteilnehmer in der Ev. Akademie Bad Boll, „Produkte aus Israel so lange nicht zu kaufen, bis die Besatzung beendet ist.“34 Einen antiisraelischen Boykottaufruf beschloss im Juni 2007 auch die ökumenische Konferenz „Kirchen gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten“ im jordanischen Amman.35 Linke Antizionisten protestierten im August 2007 gegen eine „Israel-Woche“ des Berliner Kaufhofs, dem Nachfolger des unter den Nazis arisierten jüdischen Kaufhauses Wertheim, da dort auch Waren aus den israelischen Siedlungen im Westjordanland feilgeboten würden.36

Die Frage, woher das Faszinosum eines Boykotts gegen die Wirtschaft des jüdischen Staates rührt – bei Menschen, die die Nazi-Parole „Deutsche wehrt Euch, kauft nicht bei Juden“ mindestens aus dem Geschichtsunterricht kennen müssten – rührt am Wertekern europäischer Identität. „Die Juden sind unser Unglück!“, war die Überzeugung des renommierten nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. „Der Staat Israel ist das Problem!“, das hören und lesen wir heute. So bilden sich vor unseren Augen international brisante Querfront-Allianzen – etwa jene zwischen den linkspopulistischen Präsidenten und „Gotteskriegern“ Hugo Chávez (Venezuela) und Mahmud Ahmadinedschad (Iran).

Haben wir uns in Europa daran gewöhnt, dass Antisemitismus wieder zur Alltagskultur gehört? Der französische Botschafter in London mokierte sich im Dezember 2001 am Rande einer Party im Gespräch mit einem Zeitungsverleger über „that shitty little country Israel“. Daniel Bernard mochte sich zunächst nicht an seine Äußerung erinnern, wunderte sich jedoch wenig später, dass eine „private Meinungsäußerung“ von den Medien aufgegriffen und als „antisemitisch“ skandalisiert werde. Auch die mehr als israelkritische BBC setzte in ihrer Headline über den Vorfall „antisemitisch“ in Anführungszeichen. Weder der französische Botschafter noch das französische Außenministerium haben sich für den Fauxpas entschuldigt.37

Der linksgerichte Labour-Bürgermeister von London, Ken Livingstone, beschimpfte 2006 einen jüdischen Journalisten als „KZ-Aufseher“. Ein Londoner Gericht urteilte anschließend, der als notorischer Israelkritiker bekannte Livingstone habe nicht gegen den „ethischen Code von Angehörigen des öffentlichen Dienstes verstoßen“.38 Die britische Labour-Abgeordnete Clare Short verstieg sich allen Ernstes zu der Behauptung, Israel untergrabe mit seiner Politik die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft gegen die globale Erwärmung, da der ungelöste Nahostkonflikt die Welt von den wahren Problemen ablenke.39

Die sozialdemokratische Theoriezeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ veröffentlichte 2007 in ihrer Juni-Ausgabe eine Rezension, in der Rudolf Walther die Autoren einer Antisemitismus-Analyse mit ressentimentgeladenen Hasstiraden überzog: „Wie die ?...? Figur eines Nazi-Offiziers in einem ?...? Film von Francois Truffaut Juden förmlich riecht, so wütet Graumann ?Vizepräsident des Zentralrats der Juden? rundum deutsche Kinder und Enkel, getragen vom Wunsch, die Schuld der Väter und Großväter zu verkleinern und ruft deshalb dazu auf, die Reihen fest zu schließen im weltanschaulichen Krieg gegen Terrorismus und Islamismus.“ Chefredakteur Thomas Meyer rechtfertigte den Beitrag – „die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus“ sei „eindeutig“ eingehalten worden: „Unsere Redaktion lässt sich im Kampf gegen Antisemitismus von niemandem übertreffen.“40

In der sozialdemokratischen Wiener Monatszeitschrift „Zukunft“ durfte der Publizist und „österreichische Linke“ Fritz Edlinger, Herausgeber des antisemitischen Machwerks „Blumen aus Galiläa“, im Sommer 2007 gegen den „sattsam bekannten zionistischen Publizisten Karl Pfeifer“ und „die offiziellen Vertreter des Wiener Judentums“ polemisieren.41 Die österreichische Zeithistorikerin Margit Reiter zog bereits 2001 den ernüchternden Schluss: „Ihm [Edlinger] waren nicht nur die ohnehin spärlich fließenden ‚Wiedergutmachungs’-Zahlungen ein Dorn im Auge, sondern er verstand es auch, die österreichischen Juden und Jüdinnen in altbekannter Manier vom österreichischen Wir-Kollektiv abzugrenzen und ihnen subtil die Instrumentalisierung der Shoah für politische Zwecke zu unterstellen.“42

Luisa Morgantini, italienische kommunistische Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, gab im Herbst 2007 ausgerechnet der deutschen „National-Zeitung“ ein Interview. Dort hatte sie Gelegenheit, mit harschen Worten gegen den jüdischen Staat, die Inkarnation des nahostpolitisch Bösen, zu Felde zu ziehen. Der palästinensische Alltagsterror war der Politikerin nicht einmal eine Randbemerkung wert: Man merke sich: Wenn es gegen Israel geht, raufen sich auch linke und rechte Extremisten gern zusammen.43

Sollte die europäische Linke, die um ihre Daseinsberechtigung kämpft, versucht sein, auf dem Antisemitismus-Ticket wieder Fuß zu fassen? Könnte sich im Rahmen eines globalisierungskritischen Volksfrontbündnisses eine nachmoderne Linke daran gewöhnen, „die Juden“ bzw. „den Staat Israel“ als Verkörperung abstrakter (umhervagabundierender) Kapitalflüsse wahrzunehmen – und diese für zunehmende soziale Verwerfungen im 21. Jahrhundert verantwortlich machen? Die entsprechenden Metaphern liegen in Wort und Bild längst bereit: Erinnert sei an jene „Heuschrecken“-Kampagne in gewerkschaftlichen Veröffentlichungen, die antijüdischen und antiamerikanischen Konnotationen Tür und Tor öffnet – als ob es keine deutschen oder europäischen Unternehmen gäbe, die international operieren, investieren und wieder verkaufen, wie es ihnen gefällt.

Gregor Gysi bekannte 2006: „Die Gedanken- und Gefühlswelt in Bezug auf Israel und die arabischen Länder ist in meiner Generation unklar, wirr und widersprüchlich“44 Ein hermeneutischer Brückenschlag auf dem Weg zur dringend erforderlichen Selbst-Aufklärung könnte die Erkenntnis sein: Wenn Deutsche, Linke und Europäer über Juden, Israel und Zionismus sprechen, reden sie immer auch über sich selbst – viele ihrer Selbstentblößungen, Sprüche und Parolen künden von historisch bedingten Entlastungsbedürfnissen und Schuldabwehr-Projektionen. Antisemitismus ist hierzulande jahrhundertelang die „Normalität“ gewesen. Solange sich weite Teile der Linken um die Einsicht drücken, dass der Antisemitismus nach wie vor eine schwärende Wunde in der Seele Europas ist, bleibt die Mahnung von Theodor W. Adorno aktuell: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“45


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ANMERKUNGEN



1 Umfrage unter 28.000 Befragten aus 27 Ländern: Vgl. BBC-News vom 6.3.2007, Israel and Iran share most negative ratings in global poll (http://news.bbc.co.uk/1/shared/bsp/hi/pdfs/06_03_07_perceptions.pdf).
 
2 Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen. Zwischen Ressentiment und Ratio, Köln 19912, S. 7.
 
3 Vgl. Fritz Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv), Gerlingen 1991, S. 70.
 
4 Vgl. Hannah Arendt, Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes (1950). In: Marie-Luise Knott (Hrsg.), Hannah Arendt. Zur Zeit. Politische Essays, Berlin-West 1986, S. 44f.
 
5 „’Rasse’ ist vollends kompromittiert. Wie soll man sie (die Juden, MK) nennen? Denn irgend etwas ist es mit ihnen und nicht nur Mediterranes. Ist dieses Erlebnis Anti-Semitismus? Heine, Kerr, Harden, Kraus bis zu diesem faschistischen Typ Goldberg – es ist doch ein Geblüt“ (Thomas Mann am 27.10.1945, in: Ders., Tagebücher 1944 – 1.4.1946. Hrsg. von Inge Jens, Frankfurt/Main 1986, S. 269.
 
6 „Man kann nur hoffen, dass der Schock, den der Tod des Grafen Bernadotte für die verantwortlichen Männer der Regierung Israels bedeutet, sie für einen Moment wenigstens innehalten und bestürzt erkennen lässt, wie weit sie auf jenem Wege bereits gelangt sind, der erst vor kurzem ein anderes Volk ins Verhängnis geführt hat“ (Marion Gräfin Dönhoff, Völkischer Ordensstaat Israel. In: Die Zeit (Hamburg), Nr. 39, 23.9.1948, S. 1).
 
7 Vgl. Karl Thieme, Die Christen, die Juden und das Heil, in: Frankfurter Hefte, Heft 2/1949, S. 113.
 
8 Vgl. Elisabeth Noelle und E. P. Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1947–1955, Bd. 1, Allensbach 1956, 2. Aufl., S. 128.
 
9 Emanuel Hurwitz, Bocksfuß, Schwanz und Hörner. Vergangenes und Gegenwärtiges über Antisemiten und ihre Opfer, Zürich 1986, S. 163.
 
10 Vgl. Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses (DIAK-Schriftenreihe, Bd. 20), Schwalbach/Ts. 19942.
 
11 Wolfgang Abendroth an Berthold Simonsohn, 6.6.1967 (SDS-Nachlass im Archiv „APO und soziale Bewegungen“ an der FU Berlin).
 
12 In einem Schreiben vom 13.6.1967 an die Spiegel-Redaktion (ebd.).
 
13 Vgl. beispielhaft das SDS-Info (Frankfurt/Main), Nr. 10, 2.4.1969, S. 13.
 
14 So am 10.6.1967 (vgl. SDS-Nachlass, a. a. O.).
 
15 Vgl. Hans Werner Bartsch, Die Araber und Israel. Zur zweiten internationalen Konferenz zur Unterstützung der arabischen Völker, Kairo 25.–28. Januar 1969, in: Stimme der Gemeinde, Heft 5, 1.3.1969, Spalte 153ff, hier Spalte 154.
 
16 Al-thaura (Bonn), Nr. 1, 1971, S. 4.
 
17 Privatarchiv d. Verf.
 
18 Vgl. Arbeiterkampf (Hamburg), Nr. 35, 11/1973, S. 16.
 
19 N. N., Emanzipatorische Bewegung der Palästinenser, in: Agit 883 (West-Berlin), Nr. 29, 28.8.1969, S. 8.
 
20 N. N., Alle politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, in: Agit 883, Nr. 59, 7.5.1970, S. 9.
 
21 Vgl. M. Kloke, Israel und die deutsche Linke, a. a. O., S. 163ff („Terroristische Dimensionen des Antizionismus“); Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005.

22 Vgl. M. Kloke, Israel und die deutsche Linke, a. a. O., S. 168–176.
 
23 Vgl. ebd., S. 220-229.
 
24 Vgl. Christina Späti, Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991, Essen 2006.

25 E. Hurwitz, Bocksfuß, Schwanz und Hörner, a. a. O., S. 165, 167 und 169 (vgl. Fußnote 9).
 
26 Ebd. S. 168 und170.
 
27 Ebd. S. 172f.
 
28 Vgl. John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt, Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflusst wird, Frankfurt/Main 2007.
 
29 Vgl. Jörg Fischer, Bedingungslos für die Hamas? In: Jüdische Zeitung (Berlin), März 2007, S. 5.
 
30 Vgl. Matthias Braun, Antisemitismus-Streit bei Attac, in: taz (Berlin), 5.9.2003, S. 8; Tom Strohschneider, Klärungsbedarf in Sachen Antisemitismus. In der globalisierungskritischen Szene wird über Palästina-Solidarität und Finanzmarktkritik gestritten, in: Neues Deutschland (Berlin), 19.11.2003.
 
31 Vgl. Leonard Novy, Gebremster Boykott. Britische Wissenschaftler wollen Israel ächten – jetzt greift die Regierung ein. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 13.6.2007, S. 27. Wenig später erhob sich unter Federführung der Akademiker-Organisation „Scholars for Peace in the Middle East“ ein breiter internationaler Protest: Mehrere tausend Akademiker, darunter 32 Nobelpreisträger und 53 Universitätsrektoren, erklärten sich mit ihren israelischen Kollegen solidarisch, indem sie sich in einer Art symbolischen Selbstbezichtigung zu israelischen Gelehrten ernannten.
 
32 Vgl. Benjamin Weinthal, Der DGB ist kein D-Zug. Mehrere britische Gewerkschaften haben zum Boykott Israels aufgerufen. Was halten die deutschen Gewerkschaften davon? In: Jungle World (Berlin), Nr. 53, 16.8.2007
 
33 Vgl. Jüdische Allgemeine Wochenzeitung (Berlin), 6.9.2007; Kölner Stadtanzeiger 8.9.2007.
 
34 So die „Forderungen aus den Arbeitsgruppen“ während der Tagung „Jenseits von Frieden? Deutsches Engagement im Israel-Palästina-Konflikt“, 11. bis 13. Mai 2007 in Bad Boll (Privatarchiv d. Verf.).
 
35 Pressemitteilung der Ev. Kirche im Rheinland, 21.6.2007 (zitiert nach ideaOnline, 22.6.2007).
 
36 Vgl. Assaf Uni, Germans protest sale of food from West Bank settlements. In: www.haaretz.com (Tel Aviv), 19.8.2007.
 
37 ‚Anti-semitic’ French envoy under fire, BBC, 20.12.2001 (http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/1721172.stm).
 
38 Vgl. http://www.abendblatt.de/daten/2006/03/01/538575.html; http://www.hagalil.com/01/de/Europa.php?itemid=40&catid=18.
 
39 Vgl. Daniel Schwammenthal, The Israel-Bashing Club. In: The Wall Street Journal, 3.9.2007.
 
40 Vgl. Rudolf Walther, „Neu-alter Judenhass“. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (Bonn), Juni 2007; Ingo Way, Grenzwertig. Wie die „Frankfurter Hefte“ ein Buch über Antisemitismus rezensieren lassen. In: Jüdische Allgemeine, 4.10.2007, S. 2.
 
41 Vgl. Fritz Edinger, Israel, der Islam und die Linke. In: Zukunft, September 2007. Der Vorgang ist auch deshalb skandalös, weil der Wiener Journalist Karl Pfeifer selbst jahrelang Artikel in der „Zukunft“ veröffentlicht hat.
 
42 Margit Reiter, Unter Antisemitismus-Verdacht. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah, Innsbruck 2001, S. 302.
 
43 Vgl. Krisztina Koenen, Den Rechten gefällt’s. In: Die Welt (Hamburg), 10.11.2007.
 
44 Vgl. Gregor Gysi, Weder neutral noch „normal“. In: Freitag (Berlin), 29.9.2006.
 
45 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959). In: Ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/Main 1970, S. 28.


Der Autor

MARTIN KLOKE

Dr., geboren 1959, Studium der Ev. Theologie, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 1989 Promotion am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften ("Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses", 1990/1994); 1989-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto Benecke Stiftung in Bonn; 1993/94 Studienreferendariat in Köln; seit 1995 Redakteur im Fachbereich Kulturwissenschaften der Bildungsmediengruppe Cornelsen in Berlin.
Siehe auch:
ONLINE-EXTRA Nr. 1 und ONLINE-EXTRA Nr. 44