Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 65

Februar 2008

Reuven Kritz, Autor der beiden Essays des vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 65, wurde in Wien geboren und wuchs in einem israelischen Kibbuz auf. Er studierte in Jerusalem Literaturwissenschaften, lehrte viele Jahre an der Universität Tel Aviv und als Gastprofessor in USA und in Heidelberg, wo er heute lebt und arbeitet.

Reuven Kritz ist ein in Israel bekannter Autor. Er schrieb Romane und Erzählungen, historische und politische, lyrische und fantastische, die allesamt reich an Millieu und leisem Humor sind.

Mit "Die Genies von Kiryat Mozkin. Israelische Mini-Essays" liegt das erste ins Deutsche übersetzte Werk von Reuven Kritz vor. (Siehe Anzeige weiter unten). Eine kleine Auswahl dieser liebenswerten Essays wurde bereits vom SWR 2 gesendet.

Illustriert wurden die Essays von Shlomo Rotem, einem in Israel bekannten Künstler.

COMPASS präsentiert Ihnen im heutigen ONLINE-EXTRA zwei der "Mini-Essays" von Reuven Kritz online exklusiv!

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!

© 2008 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 65


Israelische Mini-Essays:

- Du bist doch Zionist, oder?
und
- Es lebe Papadopolos

REUVEN KRITZ

_____________________




Du bist doch Zionist, oder?



In einer heißen Diskussion, die wie gewöhnlich, von Thema zu Thema sprang, fragte mich mein Gesprächspartner: "Du bist doch Zionist, oder?"

Ich antwortete, etwas gereizt:

"Ich bin Zionist." – Und schaute ihn prüfend an, ob er meine unausgesprochene Distanzierung bemerkt hatte.

Als ich später über dieses Gespräch nachdachte, fiel mir ein, wir hatten, ohne es zu bemerken, einen historischen Wortwechsel zwischen zwei führenden Persönlichkeiten des Zionismus wiederholt:

Herzl, der Begründer des politischen Zionismus, wollte mit dem Geld Baron Rotschilds Palästina dem türkischen Sultan abkaufen, um dann die Kolonisation, mit internationalen Garantien der Großmächte, rasch und glatt durchzuführen. Der Plan schien plausibel: Der Sultan steckte – wie Sultane oft – bis über beide Ohren in Schulden. Herzl verhandelte mit dem deutschen Kaiser, dem englischen Premierminister und dem Papst. Der Sultan jedoch wollte ihn nicht empfangen. Herzl fragte sich nie, warum. Sein Ziel war klar: einen jüdischen Staat als "sicheren, von den Völkern anerkannten Zufluchtsort" zu gründen, um die Juden gegen Verfolgungen zu schützen.

Achad-haAm1 dagegen, der Verfechter des geistigen Zionismus, forderte von der jüdischen Jugend "die Umschulung der Herzen": Nur wenige Auserwählte, gründlich Vorbereitete, sollten in das gelobte Land ziehen und dort ein "geistiges Zentrum" gründen.

Herzl wollte in fünf Jahren fünf Millionen Juden in Palästina ansiedeln und ein modernes, fortschrittliches Staatswesen schaffen. Seine Hauptsorge war, genügend Schiffe dafür zu finden. Er schlug vor, eine nationale Schiffsgesellschaft zu gründen, deren Flagge wie die des jungen Staatswesens, weiß sein sollte, als Symbol für das neue Leben und mit sieben goldenen Sternen, für den siebenstündigen Arbeitstag. Seine beiden Bücher hießen: "Der jüdische Staat" und "Altneuland". Im ersten zeigte er, warum ein jüdischer Staat eine absolute Notwendigkeit sei, im zweiten – ein Roman – beschrieb er das Leben in diesem zukünftigen Staat. Er äußerte sich nicht über die Sprache: Wahrscheinlich nahm er an, man werde dort deutsch sprechen, wie denn sonst?

Achad-haAm warnte vor der Übertragung der Gebrechen des Exils in die historische Heimat. Zuerst müsste man hebräische Lehrerseminare, eine hebräische Universität und einen großen nationalen Buchverlag gründen und eine hebräische Enzyklopädie herausgeben.

Für Herzl war das Wichtigste, die Juden vor den antisemitischen Verfolgungen zu schützen; Achad-haAm behauptete, die Hauptsache wäre, die Zukunft des Judentums zu sichern, um es vor Assimilation zu bewahren. Auf den Punkt gebracht, Achad-haAm dachte: Wenn wir ein Zentrum für das Judentum haben, werden die Juden schon nachkommen; – Herzl dagegen dachte: Wenn wir den Juden ein Land geben, in dem sie gesichert sind, wird sich schon ein modernes Judentum entwickeln.

Sie tauschten ihre Gedanken nie persönlich aus. Auf dem Ersten Zionistischen Kongress (Basel, 1897), als Herzl zur Bühne schritt, hielt Max Nordau  ihn an, um ihm Achad-haAm vorzustellen. Die beiden standen sich in peinlichem Schweigen gegenüber, bis Herzl sagte:

"Aber Sie sind doch Zionist, oder?"

Worauf Achad-haAm, etwas gereizt, antwortete:

"Ich bin Zionist", und Herzl herausfordernd an schaute. Herzl wurde zur Bühne gerufen, und das beendete den kurzen Wortwechsel, sicher zur Erleichterung beider.

Und wenn Menachem Ussischkin  dabeigestanden wäre, hätte er gemurmelt: "Ich bin Zionist!" und hätte sich bemüht, für die jungen Kolonien noch einen Acker hier und noch einen da zu erwerben, noch einige Kühe und Baracken, noch ein paar Sümpfe trocken zu legen und Plantagen zu pflanzen.

Und wir? Bis zum heutigen Tag sind wir uns uneinig und es ist uns unklar, was im Zionismus die Hauptsache ist oder sein sollte. Deswegen, bitte, sag mir nicht und frag mich nicht, ob wir Zionisten sind, sondern, sag was du darunter verstehst.




REUVEN KRITZ

Die Genies von Kiryat-Motzkin


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Reuven Kritz

Die Genies von Kiryat-Motzkin
Israelische Mini-Essays

im Deutschen bearbeitet von
Muni Poppendiek-Kritz
Illustrationen von Shlomo Rotem

Books on Demand
Norderstedt 2007
268 S.; Euro 14,50

jetzt bestellen


Der Versuch, seinem Schicksal zu entkommen, kann zu seiner Erfüllung führen. Reuven Kritz beweist es dem Leser mit Ödipus, Tiberius und einem englischen Lord. Ein Jude beklagt seinen Durst und Rabbi Akiba weint am Shabbat - so unterhaltsam mit Geschichten, jüdischem Witz und Anekdoten geht es los.

Reuven Kritz entführt den Leser in amüsanter Weise auf eine Reise durch die Weltliteratur, die Bibel und den Talmud, in die Welt der großen Philosophen und der kleinen Griechen und zurück in unseren Alltag mit seinen kleinen Misslichkeiten und Freuden und sorgt dabei für Überraschungen, lieb gewonnene Werte werden auf den Kopf gestellt und unvermutete Parallelen gezogen. Ein Lustgarten lebendiger Literatur, ein Buch voller Geschichten, mit leisem Humor und Nachdenklichkeit eindrücklich erzählt. Auch die Illustrationen - feine Bleistiftzeichnungen - zu allen Essays verleiten zum Schmunzeln, Weiterblättern und Weiterlesen. Wer dieses Buch liest, darf eine Menge wissen wollen und das nicht nur über Israel. 

Über den Autor:
Reuven Kritz, geboren in Wien, aufgewachsen in einem israelischen Kibbuz; studierte in Jerusalem Literaturwissenschaften, lehrte viele Jahre an der Universität Tel Aviv und als Gastprofessor in USA und in Heidelberg, wo er lebt und arbeitet.

Aus israelischen Rezensionen:
"Oberhalb des gängigen fast food... Ein intelligentes, amüsantes Feuerwerk..." - "Der Mann kann Geschichten erzählen..." - "Man kann stundenlang darin herumwandern..."



Es lebe Papadopolos!

Im guten alten Wien entkam einmal ein gesprächiger Papagei seinem Käfig und setzte sich auf einen Baum. Ein braver Bürger kletterte hinauf, ihn zu fangen. Als er sich näherte, schnarrte der Papagei: "Guten Tag!" Der Mann zog seinen Hut und sagte: "Entschuldigen Sie bitte, ich dachte fast, Sie wären ein Vogel!"

An diesen Vorfall erinnere ich mich, wenn ich in die klugen Augen unseres Papadopolos schaue. Vor acht Jahren adoptierte er uns, indem er uns tollpatschig mit seinem Stummelschwanz wedelnd auf der Straße nachlief. Es war Liebe auf den ersten Blick.

So wie die Eltern der meisten hebräischen Schriftsteller – nach den biographischen Ausführungen Professor Klausners  zu urteilen – müssen auch Papadopolos Eltern ganz widersprüchliche Eigenschaften gehabt haben. Er konnte gemeinsam mit Goethe sagen: "Vom Vater hab’ ich die Statur... von Mutter hab’ ich die Natur..." Wahrscheinlich ist er die Frucht verbotener Liebe einer sentimentalen Pudelin zu einem ärgerlichen Terrier, weshalb wir ihn nicht für einen Rassisten halten.

Unsere kleinen Katzen bekamen lateinische Namen: Claudius wegen seiner vielen vergifteten Verwandten, Brutus, weil wir ihn nach einer schändlichen Tat auf den neuen Teppich mit, "Auch du, Brutus?" zurechtwiesen. Nun wollten wir, zum Ausgleich, etwas Griechisches und suchten berühmte Vorbilder im Lexikon der griechischen Mythologie: Wie hieß doch gleich jener hundertäugige Wächter, der mit dem stummen Schiffer die Seelen der Verstorbenen über den Styx – oder war es der Acheron? – führt oder jener Getreue, der vor Freude sein Leben ausbellte, als er seinen verschollenen Herrn erkannte, der endlich, als Bettler verkleidet, aus dem trojanischen Krieg zurückkehrte? Unterdessen sprach man im Radio über einen gewissen Papadopolos, der in Griechenland an die Macht kam oder entmachtet wurde. Einer von uns wiederholte den Namen, die anderen dachten, es wäre der im Lexikon gesuchte Name...

Nomen est omen! Entscheidet der Name das Schicksal, wie im Roman "Hundert Jahre Einsamkeit", in dem das Schicksal sich dem Irrtum einer Wahrsagerin, die zwei Namen verwechselte, anpasste?

Sooft wir auf der Straße nach ihm riefen, drehten sich alle Passanten um und lachten, bald kannte ihn das ganze Städtchen. Wir verkürzten seinen etwas umständlichen Namen und riefen ihn "Papsi", "Papusch", aber auch "Dopsi" und "Dopolos".

Er ist nicht größer als 40 cm, und weil er seine Kinderstube mit kleinen Katzen teilte, hatte er Identitätsprobleme, versucht auf Bäume zu klettern und springt über Hecken, die dreimal so hoch sind wie er selbst.

Manchmal erschreckt er Fremde, die durch unser schmales Gässchen gehen, indem er über unsere Gartenhecke auf sie zuspringt und wütend bellt.

In politischen Ansichten ist er ein Opportunist und Pluralist; ein Freigeist. Ungerechterweise wurde er für antireligiös gehalten, weil er oft fromme Bürger, die zum Sabbat-Morgengebet gingen, anbellte, was jedoch ihrem unsympathischen Charakter und nicht ihrem Glauben galt. Auch der Verdacht, er sei rassistisch, weil er einige unserer Vettern  – Bauarbeiter aus der Nachbarschaft – nicht unbehelligt vorbei ließ, war unberechtigt. Er ist auch kein Frauenfeind, nur mochte er beleibte Hausfrauen, die auf ihren Fahrrädern, volle Einkaufstaschen balancierend, durch unser Gässchen kamen, nicht. Er wollte – und das mit Recht – gegen den Transitverkehr protestieren, besonders, wenn es um unerfahrene, unsichere Radlerinnen ging. Sicher wundert es Euch, dass sich niemand bei der Polizei beschwerte und Schreckensgeld forderte, nun, Papadopolos verfügt eben über einen unwiderstehlichen Charme.

Einmal ging er am Strand verloren, fand jedoch den einige Kilometer langen Heimweg. Seit dem beseelt ihn die Wanderlust. Wenn er Liebeskummer hat, verschwindet er für einige Tage, kommt dann abgemagert, todmüde, schmutzig, zerzaust und glücklich zurück.

Seine zerzausten Haare, die ihm die Augen verdecken, lassen ihn ärgerlich erscheinen und er wird, was die Haare anbelangt, mit dem Dichter Schlonski  verglichen. Wir hatten wenig Zeit uns seiner Erziehung zu widmen und so wurde er ein lebender Beweis für die Erziehungslehre Rousseaus. Wie bei Gorki war das Leben selbst seine Universität, er lernte viel aus bitteren Erfahrungen.

Bevor er eine Straße überquert, schaut er zuerst nach links, dann nach rechts, an der Ampel wartet er geduldig bis das rote Licht den Verkehr stoppt. Er spürt, wenn wir ausgehen wollen und planen ihn zuhause zu lassen, dann verschwindet er rechtzeitig, wartet lauernd einige Straßen entfernt, an einer Stelle an der wir vorbeikommen müssen oder er begleitet uns heimlich durch eine parallele Gasse und dann, gerade wenn wir zur Schlange an der Kinokasse gelangen, wartet er schon auf uns und sieht uns spöttisch an.

Als wir nach Ramat-Aviv  übersiedelten, lebte er sich gut ein, er hatte einige Freundinnen in den Studenten WGs und der Nachbarschaft.

Auch in Liebes-Angelegenheiten ist er Opportunist und Pluralist. An der Uni gibt er den Geisteswissenschaften den Vorzug. Er kennt sowohl die Säle als auch die Stunden in denen ich vortrage, kratzt eine Viertelstunde nach Beginn an der Türe, legt sich unter das Katheder und hört ein wenig zu. Wenn er findet, das Thema sei für ihn irrelevant, kratzt er von Neuem und begibt sich auf den Rasen in den Sonnenschein. Wenn ihr ihn also dort treffen solltet, lichtbraun, mit struppigen Fell im Nacken und über den Augen, beachtet bitte nicht seine ärgerlich-gleichgültige Miene, sondern grüßt ihn freundlich und sagt ihm: "Papadolos, Lieber, entschuldige, wir dachten du wärst ein Hund!"




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Der Autor

REUVEN KRITZ

... geboren in Wien, aufgewachsen in einem israelischen Kibbuz; studierte in Jerusalem Literaturwissenschaft, lehrte an der Universität Tel Aviv und als Gastprofessor in USA und in Heidelberg, wo er lebt und arbeitet.

Der in Israel bekannte Autor schrieb Romane und Erzählungen, historische und politische, lyrische und fantastische; reich an Milieu und leisem Humor. Vielfalt und Humor kennzeichnen auch seine akademischen Veröffentlichungen: Strukturen und Motive des Grotesken in deutscher, russischer und hebräischer Literatur, hunderte Interpretationen von Kurzgeschichten und Gedichten. Aufmerksamkeit erregten eine zweibändige Einführung in die Lyrik mit Beispielen aus der Weltliteratur und eine dreibändige Geschichte der Kibbuzliteratur.

Mit "Die Genies von Kiryat Motzkin" liegt das erste ins Deutsche übersetzte Werk von Reuven Kritz vor. Eine kleine Auswahl dieser liebenswerten Essays wurde bereits vom SWR 2 gesendet.

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Betreff: Kritz Einladung