Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 242

Juli 2016

Bereits im Editorial der gestrigen Tagesausgabe des COMPASS wurde auf einen Beitrag des Frankfurter Rabbiners Andrew Steiman hingewiesen, in dem er auf pfiffig-anregende Weise eine vielleicht überraschende Parallele zwischen dem Brexit und dem biblischen Exodus der Juden aus Ägypten zog. Steiman nutzt diese Parallele, um vor dem Hintergrund des Brexit über den Zusammenhang von Demokratie und Verantwortung zu reflektieren. Aus einer jüdischen Perspektive geht er dabei insbesondere auf Sinn und Unsinn von repräsentativer und direkter Demokratie ein.

Nachfolgender Beitrag erschien zuerst in einer gekürzten Fassung in der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG (07.07.2016) - und ist hier an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Autors nun in ungekürzter Fassung zu lesen.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2016 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 242


Brexit und Thora oder die Frage nach Verantwortung und Demokratie


Rabbiner ANDREW STEIMAN




Nun ist das Brexit-Referendum schon zwei Wochen alt, und immer noch ist das Votum kaum zu glauben. Im Nachhinein möchte man sagen: Hätte David Cameron sich bloß an Moses ein Beispiel genommen! Auch Moses hatte es mit Nörglern und Nostalgikern, selbsternannten Freiheitsexperten und Populisten zu tun. Nicht nur deswegen hat er eben kein Referendum zu einem Exit aus dem Exodus angeboten; einer Rückkehr nach Ägypten statt weiter vereint ins Gelobte Land und in die Welt hinaus. Es ging um sehr viel mehr. Um Fortschritt. Um Zukunft. Um Freiheit, Mündigkeit. Vor allem ging es Moses um eins: Um Verantwortung. Schier unerträglich schien ihm diese Last; so sehr, dass er sogar den Tod dafür tauschen würde (Bamidbar 11:11-15) –  ausgerechnet in jenem Wochenabschnitt zu lesen, der in der Woche des Referendums gelesen wurde.  Dann erfahren wir, wie Moses die Verantwortung, die er trägt, auch erträgt.  Viel bequemer wäre es, die Verantwortung einfach abzuwälzen. Das allerdings wäre Verrat an der Torah selbst.

Mit der Übergabe der Torah beginnt ein neues Zeitalter: das Zeitalter der Verantwortung.  Vor der Torah waren tatsächlich alle Kulturen überall auf der Welt nach dem Prinzip der Bequemlichkeit verfasst; im Kant’schen Sinn: unmündig. „Es ist so bequem, unmündig zu sein“, so Kant in seinem berühmten Briefwechsel mit Mendelssohn. Zur Mündigkeit, so Kant, „wird nichts erfordert als Freiheit“. Was der große Aufklärer 1784 formulierte, ist schon Tausende Jahre zuvor bereits in der Torah festgehalten worden: der Auszug aus Ägypten als Freiheitsakt, der die notwendige Bedingung zur Erlangung der Mündigkeit darstellt – für das Individuum als auch für eine Gemeinschaft.

Verantwortung ist unbequem. Unterwegs ins Gelobte Land sehnten sich die Nostalgiker nach Ägypten zurück; dort wurde man zwar unterdrückt, dafür nahmen die Unterdrücker einem die Verantwortung ab, „jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben“ (Kant). Ist Moses also ein Kantianer? Oder umgekehrt? Wie auch immer, beiden ist die Freiheit des Menschen die Voraussetzung zur Mündigkeit. Kant hätte wie Moses ganz sicher auch kein Referendum angeboten. Verantwortung steht nicht zur Disposition.

Für David Cameron schon. Warum bloß hat er das getan? Politisch notwendig war es mitnichten. Dennoch übergab er die Verantwortung an das Volk. In bester demokratischer Absicht?



Henry und Emma Budge Stiftung

Ein würdevolles Leben für Juden und Christen, das war 1920 der Wunsch des Stifterehepaares Henry und Emma Budge.

Seit nunmehr neunzig Jahren betreut die BUDGE-STIFTUNG gemäß dem Auftrag des Stifterehepaares ältere, hilfs- bedürftige Menschen jüdischen und christlichen Glaubens, um ihnen im Alter ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Das einmalige Stiftungskonzept ist weit über die Grenzen Frankfurts hinaus bekannt.
http://www.budge-stiftung.de

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Großbritannien ist eine repräsentative Demokratie – wie die meisten Demokratien dieser Welt. Die Grundidee dabei ist, dass komplexe Entscheidungen getroffen werden von demokratisch legitimierten Repräsentanten, die ihrerseits alle nötigen Informationen einholen und abwägen, um zu entscheiden. In einer direkten Demokratie dagegen, wie etwa in der Schweiz, muss das jeder einzelne für sich tun – genau darin besteht die Trägheit der direkten Demokratie. Der einzelne Entscheider ist derart überfordert, dass er geneigt ist, sich bequem zu verhalten, das heißt: einfach beliebig zu entscheiden statt über den mühseligen Umweg der Einholung von Informationen und ihrer Gewichtung nach bestimmten Prinzipien und Kriterien. Also auch aus dem Bauch heraus. So ist es kein Zufall, dass in der Schweiz das Wahlrecht für Frauen erst 1971 eingeführt wurde – so träge kann direkte Demokratie sein. Nach Jean-Jacques Rousseau ist nur eine direkte Demokratie eine wahre Demokratie. Von Trägheit oder gar Dummheit hat er dazu nichts gesagt. Den Umfragen zufolge hätten wir durch direkte Demokratie auch hier zu Lande einige Dummheiten zu ertragen, darunter ganz bestimmt auch ein Beschneidungsverbot und ähnliche Entmündigungen mehr. Durch Referendum, also in der direkten Demokratie, kommt Mündigkeit nur langsam voran. Dazu Kant: „ … das Publikum, welches zuvor … unter das Joch war, andere hernach selbst zwingt, darunter zu bleiben“. David Cameron hätte das wissen müssen, kommt er doch aus dem „Mutterland der Demokratie“. Oder hat er es gewusst, und seine Verantwortung einfach und bequem auf dem Altar wahrer Demokratie geopfert? Schlimm genug. Genau betrachtet hat David Cameron aber noch eine Sünde begangen: er hat zwei unterschiedliche Prinzipien miteinander vermischt; schlimmer, als Ochs und Esel gemeinsam unter einem Joch zum Pflügen einzuspannen (Dwarim 22:10). Das tut weh! Und das Ergebnis ist ein dilettantisch gepflügtes Feld - mit allen Konsequenzen.

Wer je Talmud gelernt hat, kennt die Tücken der bequemen Versuchung, komplexe Zusammenhänge einfach nach Beliebigkeit zu simplifizieren, statt nach konsistenter Anwendung eines durchgängigen Prinzips analytisch anzugehen – was nicht nur die größere Herausforderung darstellt, sondern eben auch konsistente Ergebnisse zu liefern vermag. Wie Talmud ist auch Demokratie kein Selbstbedienungsladen, wo einfach das ins Körbchen kommt, was gerade bequem wirkt. Im Ergebnis wird das Chaos damit geradezu programmiert: „GIGO“ heißt das in der Sprache der Programmierer (Garbage in – Garbage out).

Nun haben wir mit dem Brexit das Chaos. Das „Vereinigte Königreich“ macht seinem Namen alle Ehre: Während in London der Exit vom Brexit (mit dem „Bregret“) gefordert wird, wird in Edinburgh der Exit von London gefordert, und in Belfast sogar die Abschaffung des britischen Pfunds und die Einführung des Euro. In der nordirischen Provinz orientiert man sich zunehmend nach Brüssel statt nach London.  Und in Brüssel wundern sich alle, dass es keinen Plan für den beschlossenen Brexit gibt. Planlosigkeit allerorten, gepaart mit  Verantwortungslosigkeit. Dazu Rechtspopulisten, die europaweit immer lauter werden und das Referendum zum Brexit als Vorbild nehmen zum Nachkochen  ihrer eigenen nationalistischen Süppchen. Das Chaos hat also erst begonnen! Und diejenigen, die das zu verantworten haben, machen sich bequemerweise einfach davon, allen voran Boris Johnson, Frontmann der Brexit-Bewegung, der nun plötzlich doch nicht Premier in London werden will. Nigel Farage, populistischer Anführer der UKIP (United Kingdom Independence Party – von welchem Mutterland eigentlich sollte sich ausgerechnet England unabhängig machen?), erklärte auch seinen Exit aus der Verantwortung. Niemand ist responsible; niemand Antworten auf die unbequemen Fragen liefern, niemand eben, der antwortet, mithin also Verantwortung trägt.  Alles nicht gerade die „feine englische Art“. Aber bequem. So bequem wie unmündig. Ein Rückschritt nicht nur für England und Europa, nein: ein Rückschritt für das Prinzip Verantwortung. Mehr als bloß Chaos!



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Zum Trost: Moses hat uns ein weit schlimmeres Chaos erspart; eines, welches die Entwicklung zum mündigen verantwortungsbewussten Menschen hin um Jahrhunderte sinnlos zurückgeworfen hätte. Wohl wissend, wie es ausgehen würde, hat Moses den B’nej Israel kein Referendum angeboten. Es käme einem Rückfall in die Zeit vor der Freiheit gleich, in der Verantwortung nicht gefragt war; letztendlich ein Weg zurück in den Götzendienst. Verheerend.

Moses hat keine Prinzipien nach Beliebigkeit vermischt oder gar verraten. Und damit ist uns ein Exit aus dem Exodus erspart worden. Stattdessen konnte die Freiheit, die der Exodus mit sich brachte, zur Grundlage unserer Mündigkeit als jüdisches Volk ausgebaut werden. Durch alle Wechsellagen unserer Geschichte haben wir diese Mündigkeit bewahrt. Wir sind dafür geneidet und gehasst worden. Es war ein langer Weg – und der Weg lohnt sich. Immer. Wir sind, wer wir sind, und wollen nicht zurück. Unsere Vorfahren in der Wüste wollten das vielleicht – Moses sei Dank, dass sie es nicht sind. Uns und schließlich der ganzen Menschheit wäre der Weg in die Mündigkeit verstellt worden.

Der Brexit zeigt also: es ist leicht, alles zu verspielen. Einfach so. Aus Bequemlichkeit. In letzter Instanz: ein Akt der Götzendienerei, und damit alles andere als Torah-treu.



Der Autor

Rabbiner ANDREW ARYEH STEIMAN

geb. 1958 in New York. Grundschule in den USA; Gymnasium in Frankfurt/M. Studium der Volkswirtschaftslehre, Pädagogik und Philosophie in Frankfurt/M. und der Religionspädagogik in Jerusalem. 1982 bis 1996 Religionslehrer und Kantor in der Militär-seelsorge der US-Streitkräfte in Frankfurt/M. und Ramstein/Pfalz. 1997 bis 2003 Religionslehrer an der Jüdischen Oberschule in Berlin und dem Stadtgymnasium in Dortmund. Seit 2003 Altenheimseelsorger und Leiter der Jüdischen Abteilung im Frankfurter Altenheim der Henry und Emma Budge-Stiftung. 

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