Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 233

März 2016

Am kommenden Sonntag, 6. März 2016, wird in Hannover die diesjährige Woche der Brüderlichkeit feierlich eröffnet. Höhepunkt der vom Deutschen Koordinierungsrat ausgerichteten Eröffungsfeier, an der auch Bundespräsident Joachim Gauck als Schirmherr der über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland teilnimmt, wird die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille sein. In diesem Jahr erhält die für Verdienste im christlich-jüdischen Dialog verliehene Auszeichnung der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik.

Brumlik gehört seit Jahrzehnten zu den maßgeblichen jüdischen Intellektuellen in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Querdenker und Inspirator, Wissenschaftler und Journalist, ein Philosoph und politischer Kopf, der nicht nur für das innerjüdische Geistesleben in Deutschland, sondern vor allem auch für den Dialog und die Begegnung zwischen Juden und Christen in diesem Land eine prägende Gestalt war und ist.

Davon zeugen auch eine Vielzahl stets inspirierender, kompetenter und mitunter streibarer Publikationen, die er in den letzten Jahrzehnten vorgelegt hat. Seine jüngste Publikation erschien im Dezember 2015 im Berliner Neofelis Verlag, ein umfangreicher Essay, der nicht mehr und nicht weniger als ein "Versuch über die Gegenwart des Judentums" sein möchte, wie es im Untertitel des Buches heißt, dessen Haupttitel  - "Wann, wenn nicht jetzt" - ein Zitat aus den "Sprüchen der Väter" (Pirke Avoth), einem Traktat der Mischna, entnommen ist.

COMPASS freut sich, Ihnen heute einen längeren Auszug aus dem ersten Kapitel von Brumliks Buch präsentieren zu können, das überschrieben ist mit: "Israel und die Diaspora: Die aktuelle Krise". Ergänzend zu diesem Buchauszug folgt zudem eine Rezension des Bandes, die von dem evangelischen Theologen Hans Maaß verfasst wurde. Möge beides die Leserinnen und Leser dazu anregen, sich mit dem Werk von Micha Brumlik eingehender zu befassen!

COMPASS dankt Autor und Verlag für Genehmigung zur Wiedergabe des Textauszugs an dieser Stelle! Mit eingeschlossen in den Dank sei ebenso der Autor der Rezension, Dr. Hans Maaß. 

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Online-Extra Nr. 233


Wann, wenn nicht jetzt.
Versuch über die Gegenwart des Judentums


MICHA BRUMLIK

 
Israel und die Diaspora: Die aktuelle Krise

Die Wiederwahl Benjamin Netanyahus 2015 fiel mit dem vierten Jahrestag des Beginns des syrischen Bürgerkriegs zusammen. Während die Gründung des Staates Israel in mehr als 60 Jahren 700.000 palästinensische Araber zu Flüchtlingen machte und in sechs Kriegen mit dem Tod einiger Tausend Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten einherging, kostete der syrische Bürgerkrieg nach Angaben der UN aus dem Jahr 2015 in vier Jahren 250.000 Menschen das Leben und führte bisher zum Flüchtlingselend von zwölf Millionen Menschen.

Die nackten Zahlen belegen, dass es sich bei diesen Konflikten um unvergleichliche Größen in humanitärer Hinsicht handelt. Dass freilich der Palästinakonflikt die politische Einbildungskraft nicht nur in Deutschland so viel stärker beschäftigt als alle sonstigen Konflikte auf der Welt, liegt keineswegs daran, dass er der Schlüssel zur Lösung aller Probleme der Region wäre. Es liegt vielmehr daran, dass Israel ein von Juden gegründeter Staat ist und als eine Reaktion auf die von Deutschen und anderen Europäern vollzogene Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden gilt.

Während der syrische Bürgerkrieg eine aktuelle, wenn auch verdrängte Katastrophe darstellt, erweist sich der Israel/ Palästina-Konflikt als ein mentales, normatives Problem insbesondere für westliche Staaten, vor allem aber für Deutschland. Während es in Syrien um Hilfe und Unterstützung von Flüchtlingen und Verletzten, um das Vermeiden weiteren Tötens gehen müsste, geht es bei Palästina/Israel (nur) um vernünftige, im besten Sinne moralische Haltungen. Das hat niemand anders als Kanzlerin Merkel zum Ausdruck gebracht, als sie im Jahre 2008 vor der Knesset die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärte.

Was ist dieses Bekenntnis nach Netanyahus glaubwürdiger Absage an eine ‚Zwei-Staaten Lösung‘ – nach der Wahl nur halbherzig relativiert – noch wert? Stellt es noch immer ein Bekenntnis zu Israel als ‚jüdischem Staat‘ dar? Als ein ‚jüdischer‘ Staat, der offenbar noch nicht ‚jüdisch‘ genug ist – warum sonst wäre die vorherige Regierung Netanyahu am Plan einer ‚Jewish Nation Bill‘, also einem Gesetz, das Israel zum „Jüdischen Staat“ erklären sollte, gescheitert? Die Ironie der Geschichte will es, dass ausgerechnet Netanyahu und seine Likudpartei mitsamt ihren rechtsextremen bzw. klerikalen Satelliten gezeigt haben, dass Israel de facto ein binationaler, ein jüdisch/arabischer Staat ist. Sofern es – was durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hatte – in Jerusalem 2015 zu einer großen Koalition gekommen wäre, hätte die ‚Vereinigte Liste‘, ein Zusammenschluss arabischer Parteien mit 14 Sitzen, die Führung der Opposition übernommen. Dieser Fall ist freilich nicht eingetreten.

Nach seinem unerwartet deutlichen Wahlsieg im März 2015 vollzog Benjamin Netanyahu zwei symbolische Handlungen, die für die Zukunft des Judentums in und außerhalb Israels wenig Gutes verheißen. Er besuchte die Klagemauer in Jerusalem und ließ sich dabei filmen, wie er einen Zettel in die Außenmauer des herodianischen Tempels – dem letzten Rest des Prachtbaus eines hellenistischen Tyrannen – steckte. Fromme Juden schreiben auf diese Zettel persönliche, Familie und Gesundheit betreffende Bitten, manche auch politische Wünsche. Der orthodoxe Philosoph und Chemiker Yeshayahu Leibowitz (1903–1994, Träger des renommierten Israel Preises) forderte angesichts dieser abergläubischen, götzendienerischen Praxis, das ganze Gemäuer in die Luft zu sprengen. Noch schwerwiegender als Netanyahus Zettel dürfte freilich eine von der hiesigen Presse kaum beachtete mündliche Äußerung des Premiers anlässlich dieses Besuchs sein: „Here in this place“, so Netanyahu, „I am awed by the historical significance of a people renewing itself in its homeland after 4000 years.“1 Indem er seinen Wahlsieg, den er der eindeutigen Ablehnung jeder Zwei-Staaten-Lösung verdankte, mit einer Erneuerung des jüdischen Volkes gleichsetzte, beschwor er nicht nur einen nationalreligiösen Mythos, sondern untermauerte damit seine wiederholt geäußerte Absicht, die besetzten palästinensischen Gebiete nie mehr zurückzugeben. Diese Absicht hatte er schon vor seiner Reise nach Washington – ebenfalls mit einem Besuch an der Klagemauer – bekundet; auch sonst nahm er in vielen Reden Bezug auf die Geschichte des im Herzen des Westjordanlandes gelegenen Hebron und der biblischen Erzväter.

Das aber ist mythische Politik in eben dem Sinne, in dem Serbiens Führer Slobodan Miloševic einst das Amselfeld und in dem deutsche Vertriebenenverbände Ostpreußen und die Marienburg beschworen. Netanyahus Mythos wird übrigens von keiner historischen Forschung gedeckt, sondern erweist sich als purer Fundamentalismus: Als ‚Juden‘ sind Juden keine viertausend Jahre lang bekannt: Ausweislich der biblischen Bücher, vor allem des Schriftpropheten Jeremija (44,1) – er wirkte im 7. Jahrhundert vor der Zeitrechnung sowie des Buches Ester (3,6) – es entstand wahrscheinlich im 3. Jahrhundert – waren ‚Juden‘ die dem Gott Israels verpflichteten exilierten Bewohner der persischen Provinz Yehud. Es war der Prophet Jeremija, der den in die Verbannung Geführten zurief: „Suchet das Wohl der Stadt, in die ich Euch in die Verbannung geführt habe und betet für sie zu Gott, denn in ihrem Wohl wird auch Euer Wohl liegen“ ( Jer 29,7) und der damit als Erster eine Theologie und Theorie der jüdischen Diaspora artikulierte. Sie aber ist heute aktueller denn je. Denn mit seiner Absage an einen palästinensischen Staat und seinen Plänen, Israel per Gesetz zum Staat der jüdischen Nation zu erklären, hat Netanyahu bewusst und gezielt die universalistischen, moralischen Werte des Judentums aufgekündigt. Im Buch Exodus (23,9) schon werden die Kinder Israel ermahnt, Fremde nicht zu bedrängen, waren sie doch selbst Fremde in Ägypten! Weil Netanyahu außerdem im Wahlkampf vor den zur Wahl gehenden ‚Arabermassen‘ gewarnt hatte, bemerkte die israelische Politikerin Shelly Yachimovich, eine Sozialdemokratin, über diese Äußerungen, dass kein westlicher Politiker sich jemals trauen würde, derart rassistisch daherzureden.

Was aber für die westlich liberalen, die aufgeklärten Bürger Israels gilt, gilt allemal für die größte jüdische Diaspora, diejenige in den USA. Zwar ist nicht zu bezweifeln, dass sich mit den Jahren ein stetig wachsender Anteil jüdischer Amerikaner den konservativen Republikanern angenähert hat, gleichwohl stehen Juden in den USA traditionell den Demokraten nahe und werden daher dem Staat Israel in seiner jetzigen politischen Verfassung langsam aber sicher ihre Solidarität entziehen. So schrieb Peter Beinart, Politologe und prominenter Kritiker der israelischen Regierung nach der Wahl in Haaretz über ihre Bedeutung:


It means loving Israel more than ever, and opposing its government more than ever. It means accepting that, for now at least, the peace process is over and the pressure process must begin.2

Entzug der Solidarität? Mit einer Ausnahme – den möglichen (genozidalen) iranischen Nuklearwaffen. Juden haben nach Adolf Hitlers frühen Ankündigungen leidvoll erfahren müssen, dass Vernichtungsdrohungen nicht nur leeres Geschwätz, sondern ernsthafte Vorhaben darstellen können. Daher steht die jüdische Diaspora auch dort, wo sie sich in großem Selbstbewusstsein mit wachsendem Antisemitismus in ihren jeweiligen Ländern auseinandersetzt, in einer paradoxen Situation: So sehr viele, keineswegs alle Juden der Diaspora Netanyahus nationalistische, verbalrassistische Politik ablehnen, so sehr sind sie doch nach den Erfahrungen des Holocaust mit Blick auf Leben und Überleben der israelischen Juden und damit der nichtjüdischen Bewohner Israels und Palästinas mit dem israelischen Staat solidarisch. Gleichwohl ist für die nahe Zukunft mit einer wachsenden Entfremdung zwischen dem jüdischen Israel und der jüdischen Diaspora sowie mit zunehmenden Konflikten innerhalb der jüdischen Diaspora zu rechnen: keineswegs nur in den USA, sondern auch in Europa, zumal in Deutschland.





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MICHA BRUMLIK:
Wann, wenn nicht jetzt.
Versuch über die Gegenwart des Judentums


Neofelis Verlag
Berlin 2015

132 S. * € 10,00
ISBN: 978-3-95808-032-4


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„Wann, wenn nicht jetzt…“ Die Frage aus den talmudischen Sprüchen der Väter weist daraufhin, dass eine Selbstbesinnung der Juden, ihrer Geschichte und ihres gemeinsamen Schicksals zu keiner Zeit Aufschub erlaubte. 

Die Wahlen zum israelischen Parlament, zur Knesset, im Frühjahr des Jahres 2015 haben mit dem Sieg Benjamin Netanyahus, seinen rassistischen, antiarabischen Ausfällen sowie seiner glasklaren Stellungnahme gegen jede Zweistaatenlösung einen Einschnitt markiert, der auch Jüdinnen und Juden in der Diaspora nicht gleichgültig sein kann. Dem entspricht eine steigende antisemitische Stimmung in vielen europäischen Ländern, die in den Protesten gegen den Gazakrieg des Sommers 2014 zumal in Deutschland deutlichen Ausdruck fand.

Vor diesem Hintergrund ist eine Selbstbesinnung des Judentums in der Diaspora, auch und gerade in Deutschland, ebenso ein Gebot der Stunde wie eine Reflexion über die Zukunft Israels als jüdischem Staat.

Der Essay Micha Brumliks verbindet ein Plädoyer für jüdisches Leben in der Diaspora mit einer geschichtsphilosophischen Skepsis über die Zukunft des Staates Israel als eines jüdischen Staates und erwägt erneut und zeitgemäß modifiziert die schon von Martin Buber vorgeschlagene Idee eines binationalen Staates Israel/Palästina durchaus im Bewusstsein der blutigen Krise der arabischen Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Judentum aber, sei es in Israel, sei es in der Diaspora, ist ohne den Reichtum der jüdischen Tradition gerade in ihren religiösen Aspekten nicht zu haben. Das Judentum des 21. Jahrhunderts wird – in welcher Form auch immer – ein religiöses Judentum sein oder es wird nicht sein.



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Was sind überhaupt Juden, was ist das Judentum? Dazu werden heute mehrere Vorschläge diskutiert: das Judentum als Religion, als Konfession, als Glaubens- sowie als ‚Schicksalsgemeinschaft‘. Die religiöse Definition leidet daran, dass keineswegs der größte Teil der weltweit etwa zwölf Millionen Juden intensiv gläubig ist, Tora lernt, regelmäßig Gottesdienste besucht und sich strikt an Festtage und häusliche Rituale hält; zweitens das Judentum als ethnische Nation im Sinne des Volksbegriffs des späten 18. Jahrhunderts, als Sprach- und Herkunftsgemeinschaft; drittens als eine ‚Kultur‘, die – wie erst kürzlich die israelischen Autoren Amos Oz und Fania Oz-Salzberger in ihrem Buch Juden und Worte nachweisen wollten – eine einzigartige, Jahrtausende alte Literal-, eine Buch- und Schrifttradition aufweist.[3] Viertens wird das Judentum als ‚Schicksalsgemeinschaft‘ verstanden: als eine Großgruppe von Menschen, die ohne scharfe Trennlinien durch teils geteilte Traditionen, Anfeindungen der Umwelt sowie ein vages Gemeinschaftsbewusstsein zusammengehalten wird.

Die israelische Krise, die von Benjamin Netanyahu und seinen Koalitionspartnern ausgelöst wurde, resultiert primär aus Diskussionen um das oben erwähnte, immer noch nicht verabschiedete Gesetz, nach dem der Staat Israel zum ‚Staat des jüdischen Volkes‘ erklärt werden würde. Ziel dieses Gesetzes sollte es u. a. sein, Israels arabischen Nachbarn, vor allem den Palästinensern, zu verdeutlichen, dass eine friedensstiftende Anerkennung Israels nur dann vorliege, wenn der Staat Israel als ‚jüdischer Staat‘ und nicht lediglich als faktischer, im Rahmen des internationalen Rechts bestehender Staat und im Rahmen noch zu verhandelnder Grenzen existierender Staat anerkannt wird. Radikalere Varianten des damaligen Gesetzesentwurfs, von Netanyahus noch weiter rechts stehenden Koalitionspartnern eingebracht, zielten zudem darauf, Arabisch als bisher zweite Amtssprache aufzuheben und damit die nichtjüdischen Bürger zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren.

Die Vertreter der von Netanyahu Ende 2014 entlassenen, im weitesten Sinne liberalen Koalitionspartner, der ehemalige Finanzminister Yair Lapid und die ehemalige Justizministerin Tsipi Livni, argumentierten dagegen, dass das, was dieses Gesetz im besten Fall zum Ausdruck bringen kann, ohnehin schon in der als Verfassung geltenden israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 steht. Dort heißt es:


Der Staat Israel […] wird auf den Grundlagen der Freiheit, Gleichheit und des Friedens, im Lichte der Weissagungen der Propheten Israels gegründet sein; er wird volle soziale und politische Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse und des Geschlechts gewähren; er wird die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, der Sprache, der Erziehung und Kultur garantieren; er wird die Heiligen Stätten aller Religionen sicherstellen und den Grundsätzen der Verfassung der Vereinten Nationen treu sein.[4]

Tatsächlich: Der Staat Israel verstand sich dem Geist dieser Unabhängigkeitserklärung nach als jüdischer und demokratischer Staat; jüdisch vor allem deshalb, weil das 1950 verabschiedete ‚Rückkehrgesetz‘ jeden Juden auf der Welt berechtigt, dorthin einzuwandern – im Unterschied zu den im Krieg von 1948 von israelischen Milizen und Armeen vertriebenen etwa 700.000 Palästinensern, denen ein Rückkehrrecht versagt wird.

Ein erster Entwurf zu dem geplanten Gesetz wurde bereits im August des Jahres 2011 von Avi Dichter, einem Mitglied der Partei „Kadima“ vorgelegt. Mehr als drei Jahre später, im November des Jahres 2014, publizierte Netanyahus Büro die von ihm bevorzugte Version des Gesetzes:


The State of Israel is the national state of the Jewish People. It has equal individual rights for every citizen and we insist on this. But only the Jewish People have national rights: A flag, an anthem, the right of every Jew to immigrate to the country and other national symbols. These are granted only to our people in its one and only state.[5]

Dem entspricht schon ein Teil der gegenwärtigen Rechtslage. Tatsächlich gab und gibt es zwar eine israelische Staatsangehörigkeit, aber keine israelische Nationalität und damit auch keinen israelischen Souverän, kein israelisches Staatsvolk. So wies das höchste israelische Gericht im August des Jahres 2013 einen Antrag von 21 israelischen Staatsbürgern, in ihren Personalpapieren unter der Rubrik ‚Nationalität‘ anstatt ‚jüdisch‘ ‚israelisch‘ eintragen zu lassen, mit dem Hinweis auf seine Unzuständigkeit ab. Seither gilt, dass Bürger israelischer Staatsangehörigkeit entweder eine ‚jüdische‘, eine ‚arabische‘ oder ‚drusische‘ Nationalität und damit unterschiedliche kollektive Rechte haben.

Das Ende 2014 geplante Gesetz – auch in der relativ weichen Fassung Netanyahus – könnte endgültig festschreiben, was der an der Ben-Gurion-Universität lehrende Geograf Oren Yiftachel schon seit Jahren behauptet: dass nämlich der Staat Israel keine Demokratie, sondern eine „Ethnokratie“ sei. In Ethnokratien verbirgt sich – so Yiftachel – hinter einer demokratischen Fassade die systematische Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe; weitere Beispiele neben Israel sind Estland, Lettland, Serbien, Kroatien, Malaysia und Sri Lanka, zu denken wäre heute auch an das sogar vom US-amerikanischen, republikanischen Senator John Cain als „neofaschistisch“ bezeichnete Ungarn. Dass nämlich Israel eine „Ethnokratie“ ist, konnte der an der Universität Beer Sheva Geographie lehrende Oren Yiftachel in seinem bereits 2006 erschienenen Buch “Ethnocracy”. Land and Identity Politics in Israel/Palestine nachweisen.[6]

Sind Ethnokratien somit rassistisch? Gewiss nicht, wenn man unter ‚Rassismus‘ den exterminatorischen Biologismus der Nationalsozialisten versteht, wohl aber, wenn man die am 7. März 1966 von den Vereinten Nationen verabschiedete Resolution gegen ‚racial discrimination‘ zugrunde legt. In dieser Konvention bedeutet der Ausdruck „rassische Diskriminierung“ jede sich auf Rasse, Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft gründende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, die Anerkennung, den Genuß oder die Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in gleichberechtigter Weise im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens zu vereiteln oder zu beeinträchtigen.

Der Staat Israel hat diese Konvention 1966 unterschrieben und dreizehn Jahre später, im Januar 1979, in der Knesset ratifiziert. Abgesehen davon, dass der Staat Israel mit der möglichen Verabschiedung des neuen Gesetzes seine Unterschrift unter der UN-Konvention zurückziehen müsste, werden aber auch die Beziehungen des selbst ernannten jüdischen Staates zur weltweiten jüdischen Diaspora massiv belastet. Tatsächlich soll das geplante, die nichtjüdischen Bürger Israels weiter diskriminierende Gesetzgebung im Namen aller Jüdinnen und Juden auf der Welt verabschiedet werden: ohne dass diese jedoch die Möglichkeit haben, an dieser Gesetzgebung auch nur im Geringsten geregelt mitzuwirken.

Indes: Noch während des Wahlkampfs 2014 protestierten maßgebliche Persönlichkeiten der israelischen Politik, einschließlich des Staatspräsidenten Reuven Rivlin, gegen die geplante Gesetzgebung; schon heute wenden sich wesentliche Verbände des US-amerikanischen Judentums gegen den Vorschlag. Abzusehen ist daher, dass jene Juden der Diaspora, die die prophetischen, die universalistischen Werte des Judentums über nackten Partikularismus und blinden Selbstbehauptungswillen stellen, sich von Israel und dem Zionismus abwenden werden. Die damit aufziehende Krise, die künftige Spaltung des Judentums zeigt sich vor allem in den USA. Dabei geht es ausnahmsweise nicht um die ‚außenpolitische‘ Frage des israelischen Verhältnisses zu den Palästinensern, sondern um die Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora. So bahnt sich in der Frage des geplanten Gesetzes eine Allianz zwischen den ansonsten verfeindeten ultraorthodoxen Antizionisten und der größten US-amerikanischen Denomination, dem Reformjudentum an. So hat die renommierte Holocaust- Forscherin Deborah Lipstadt, eine streitbare Unterstützerin Israels, vor einiger Zeit, im Dezember 2014, im Wall Street Journal davor gewarnt, dass das geplante Gesetz es Israels Feinden ermöglichen werde, respektabel aufzutreten. Lipstadt beansprucht, mit ihrem Protest gegen das geplante Gesetz nur das Beste für den Staat zu wollen. Aber auch der Vorsitzende der bisher die Regierung Netanyahu bedingungslos unterstützenden Anti Diffamation League, Abraham Foxman, distanzierte sich. Vor allem aber protestierten rabbinische Vereinigungen sowie jüdisch-theologische Hochschulen. So haben am 30. November 2014 die Vorsitzenden der Vereinigungen des US-amerikanischen konservativen Judentums, das nicht mit dem Reformjudentum identisch ist, in einer Resolution offiziell dazu aufgerufen, von einem Gesetz Abstand zu nehmen, das Israels sozialen Zusammenhalt sowie seine kostbarsten ethischen Werte schwächen werde.



ANMERKUNGEN



1   Zit. n. Herb Keinon: Netanyahu at Western Wall: I’m Honored by Election Win, Will Do Everything to Protect Israel. In: Jerusalem Post, 18.03.2015. http:// www.jpost.com/Israel-Elections/Netanyahu-at-Kotel-I-am-honoredby- election-win-and-will-do-everything-to-protect-Israel-394322 (Zugriff am 05.10.2015).
2   Peter Beinart: With Netanyahu’s Reelection, the Peace Process Is Overand the Pressure Process Must Begin. In: Haaretz, 19.03.2015. http://www. haaretz.com/opinion/.premium-1.647682 (Zugriff am 30.09.2015).
3   Amos Oz / Fania Oz-Salzberger: Juden und Worte. Berlin: Suhrkamp 2013.
4   Zit. n. Friedrich Schreiber / Michael Wolffsohn. Nahost. Geschichte und Struktur des Konflikts. Opladen: Leske + Budrich 1987, S. 128.
5   Zit. n. Tamar Pileggi: Ministers Debate Softened Version of ‘Jewish State Bill’. In: The Times of Israel, 12.07.2015. http://www.timesofisrael.com/ knesset-committee-to-debate-new-version-of-jewish-state-law/ (Zugriff am 30.09.2015).
6   Oren Yiftachel: “ Ethnocracy”. Land and Identity Politics in Israel/Palestine. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2006.



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"Wann, wenn nicht jetzt"
Eine Rezension


HANS MAASS

Unabhängig von gegenwärtigen Konstellationen im Nahostkonflikt, der im Vorwort kurz angesprochen wird, geht es Micha Brumlik um eine grundsätzliche Besinnung auf das, was heutiges Judentum weltweit ausmacht – vor allem auch in seinem Verhältnis zum Staat Israel.

Folgerichtig lautet das 1. Kapitel: „Israel und die Diaspora“. Brumlik weist darauf hin, dass Israel, vor allem wenn die Regierung Netanyahus eine Zwei-Staaten-Lösung nicht wirklich anstrebe, ein binationaler Staat und kein jüdischer sei. Brumlik spricht im Zusammenhang mit national-religiösen Zielsetzungen von „mythischer“ Politik und wirft Netanyahu vor, mit sein Plänen, „Israel per Gesetz Israel zum Staat der jüdischen Nation zu erklären", der „universalistischen, moralischen Werte des Judentums aufgekündigt“ habe.

Auf diesem Hintergrund diskutiert er anhand prominenter jüdischer Stimmen die Frage: „Was sind überhaupt Juden, was ist das Judentum?“ Nachdem er zunächst Im Unterabschnitt „Jüdische Identität in der Diaspora“ diese von der jüdischen Identität in Israel unterscheidet, kommt er am Beispiel der USA u.a. auf die hohe Zahl nichtreligiöser Juden und interkonfessioneller Ehen zu sprechen. Nachfolgend erklärt er im Anschluss an eine Analyse Peter Beinarts, warum der Nahost-Friedensprozess ins Stocken geriet. Als Folgerung zitiert er aus einer Veröffentlichung von Beinart: „Die progressiven engagierten Juden in den Vereinigten Staaten dürfen Israel nicht seinem Niedergang überlassen und sich damit begnügen, ihre religiösen und ethischen Ideale zu verwirklichen.“ Wenn Brumlik Beinart zitiert, die Juden seien „als Volk entstanden, um eine bestimmte Mission in der Welt zu erfüllen“, fühlt man sich unwillkürlich an Martin Bubers Zionismusverständnis erinnert.

Er verweist dabei auch auf den weithin vergessenen jüdischen Anteil an den 1968er Pariser Unruhen und an den in Deutschland weithin nicht beachteten französischen Philosophen Daniel Bensaïd. Dabei wird auch Brumliks eigene Haltung erkennbar. Entgegen einem bei uns oft gepflegten monolithischen Verständnis des Judentums, definiert er als Ergebnis der Debatten über das Verhältnis zum Staat Israel, das Judentum sei „eine in eine Vielzahl von Denominationen aufgespaltene Religion […] eine wie auch immer zerstreut lebende Ethnie, ein Volk, das im jüdischen Staat tatsächlich zur Nation geworden ist, sowie Judentum als Kultur“. So kommt er zu der Folgerung, „dass das Judentum auch heute eine widersprüchliche Einheit darstellt.“

Den Begriff einer jüdischen „Diaspora“ greift er auf, indem er ihn im Rahmen einer neueren Theorieentwicklung als „Schlüssel zum Verständnis der modernen Weltgesellschaft“ versteht, weil er den „modernen Nomaden“ kennzeichnet – ein wichtiger Gedanke angesichts gegenläufiger Abschottungstendenzen in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte, die von Gruppierungen geführt wird, die dem Ideal einer religiös-weltanschaulichen Einheitsgesellschaft anhängen. Dabei versäumt er nicht den Hinweis, dass Diasporen immer „gemeindlich organisiert sind“, da Einzelpersonen keine Diaspora bilden. Dies gilt auch für die jüdische Diaspora, einem Begriff, der schon immer hauptsächlich außerhalb Israels für diese Gemeinschaft verwendet wurde, so u.a. bereits Philo von Alexandrien in seiner „Legatio ad Gajum“. Dies macht man sich meist nicht bewusst. Eine Aufstellung über die geografische Verteilung der Juden zu Beginn des 21. Jh. belegt diese These deutlich; entsprechend setzt sich mehr und mehr generell eine „transnationale Geschichtsschreibung“ durch.

Im Kapitel „Land Israel und Zionismus“ geht Brumlik zunächst auf die Landtheologie in rabbinischer Zeit ein und macht diese auch an einer Reihe von Zitaten aus dem Talmud deutlich, wobei besonders auffällig ist, dass im Land Israel zu wohnen selbst dann anzustreben war, wenn die Mehrheit einer Stadt aus Nichtjuden bestand. Allerdings gab es auch Stimmen, die die Übersiedelung von Babylonien ins Stammland als Übertretung eines (prophetischen) Gebotes verstanden. Brumlik sieht in beiden Positionen eine „Theologie der Selbstbehauptung“, um in beiden Lebensräumen eine lebensfähige Gemeinschaft zu erhalten. Beachtenswert ist sein Hinweis, dass die Theologie der Heiligkeit des Landes zur Zeit des christlich gewordenen Römischen Reiches entstanden ist, so dass die Wiederherstellung eines jüdischen Staates der messianischen Zeit zugewiesen wurde. Ob hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht, müsste gesondert geprüft werden.

Im Kapitel „Zionismus und Messianismus“ geht Brumlik zunächst auf Rabbiner Rav Kook ein, dem er einen „romantischen Volksbegriff“ unterstellt, der zur Idee eines „ethnisch begriffenen Nationalstaats“ führe. Ob damit aber zwangsläufig eine undemokratische fundamentalistische Struktur unter Leitung selbstermächtigter Kleriker einhergehen muss? Dass diese Gruppen die Shoa als Strafe Gottes für den angeblichen „Abfall vom Glauben“ ansehen ist leider ebenso zutreffend wie zynisch. Diese Strömung beschreibt Brumlik an drei Repräsentanten, R. Levinger in Hebron, Baruch Goldstein, der das Massaker in Hebron anrichtete, und der Rabin-Mörder Yigal Amir. Sind diese jedoch tatsächlich Repräsentanten der „inzwischen mehr als 250.000 Siedler im Westjordanland“? Die Ideologie der Siedler charakterisiert Brumlik zutreffend, wobei seine eigene wissenschaftliche Fachkompetenz deutlich erkennbar wird. Lesenswert ist auch seine kurze Charakterisierung unterschiedlicher jüdischer Einstellungen zum Zionismus.

In diesem Zusammenhang geht er sehr ausführlich auf Rav Kook ein und belegt seine Vorstellungen nicht nur anhand interessanter Zitate, sondern ordnet ihn auch in die jüdische Geistesgeschichte ein und sieht eine „Entpersonalisierung und damit Prozessualisierung des Messiasgedankens“ am Werk. So wird dieses Kapitel zu einer beachtlichen Analyse der Vorstellung des legendären Rav Kook, so widersprüchlich und unhaltbar er dessen Argumentation auch findet. Ausführlich geht er dabei auch auf den Widerspruch zwischen Landeroberung durch Geld oder Gewalt ein und kommt dabei immer wieder auf Überlegungen in Traktat Ketubot 111a über das Leben im Israelland zurück. Die verfassungsrechtlichen Fragen erörtert er im Rahmen der tatsächlichen parteipolitischen Konstellationen nach 1949.

An einem weniger bekannten Zitat aus der Gusch-Emunim-Bewegung zeigt Brumlik die allmähliche Entwicklung der Siedler-Ideologie, vergisst dabei aber nicht, auch auf rechtsextreme Gruppen hinzuweisen, die den Tempel an historischer Stätte anstelle der Moscheen auf dem Tempelberg aufbauen wollen. Er schließt das Kapitel mit einem Versuch, die künftige Entwicklung der widerstrebenden Kräfte zu skizzieren. Wladimir Jabotinsky, dem der Aufbau einer „Jüdischen Legion“ am Herzen lag, bescheinigt er einen „aufrichtigen Realismus“. Tragisch war, dass dieser zionistische Vorkämpfer bei einer Reise in die USA einem Herzinfarkt erlag und Ben Gurion sich gegen eine Überführung nach dem damaligen Palästina widersetzte, weil das Land lebendige, keine toten Juden brauche, so dass erst 1964 eine Umbettung auf den Herzlberg möglich wurde.

Die Haltung der deutschen Intellektuellen nach der Schoah reflektiert er auch unter Bezugnahme auf den Philosophen Omri Boehm. Am Beispiel des Begriffs „Israelkritik“ zeigt er, „dass der Staat Israel im politischen Bewusstsein vieler Deutscher […] anderes ist als irgendein Staat mit all seinen Licht- und Schattenseiten“. Er benennt das Dilemma deutscher Politiker und Intellektueller gegenüber einem Staat der Schoah-Überlebenden, der seit Jahrzehnten Gebiete besetzt und besiedelt, die nach internationalem Recht nicht zu seinem Staatsgebiet gehören. Dabei verweist er auf die dem Judentum seit biblischen Zeiten inhärente „dialektische Spannung zweier Pole: einem Impetus ethnischer Selbstbehauptung […] stand immer der universalistische Schrei nach allseitiger Gerechtigkeit entgegen“. In dieses Spannungsfeld zeichnet er die gegenwärtigen weltweiten politischen Ein¬stellungen zu Israel, auch die innerisraelischen Diskussionen ein. Vor allem aber geht er ausführlich auf die philosophische Auseinandersetzung Omri Boehms mit Jürgen Habermas angesichts Kants Aufklärungsbegriff ein. Nur erwähnt wird die "unschärfste Gestalt des gegenwärtigen Judentums“, die mit dem Begriff „Kultur“ zu bezeichnen ist, und resümiert, welche der drei Formen „des gegenwärtigen Judentums, die religiöse, die ethnizistische und die kulturelle“ das „eigentliche“ Judentum repräsentiere, lasse sich nicht „rein wissenschaftlich“ klären. Er weist deshalb darauf hin, dass Jüdinnen und Juden, die sich universitären jüdischen Studien widmen, „zugleich Subjekt und Objekt ihrer Wissenschaft sind“.

In einem Kapitel über „Resignation und Einsicht“ fordert Brumlik, „sich vom besinnungslos daher geplapperten Mantra der ›Zweistaatenlösung‹ zu verabschieden […] und den Mut zu einem radikalen Neuanfang zu fassen.“ Was aber ist sein „Plan B“? Ist es eine Lösung, „das Westjordanland zu annektieren, aber dabei den Palästinensern volle Rechte einräumen zu wollen“? Oder hat sich Israel irreversibel von einer Demokratie in eine Ethnogratie verwandelt? Er beruft sich dafür auf Gershom Gorenberg, der eine „Neugründung Israels“ mit Rückzug aus den besetzten Gebieten, sogar „gewaltsame Maßnahmen gegen renitente Siedler“ fordert. Allerdings bleibe Gorenberg „jeden Hinweis schuldig, auf Basis welcher gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten eine israelische Regierung die Siedlungen rückbauen und die Siedler rückführen könnte.“ Stattdessen verweist Brumlik auf Michael Wolffsohns Konzeption einer Föderalisierung. Bevölkerungspolitisch weist dieser Ähnlichkeiten mit dem UN-Teilungsplan von 1947 auf. Brumlik weist sogar auf Modelle vor dem Ersten Weltkrieg oder Pläne für Pakistan nach dem Zweiten Weltkrieg hin.

Bei seiner Unterscheidung eines „ethnisch, nicht demokratisch verstandenen“ Selbstbestimmungsrechts der Völker könnte auch auf den Balkan verwiesen werden. Brumlik sieht Wolffsohns Vorschlag zwei Schwierigkeiten gegenüber: Verteilung der Güter in einem kleinteilig zersplitterten Territorium und Bildungshoheit der palästinensischen Bevölkerung, zumal man israelischen Arabern nicht zwangsweise die israelisch Staatsbürgerschaft ab- und die palästinensische zuerkennen kann. Müsste man sich allerdings nicht noch viel mehr fragen, wer das friedliche Zusammenleben der beiden Volksgruppen garantieren soll? Brumlik kommt daher nochmals auf Martin Bubers Vorschläge von 1947 zurück, die er in einem ausführlichen Zitat dokumentiert, aber von denen er auch weiß: „Mehr als 60 Jahre später, mehr als fünf oder sechs Kriege später, mehr als 40 Jahre der Besatzung und einer religiösen Fundamentalisierung auf beiden Seiten später lässt sich an dieses Modell nicht mehr bruchlos anschließen.“ Man muss sich sogar fragen, ob nicht bereits 1947 die Zeit dafür vorüber war und wer daran die Schuld trug, die britische Politik gegenüber den Arabern oder eine nationalstaatliche Entwicklung des Zionismus. Brumlik fragt nach einer „zeitgemäßen Reformulierung“ des Buberschen Ansatzes. Dass auch Hannah Arendt Ähnliches vorschwebte, macht diesen idealen Gedanken nicht weniger realitätsfern. Andererseits hatte auch der UN-Teilungsplan die arabische Reaktion völlig falsch eingeschätzt. So überschreibt Brumlik sein nächstes Unterkapitel folgerichtig mit „Eine konstitutionelle Utopie“. Er will damit keine konkreten Schritte vorzeichnen, sondern im Anschluss an eine Formulierung Joschka Fischers eine „Finalität“ beschreiben. Seine Vorschläge klingen plausibel, setzen aber auf beiden Seiten den Willen zur Erreichung dieses Zieles voraus. Und: Ist sie vielleicht zu europäisch logisch gedacht?

Das letzte Kapitel über die „Diaspora Deutschland“ ist sehr persönlich gehalten, auch wenn er darin Netanyahus Aufruf an die europäischen Juden zur Einwanderung nach Israel in dessen innerer Logik „zerpflückt“ und eine Analogie zu der Verklärung der Massada-Kämpfer bei Flavius Josephus unter dem Stichwort „Kitsch und Tod“ zieht. In einem Überblick seines eigenen politischen Werdegangs bekennt er sich als „Verfassungspatriot“ und definiert „deutsch“ als Staatsangehörigkeit unabhängig von Sprache und Abstammung auf der Grundlage der ersten drei Grundsätze des Grundgesetzes – obwohl er weiß, dass viele Bürger, sogar „Mitglieder der politischen Klasse dieses Landes, immer wieder versuchen, diesen Prinzipien nicht zu entsprechen". In diesem Zusammenhang unterzieht er auch den Begriff „Mitbürger“ einer kritischen Überprüfung, weil dieses „Mit-“ ausdrücke, dass die Betreffenden „irgendwie doch nicht ganz dazu“ gehören. Schon allein um dieses feuilletonistisch gehaltenen Schlusskapitels willen sollte man sich dieses ansonsten anspruchsvolle Büchlein gönnen.


Micha Brumlik:
Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums.

Neofelis Verlag
Berlin 2015
brosch., 131 S., Euro 10,-


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Der Autor

MICHA BRUMLIK

Micha Brumlik wurde 1947 in Davos, Schweiz, geboren. Sechs Jahre später zogen er und seine Familie nach Frankfurt/M. Nach seinem Abitur ging Micha Brumlik für zwei Jahre nach Israel, wo er in einem Kibbuz arbeitete und Philosophie studierte. Sein Studium der Philosophie, der Pädagogik und der Soziologie schloss Brumlik in Frankfurt am Main 1973 mit einem Diplom in Sozialpädagogik ab. Brumlik nahm seine Lehrtätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Göttingen auf, weitere Stationen waren die Universitäten Mainz, Hamburg und Heidelberg. 2000 übernahm Brumlik eine Professur am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt. Die Professur hatte er bis zu seiner Emeritierung 2013 inne.

Neben seiner Lehrtätigkeit war Brumlik von 1989 bis 2001 Stadtverordneter der Grünen in Frankfurt am Main. Brumlik trat allerdings bereits 1991 aus der Partei die Grünen aus, da die Partei Waffenlieferungen an Israel nicht unterstützte. Darüber hinaus war Micha Brumlik von 1991 bis 2006 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und von 2000 bis 2005 Leiter des Fritz- Bauer-Institutes. 2008 übte Brumlik Kritik an der Neuformulierung der Karfreitags - fürbitte für die Juden innerhalb der Tridentinischen Messe und sagte daher seine Teilnahme am Kirchentag ab. Seit WS 2013 hat Brumlik als „Senior Advisor“ eine Seniorprofessur am Zentrum für Jüdische Studien Berlin/Brandenburg inne. Außerdem schreibt er regelmäßig die Kolumne „Gott und die Welt“ in der TAZ.

Für seine Verdienste im christlich-jüdischen Dialog erhielt er im März 2016 die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deutschen Koordinierungsrates (DKR), dem Dachverband der als 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland.

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